Die Langsamkeit kommt aus der Enge: Sommerentschlossen gegen den Herbst. Das Arbeitsjournal des Montags, dem 3. September 2012.

4.50 Uhr:
[Arbeitswohnung. Gesualdo: Ahi, desperata vita (Les Arts Florissant).]
Latte macchiato, erste Morgenpfeife. Als ich gestern frühnachts noch zur schönen Vietnamesin etwas essen spazierte, die Treppen hinab, übern ersten Hinterhof, durch das schmale untere Treppenhaus des Vorderhauses, die Tür öffnen, hinaus, rechts saßen vorm Beakers noch sommerentschlossen die Leute, da hatte ich mich bereits gewappnet für den ersten Herbst des Jahres und einen meiner >>>> kaschmirnen Rollkragenpullover über das Oberhemd und unter das Jackett angezogen. Das war so angemessen wie der Tanger-Shawl, der alleine chilihalber dann doch zu viel der Erwärmung wurde, so daß ich ihn – vergaß. Auf dem Nebenstuhl.
Ich merkte es, als ich wieder heimkam. Also noch einmal hinunter, jetzt aufs Rad, durch die Einfahrt, hinaus, noch immer sommerentschlossen die Leute, da rutscht mir die Kette, mit einem Knirschen, vom Blatt, ich trete durch, rutsche ab: ‚aua!‘, denk ich. Der Shawl liegt noch so, wie ich ihn verlassen, aber der Unterschenkel, rechts gleich etwas über dem Gelenkknöchel, ist aufgeschabt und blutet nicht, aber näßt. Das kommt allein vom kommenden Herbst, der viel zu pünktlich pünktlich ist. Immerhin nicht mit Regen beginnt. Sogar Hamburg, gestern bei der Rückfahrt, lag unter der Sonne. Für diese Stadt ist das sensationell. Jedenfalls war ich sprachlos, als wir, Phyllis Kiehl und ich, da durchfuhren und, besonders, als wir an Dammtor hielten. Erinnerungen, Regine, Muskhochschule Milchstraße, wie man mal behauptet hat, ich hätte in ihrer, Regines, Untermietwohnung die Steckdosen von den Wänden geschraubt, alle, und sie geklaut, weil ich ich auf dem Schwarzen Markt ein Geschäft damit aufmachen wolle. Alleine die I d e e fand ich derart bemerkenswert, daß ich ihr das Recht gab, die Wahrheit zu werden. Wollte aber niemand haben, gebrauchte Steckdosenblenden. Wahrscheinlich ahnte man, welch verdächtige Person ich war.
Regine durfte da nicht mehr weiterwohnen, weil sie mich dennoch immer wieder einlud – bis sie Sonja Prunnbauer nach Freiburg folgte und dort den Konzertpianisten kennenlernte, der wahrscheinlich noch heute ihr Mann ist. Sie hat nicht unrecht gehabt: allwöchentlich mit meinem klapprigen alten VW 1600 von Bremen, wo ich wohnte, nach Freiburg hin- und zurückzufahren, war keine, für mich, gedeihliche Beziehungsgrundlage. Man war ja noch zwei junge Menschen. – Wahrscheinlich komme ich deshalb auf diese Erinnerung, weil es so junge Menschen sind, mit denen ich an diesem Wochenende so schön zu tun gehabt habe, die vielleicht mehr noch als ich vor solche Probleme gestellt werden könnten, weil mittlerweile nahezu dreißig Prozent aller Jugendlichen ihre ersten Geschlechtspartner über das Netz kennenlernen, seit Facebooks Zeiten sind es möglicherweise noch mehr, denn es kennt, das Internet, keine räumlichen Grenzen. Auf die physische Realität ist man nicht mehr, um sich zu verlieben, angewiesen. Auch beschreibt etwas von dem, was ich für die Literatur unter den Begriff >>>> Kybernetische Realismus befasse. Denn realistisch, eben, ist auch dies, ebenso wie, daß ich für >>>> den Giacomo Joyce, dessen fünfzehnten Abschnitt ich nach der ersten heutigen >>>> Argo-Arbeit übersetzen muß und will, so eng mit >>>> Parallalie zusammenarbeiten kann, so eng, so direkt und so schnell. Ich muß dazu nicht mehr mit ihm >>>> im Cortile zusammensitzen. Was für uns beide weniger teuer ist, weil wir nicht immer ganz so viel Wein kaufen müssen. Dafür herrscht in meiner FB-Chronik >>>> ein reger Verkehr. Der „Persönlichkeit als >>>> Kommunikation von Vorstellung und Selbstreferenz“ Infrastruktur.
Was also liegt an? Argo, dann Giacomo Joyce, dann ist vor allem das Lektorat für den Essayband zu bearbeiten, nämlich in die Datei einzuarbeiten. Damit sollte ich am Donnerstag, wenn ich bereits wieder, diesmal >>>> zur Lesung nach Wiesbaden, verreisen werde, erledigt sein. Ist ein Haufen Arbeit, weil den >>>> Kulturmaschinen die Skriptfassungen durcheinandergeraten sind, so daß ich auf mein eigenes Typoskript zurückgreifen und dann noch einmal, nach Übertragung der Lektoratskorrekturen, die Fahnen durchsehen werde, bevor das Buch in Satz und Druck gehen kann. Und ein paar Kleinigkeiten sind in dem Artikel zu Gogolin umzuformulieren; dann geht der Text an >>>> Volltext raus.
Ich grüß Sie alle in den Morgen. Unsittliches schreibe ich Ihnen später mal wieder; nicht nur wie, sondern auch unsere Körper sind – frei. So auch die Begehren. („Ich möchte mehr uneingeengte Menschen“, sagte ich gestern zur Löwin. Sie antwortete: „Ich auch.“ „Es ist so schwer“, sagte >>>> Peter Gogolin, die Langsamkeit der Leute zu ertragen.“

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