Das Desiderium der Märchen und Paulus Böhmers Memento mori im VorWeihnachtsVorDerReiseJournal des Freitags, dem 14. Dezember 2012.

9.12 Uhr:
[Arbeitswohnung. Beethoven op. 127 (Alban-Berg-Quartett).}
Übers Private wird in dem Essay zu schreiben sein, das Private als Politisches und künstlerisch eben deshalb notwendig Öffentliches; ich nehme an, daß >>>> dieses Kritikers erneuter Vorstoß genau das im Visier hat, ohne es freilich zuzugeben, bzw. darzulegen. Entsprechend habe ich darunter reagiert, nachdem ich den Kommentar heute morgen las, als ich abermals erst um halb acht erwachte, traumgetragen von einer eigenwilligen Auseinandersetzung zur Polyamorie. Man habe, sagten meine sehr freundlichen Gesprächspartner, überhaupt kein Poblem, ihre Neigungen auszuleben, das gehe alles sehr enfache, gebundene, sagten sie, Bahnen. Als sich herausstellte, daß sie BDSM mit ihrer Monogamie verbanden, treu ganz in christlichem Sinn. Sie waren auch alle verheiratet. Als ich dann erzählte, bei mir sei das anders –

– nach langer Zeit war लक्ष्मी eben hier. Tee getrunken, die Geschenke für die Kinder bestellt, bzw. zur Abholung bereitlegen lassen, Finanzielles auf den Weg gebracht, geplaudert, Koženás >>>> Lettere amoroso gehört, damit sie, लक्ष्मी, schon einmal eine Vorstellung, Vorohrung davon bekommt, welch ein Wunder sie >>>> in einer Woche erwartet:

Nun ist sie, लक्ष्मी, wieder weg. Hab ihr noch vom gestern gekochten Grünkohl etwas abgefüllt; ich habe sehr viel davon gekocht, dann schmeckt er einfach besser; im Zweifel wird was für später eingefroren.

: 10.32 Uhr:

bei mir sei das anders, bekam ich an vorwurfsvollen Blicken aber was ab! Ich kann Ihnen sagen. So eingewurzelt die altgeprägte bürgerliche Moral. Wie‘s dann weiterging, weiß ich jetzt nicht mehr.
Sitze, nach Argo-Abgabe, einigermaßen desolat herum und weiß eigentlich nicht richtig, was ich jetzt anfangen soll; für den Essay warte ich auf die Eckdaten, Länge usw.; vorher will ich nach wie vor nicht drangehn. Also werd ich mich, bis ich habe, was ich will, wohl wieder an die Argo-Versarbeit setzen; ich hätte auch Lust, mal wieder ein ganz anderes Gedicht vorzunehmen, weiß aber, daß ich mich dann da so einfuchsen würde, daß mir die wiedernächste Unterbrechung auf den Geist ginge. Da morgen also nun sowieso ein weiterer Weihnachtsvorbereitungstag sein wird, Baum kaufen, nachmittags Weihnachtsmarkt mit der Familie, les ich vielleicht nur etwas herum, Ernst Bloch wieder weiter (Prinzip Hoffnung: das Desiderium sei das einzige, worin der Mensch, ein jeder, wirklich ehrlich sei) und kümmere mich im übrigen um Weihnachtsgeschenke.

Gestern länger mit der Löwin über Weihnachten gesprochen, das ihr auf die Nerven geht, für mich aber seit je das Fest gewesen ist – vielleicht einfach, weil der Heiligabend, als ich Kind und dann Jugendlicher gewesen bin, die einzige Zeit des Jahres war, an dem es nie, wirklich nie Streit gab. Es war immer, als hätten die Lichter des Baumes in uns alle Zuversicht, Güte und Nachsicht einströmen lassen – . So etwas prägt. Dazu die mir ohnedies nahe, überlebenswichtige Hoffnungsmetaphorik, die mit christlichen Inhalten nur sehr am Rande zu tun hat; ausgeprägter hat auf mich die Lichtsymbolik gewirkt, daß nun die Tage wieder länger werden, daß man am Waldrain die Bäume schmückte, Feuerräder von den Hügeln rollen ließ – Blochs Desiderium als Märchen. Bis heute bin ich dafür „anfällig“, sagen wir: offen. Eine gute heidnische Sentimentalität ist darin, die Bäume und Steine für beseelt nimmt, eben nicht für etwas, das man sich untertan mache. Sondern wir selbst sind darin, im permanenten Fließen des Gebens und Nehmens, Tötens und Gebärens, Essens und Ausscheidens eingebunden.

