Die wenigen, die es noch gibt. Das Arbeitsjournal des Dienstags, dem 6. November 2012. Abends, mit Glöcklers Ives, im Literaturhaus Berlin.

4.49 Uhr:
[Arbeitswohnung. Carl Ruggles, Evocations.]
>>>> Ruggles konzentriertes, aber nur schmales Werk hat auf mich – anders als offenbar damals auf Ives und Cowells – nicht die Kraft der beiden anderen Komponisten; >>>> die übrigen zwei, Riegger und Becker, kenne ich nach wie vor nicht. Das werde ich über den Tag nachzuholen versuchen.
Latte macchiato, Morgenpfeife, dreieinhalb Stunden geschlafen; war unruhig; insofern bin ich recht einfach hochgekommen. Nach DTs, diesem Arbeitsjournal und dem Annoncement >>>> der Veranstaltung heute abend zu Glöcklers Ives-Roman will ich gleich an Thetis weiter; es wäre ganz gut, käme ich auf weitere 150 Seiten. Einige Motive habe ich bereits gefunden, die ich in Anderswelt noch vernähen oder aber abgleichen muß, etwa Borkenbrods schmale Handgelenke, daß man den halluzinogenen Pilz „Gottesfleisch“ nannte, daß die Ostler Schutzbrillen tragen, daß die Scanner für Geldzahlungen „Checkboy“ und das den darbenden Ostlern überlassene Brot „dehydriertes Labskaus“ genannt werden. Es sind diese Kleinigkeiten, was für empfundene Kontinuität sorgt. Abgeglichen werden muß ferner, daß die Holomorfen in Thetis altern, in Argo hingegen nicht, sondern da werden sie nach Erreichen des ihnen bestimmten Lebensalters einfach gelöscht. Kann sein, daß ich dafür bereits in BuenosAires eine Erklärung geliefert habe; das weiß ich aber nicht mehr; immerhin liegen zwischen dem zweiten Andersweltbuch und Argo gute zehn Jahre. Es ist ganz umgekehrt ziemlich erstaunlich, wie viel Thetis und B.A. in mir präsent geblieben ist, etwa sämtliche Personenkonstellationen und, mit ihr verbunden, die Charaktere. Und mein erster Eindruck gestern, bei Beginn der Thetis-Neulektüre: wie simpel eigentlich erzählt wird, mit Ausnahme freilich der Deters-Passagen; manches klingt geradezu reißerhaft, was aber dem je gewählten Genre entspricht: deren knappe, auf Handlung fokussierte Sprache stehen weite, von Perspektivwechseln gekennzeichnete Syntaxen bisweilen hart gegenüber. Daran will ich nichts ändern, aber es gibt immer mal wieder eine kleine Wortredundanz, die ich markiere und für eine nächste Auflage auflösen will. Hin und wieder ist mir eine Reihung zu oft mit „und“ verbunden. Das sind aber Kleinigkeiten, die vielleicht nur ich selbst merke.

Dr. Nos Satz geht mir nach: >>>> „Die wenigen, die überhaupt Bücher lesen und dabei nicht zu Sachbuch oder Krimi greifen“. Verbunden mit >>>> diadorims Lesehaltung, die ein mir als solcher durchaus bewußter Anspruch ist, wird die Luft für eine Literatur in der Tat dünn, die Werk aber notwendigerweise sein muß. Dazu kommt die mediale Erfahrung der Jungen; dazu schrieb ich schon gestern, daß mindestens zwei neue Generationen bereits über Computerspiele geprägt wurden, und Prägung meint Prägung; selbst, wenn wir unseren Kindern Buchkultur noch vermitteln können, so daß sie, m i t, erhalten bleibt, ist es höchst fraglich, ob sie ihrerseits gegenüber ihren Kindern diese Anstrengung noch unternehmen werden; bereits heute scheitern Eltern daran. Wie die Löwin es ausdrückte: „Die jungen Leute sind es gewöhnt, Bilder aneinanderzureihen“; das sah auch schon Flusser sehr genau und sprach von einer anderen, nicht mehr aufs Wort bezogenen Art Denken. Diesem entspricht mehr als alles andere die analoge Wahrnehmung: Metapher wird nun w i r k l i c h Bild. Das, was heute in Masse wirklich noch gelesen wird, ist dementsprechend simpel – als Sprache und Metaphorik, und zwar, je komplizierter und komplexer dagegen die Bildwelten werden, mit denen, eben!, bereits gedacht wird. Deshalb hat ein zwar gut, aber doch sehr plan geschriebenes Buch wie „Die Vermessung der Welt“ solch einen Erfolg; es ist, sozusagen, für seine Verfilmung geschrieben. Möglicherweise wird sich, neben der weiteren Entwicklung des Spielfilms, noch etwas anderes entwickeln, nämlich aus den eBooks und Netzpublikationen heraus: interaktive Hybride aus Romantext und Bild. Die vom Schriftsteller ge(!!!)lieferte Erzählung wird dann, wie es ihre geläufige Benennung bereits heute anzeigt, n u r noch Plot sein und seine Umsetzung von ganz anderen Leuten als den Dichtern, bzw. Schriftstellern realisiert werden – ähnlich einem Drehbuch. So gesehen, schreibe ich in einer Endzeit – und schreibe sie selbst, als Romanmotiv und in der Struktur meiner Romane, poetisch mit. Mir ist das aber nicht immer bewußt, sondern erst, wenn ich auf Abstand gehe und mich frage: Was tust du da eigentlich? Das Problem besteht auch darin, daß denjenigen, die, in Dr. Nos Sinn, noch lesen, mein Ansatz erst einmal fremd, wenn nicht sogar unangenehm, in jedem Fall nur unter Willensanstrengung nachzuvollziehen ist, und den anderen, die in meinem Ansatz bereits leben, ist, überhaupt zu lesen, anstrengend, weil längst fremd. Wenn ich, meinen gestrigen Defätismus mal beiseite, die Sache ironisch angucke, kann ich nur sagen: Ich schreibe unter erschwerten Bedingungen eben diesen erschwerten Bedingungen z u. Denn ich wehre mich gegen die neuen Medien überhaupt nicht, sondern sehe in ihnen die Zukunft; das larmoyante „meine Welt geht unter“, das etwa aus >>>> Hettches Vaterbuch spricht, einem wirklich ausgezeichneten Roman, liegt mir völlig fern; ich sage viel eher „meine Welt kommt“, nur daß ich zugleich konstatieren muß, in einem veralteten Medium zu arbeiten. Alles, was ich tun kann, ist, dieses Medium zu einer letzten Art Höhepunkt voranzutreiben: zu dem, was einer Romandichtung überhaupt noch möglich ist.
Für Lyrik gilt das übrigens nicht; die wird weiterleben, wie sie jetzt lebt: für sehr wenige Leute, vielleicht, wie eben a u c h schon jetzt, aber so weiter über die kommenden Jahrhunderte hin. Als Literatur weiterleben wird genau das, was nicht verfilmbar ist und sich auch nicht anderswie in Bildwelten übersetzen läßt. Ich habe deshalb, weil ich das weiß, meine Prosa strikt rhythmisiert und arbeite mit, sagen wir, ‚besonderen‘ Metaphern und sehr eigenem Satzbau; ich nähere die Prosa, nicht überall, aber an vielen Stellen, der lyrischen Ausdruckswelt an; da aber genau das nicht die Erwartung der meisten Leser erfüllt, die von einer ‚Story‘ in eine andere – Spielfilmen, aber inneren, vergleichbar – Welt „mitgenommen“ werden wollen, so drückt die Löwin das aus, darum können es imgrunde gar nicht mehr Leser sein als die, die ich habe. Ich spreche, wohlgemerkt nicht von Käufern; komplexe Bücher können von denen Millionen haben; ob, ist rein eine Frage des Marketings und der Zeitwellen, in die man hineinfällt. Ich habe offenbar das allerdings ausgesprochene Talent, mein Bötchen in die Täler zu setzen; ein paar UBoote aber, so hoff ich, sind darunter.
Aber wäre ich jünger, ich würde einsteigen – würde damit anfangen, solche interaktiven Hybriden aus konventionellem Roman, experimenteller Erzählung und mit Musiken und bewegten wie unbewegten Bildern als kommende Kunstform mitzuentwickeln. Um so etwas zu tun, müßte ich aber, und zwar ausgezeichnet, programmieren können. Ginge auch: noch einmal ein Studium anfangen, durchführen und abschließen, aber dann blieben die nächsten drei Romane, die bereits in meinem Kopf sind, auf der Strecke. Mit denen, immerhin, schließe ich eine Ära ab, mit dem anderen schlüpfte ich nur mit in den ohnedies schon rauschenden Strom. Um darin vorzukommen und sich drin einzuschreiben, braucht man viel – Zukunfts-Lebenszeit. Wie sie die jungen Menschen haben; ich selbst habe sie sicher nicht mehr. Schon komisch: ‚vollenden‘ zu müssen, wo man doch Pionier sein möchte und immer schon den Fuß auf der nächsten Stufe hat.