Pauli Böhmer >>>> Lesung gestern abend: Etwa vierzig Leute waren da, darunter Monika Rinck, Norbert Hummelt; Ehre wird ihm jetzt, dem mittlerweile alten Mann, die ihm viele Jahrzehnte lang versagt geblieben, in denen man ihn nahezu restlos ignoriert hat. Nunmehr wird er für einen Klassiker genommen. Es tut gut zu sehen, wie ihm das guttut, auch wenn es – objektiv – um einiges zu spät kommt. Auch er ist einer von den wenigen gewesen, die sich niemals angepaßt, vor allem, die sich heftige Ausfälle erlaubt haben gegen die Betriebshudeleien und Schiebereien, Korruptionen und Seilschaften nicht unbedingt der Begabtesten, aber Betriebspfiffigen. Jetzt ist er nicht mehr zu fürchten; so erstattet man ihm immerhin nach, was bewußt vorenthalten wurde: Anerkennung. Daran haben vor allem die jungen Dichter:innen Anteil, die sich nun immer wieder auf ihn beziehen. Ihnen sei das sehr gedankt.
Böhmer las intensiv, ruhiger als früher, gewisser; um alles ist nun eine Aura der Abgeschlossenheit und damit Harmonie-selbst-im-Aufstand gelegt, eine Form von Abgeklärtheit, ja Verklärtheit, die Röhnert dazu veranlaßte, den Dichter abschließend zu fragen, was er denn den jungen Leuten, die heutzutage schrieben, raten würde. Böhmer reagierte hilflos, ja fast peinlich berührt und gab auch keine Antwort. Indessen ich dachte: Was ist denn in Röhnert gefahren? Mußte sogar auflachen, weil in Böhmers Gedichten nach wie vor mehr Explosivkraft steckt als in u n s e r aller, der versammelten Mitdichter, Texten. „J e d e s Gebet“, sagt er etwa, „ist Idiotie“ und nimmt die jüdische Totenklage, nach der immerhin >>>> sein Hauptwerk benamst ist, da expressiv verbis mit hinein. Wie wenig gut mit Böhmer nach wie vor Kirschen essen ist, zeigen die Zeilen aus >>>> „Bei mir“ geradezu sofort:

Ziegen schlugen mit den Beinen um sich,
als gäbe es noch ein Entkommen. Zwischen Erniedrigung und Sehnsucht
nach Erlösung
schliddern wir so hin:
so naked as we came, so hin.

Am Meer. An Land. Bei mir. S. 229



Übrigens finde ich Peter Heusch als Sprecher – Böhmer und er lasen im Wechsel – arg überbewertet, jedenfalls für diese Gedichte; aber Böhmer liebt und schätzt den Mann. Mir ist seine Stimme, ist vor allem sein Sprechduktus zu eindimensional, auch zu hell; Heusch reißt die Räume nicht auf, öffnet die Türen nicht einmal um einen Spalt, die sich hinter Böhmers Versen ins unendliche Endliche ausdehnen; es fehlt ihm schlichtweg an Feuer. Insofern spielt er nolens volens Böhmers verharmlosender Entrückung in eine moderne Klassik zu. Einer kanonisierenden Vermarktung, die immer auch Entschärfung ist, kommt sowas, freilich, zupaß.
Nachher nett mit Hummelt zusammengesessen; aber ein “wirkliches” Gespräch kam nicht zustande. Zu fremd bin ich der Szene, sind wir uns wechselseitig. Nur zu Böhmer ist die alte vertraute Nähe sofort wieder da, auch wenn wir uns nur noch sehr gelegentlich sehen.

12.16 Uhr:
Vor Weihnachten. Das kommen die Empfänger aufeinander. Heute frühabends bei meiner >>>> Impresaria Stang zum Crémant. Ich sollte gut essen vorher.
(Magdalena Kožená singt jetzt Berg.)

7 thoughts on “Das Desiderium der Märchen und Paulus Böhmers Memento mori im VorWeihnachtsVorDerReiseJournal des Freitags, dem 14. Dezember 2012.

  1. Des Röhnerts Frage, die im Kern ja fast darauf abzuzielen schien, ob Paulus Böhmer es für Jüngere als sinnvoll erachte, überhaupt noch literarisch tätig zu sein, fand ich auch schräg, denn was wäre eine mögliche Antwort gewesen? “Bloß nicht” oder “Ja, unbedingt”? Die beste Antwort war Schweigen, die zweitbeste wäre gewesen, allen zu raten, zu tun, was immer sie wollen.
    Bei der Anmoderation Frau Langes fand ich es übrigens auffällig, daß sie über Röhnert sagte, er habe “natürlich” Literaturwissenschaft studiert, so als könnten nur Literaturwissenschaftler überhaupt im Betrieb eine Rolle spielen. Wahrscheinlich ist das sonst niemandem aufgefallen, aber ich habe da so meine Erfahrungen als Kulturwissenschaftler mit Schwerpunkt Literatur, und zwar negative, denn man wird von Anfang an als unzugehörig angesehen, als jemand ohne den richtigen Stallgeruch, und ohne Stallgeruch kommt man in diesem Land heutzutage nirgends rein.

    1. @Schlinkert. Das mit dem Literaturwissenschaftler fiel auch mir auf; aber nicht das ist es, was den Stallgeruch ausmacht; es kann im Betrieb sogar kontraproduktiv sein, literarwissenschaftlich an die Dinge heranzugehen. Viel wichtiger ist ein Gefördertsein durch den Betrieb, daß man also von Leuten mit (im Betrieb) Einfluß für wichtig gehalten oder als wichtig eingesetzt wird, von Vertrieblern also. Stallgeruch kommt auch aus einer gerade opportunen Haltung. Früher einmal gehörte Außenseitertum dazu, heute ist es nachgerade schädlich. Angepaßtheit ist gefragt – was bei einem durch den Mainstream geprägten Markt nicht Wunder nehmen muß: Es ist sein direktes Ergebnis. Indem die Künste als Entertainment begriffen werden, haben Künstler Dienstleister zu sein; hier steckt auch eines der Teufelshörner in der allgemein gängigen Ablehnung einer individualistischen Auffassung vom Genie – die aber unbedingterweise mit der Autonomisierung der Künste – ihrer Emanzipation also – verbunden war und das nach wie vor ist; indem wie das Genie auf Teamwork runterbrechen wollen, werden die Künste in eine Dienstleistung zurückgeführt, die den Marktmeachanismen zu gehorchen habe. Damit wird alle mögliche Transzendenz durchgestrichen. Auch dies ist ein für den Kapitalistismus typischer Profanierungsakt: Tauschbarkeit soll hergestellt und umfassend – also total – werden.

    2. Das Gefördertwerden ist ja in der Tat immer verbunden mit einem Fordern, daß nämlich der Geförderte in die Strukturen passe und, wie Sie richtig sagen, seine Dienstleistung zu bringen hat. Ich habe das in einigen Bereichen beobachten dürfen, auch im Unibetrieb, wo ja die Korruption schon alles durchdrungen hat, denn auch dort zählt Zählbares mehr als das (entstehende) Werk eines Einzelnen. O tempora o mores!

    3. …endlose Sackgasse? Dass den Produzenten von Kunst mehr und mehr diejenigen abhanden kommen, die etwas mit Kunst anfangen können, ist in der Tat schon lange der Fall. Zentrales Problem der Moderne! Es gab (und gibt) ja auch Versuche, das Problem sozusagen “von innen” (episches Theater usw.) anzugehen. Oder so etwas wie eine innere Emigration, eine Esoterik im avancierten Sinne des Wortes.
      Nun, sich beschweren alleine genügt nicht.

    4. @tom. Ich fürchte, daß es nie sehr viele Menschen gegeben hat, die, wie Sie schreiben, mit Kunst etwas anfangen konnten, auch schon nicht vor unserer Zeit. Kunst ist, wie eine Spezialwissenschaft, immer elitär gewesen – was nachvollziehbare Gründe hat. Dies läßt sich mit demokratischen Ansprüchen, so wichtig ihre Realisierung im praktischen Leben der Einzelnen und Völker zweifelsfrei sind, nicht vereinbaren. Unter dem Diktat der Quote wird Kunst eingehen – wird sie “natürlich” nicht, sondern nach wie vor, schon weil einer ihrer Kerne Widerstand ist, geschrieben, komponiert,. gemalt werden; sie kann aber nicht auf weitgefächerte Zustimmung rechnen. Das Problem besteht nun darin, daß die eigentlich Kunstgebildeten selbst, sobald sie vermittelnd tätig sind, sich unter die Quote beugen, schlichtweg deshalb, weil sie Einfluß wollen und ihn aus ökonomischen Gründen auch brauchen. Hinzukommen am auch politischen Mainstream orientierte Prägungen.

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