Guten Morgen.

11.30 Uhr:
Den ersten Teil von Thetis gelesen, S. 171 jetzt; ich lese auch gleich weiter, will aber doch das noch notieren, daß ich tatsächlich schon 1996, etwa, vielleicht entstand die Pssage auch schon 1995, davon schreibe, daß in Kneipen und Restaurants und in öffentlichen Gebäuden sowieso das Rauchen verboten ist. Das hatte ich ganz vergessen. Lustig, daß einen der eigene Roman eingeholt hat.

12.46 Uhr:
Den gesamten Intervallo gelesen, Nach Centaurus A, bis also Thetis S. 211. An dem Stück ist nun wirklich so gut wie nichts zu revidieren. Dafür wünschte ich mir, herausgelöst, eine gesonderte Ausgabe in der Bibliothek Suhrkamp.
Mittagsschlaf. Also.

5 thoughts on “Die wenigen, die es noch gibt. Das Arbeitsjournal des Dienstags, dem 6. November 2012. Abends, mit Glöcklers Ives, im Literaturhaus Berlin.

  1. 8.50 Uhr: Das >>>> Annoncement für heute abend steht drin. War ein bißchen Rumgeprokel. Dann die Löwin aus ihrem Wiener Bett geworfen, ein paar Minuten geplaudert. Jetzt also Thetis ff:

    Herrn Drehmann zu beobachten, dachte Hans Deters, sei insofern nicht schwierig, als er so nach Gewohnheiten lebte.Logisch, wenn er doch ein Holomorfer ist.

    [Wallingford Riegger,
    Six Movements from Old and News (1944).]
  2. “Er fängt sich wieder” kam mir heute Morgen in den Sinn, als ich Ihren heutigen Eintrag las. Was für eine, wenn man’s bedenkt, hübsche Redewendung.
    Weitermachen!

  3. Gutenberg-Galaxis … geprägt, Prägung meint Prägung …

    Es hat eine feine Ironie, wenn man Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen von Nach-Gutenberg-Sozialisierten mit Bildern aus der Gutenberg-Zeit, vielleicht gar der Vorsokratiker (Engramme, Griffel auf Wachstafeln) zu beschreiben versucht.

    1. @Schelmenzunft. Daran ist einiges Wahres. Zugleich bleibt uns aber gar nichts anderes übrig, ja, genau dies ist sogar eines der Zeichen für große Kunst. Wie der junge Thomas Hettche einst sehr richtig angemerkt hat, nimmt Kunst Technologie voraus. Sie denkt sie, sagen wir: träumt sie zuerst – und damit auch ihre Folgen.

      Selbstverständlich ist an aller Kunst auch Eulenspiegelei; ihr Schelmisches entspricht wohl dem, was Sie mit der feinen Ironie meinen.

  4. Aber wäre ich jünger, ich würde einsteigen – würde damit anfangen, solche interaktiven Hybriden aus konventionellem Roman, experimenteller Erzählung und mit Musiken und bewegten wie unbewegten Bildern als kommende Kunstform mitzuentwickeln.

    Ist denn aber Multimedia in den 90ern nicht grandios gescheitert – und warum sollte jetzt ein Wiederaufguss als Cross- oder Transmediales soviel besser sein? Vielleicht bin ich da auch als Junger schon reaktionär und überskeptisch, aber gerade habe ich noch einmal eXistenZ gesehen und es schien mir wieder eindeutig, dass das alles noch in weiter Ferne ist oder mir gar keine Sorgen muss.

    Nicht weil die wirklich immersive Technologie so weit entfernt ist. Wie weit lässt sich da ja bei so rasanter Technologieentwicklung schlecht extrapolieren – ich stand schon mal in einer Cave und war nicht sehr beeindruckt – sondern: das eindrucksvolle von den digitalen Bildern ist doch das Irreale, Realitätsfremde, was ja vielleicht bei Avatar sogar thematisiert: in eine fremde Haut zu schlüpfen, etwas Neues und Anderes zu fühlen. So ward es verheißen.

    Übersieht man dabei aber nicht gerade, dass das alles schon war und auch da ist? Die warnenden Stimmen vor den geistesverwirrenden Roman, als dieser aufkam, hatten doch gerade davor Angst: dem Realitätsverlust der Lesenden (s.a. den ersten modernen spanischen Roman: Quichote!)
    Wenn der Roman also schon eine “immersive Technik” ist, sind es Sprache, Gedanken, Gesellschaft nicht in gewisser Weise auch?

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