Mit Kinski und Saviano Parteiischkeit an Pfingsten II, das wieder – leider – bedeckt ist. Montag, der 20. Mai 2013.

11.15 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Dennoch will ich wieder hinaus, nachher oder gleich, um den Saviano „aus“zulesen und dann abends meine Exzerpte in die Neapel-Notate zu tippen. Wieder, unter anderem, so ein Satz, der mir nachgeht: „Die Wahrheit ist parteiisch. Könnte man sie auf eine objektive Formel reduzieren, dann wäre sie synthetisch.“ Unter- und am Rand von mir angestrichen, und oben auf der Seite zwei Ausrufezeichen, mit meinem Bleitstift. Die Wahrheit ist parteiisch. Dazu Kinskis frühe Gedichte, die ich im Abraum bei den Mülltonnen fand; ein Schatz, wie ich sofort erfaßte, dem eine sprachtaumelnde, enorme Prosa von >>>> Thomas Harlan voransteht, selbst ein, wie er von Kinskis Texten schreibt, „glühender Wortschwall, mit dem Klaus aus dem Bergell allein nach Paris zurückkehrte, ohne je ein Wort über die Verlorne dann noch zu verlieren, über die Tote vielleicht – in riesigen Sütterlin-Lettern auf Packpapier abgeladene Figuren, in alle Himmelsrichtungen auskeilende Schriftbilder, die allesamt Statuetten des in die Höhe drängenden Giacometti hätten sein können, Dorfheilige, Trinker-Mägde, herzkranke, streichholzdürre, fadenförmig sich von selbst in die Lüfte abhebende Erscheinungen in Bronze, in Schwarz und Lila, enorme, oft in Buntstift, Kohlestrichen, mit Ölkreide in die Länge gezogene, jagende, erschütterte, muskellos ins Nichts gesackte Töchterherzen, die, kaum einem kurzen Lichtstrahl der sich dem Wind öffnenden Gardine ausgesetzt, schon ihr Wetterleuchten veranstalteten, kerzenähnlich mit ihren Anspielungen auf Eiter und Karbol in einer Totenmesse Liebhabern den Weg zurück in die Wiege leuchtend“:

Als ich abends von meinem Lektüregang und -sitzen in der Sonne heimkam, lag mein Sohn grünblaß auf der Couch; es gehe ihm nicht gut. Er mochte irgend etwas gegessen haben, das ihm nicht bekam; zugeben tat er nur einen mittäglichen Döner. Dann schlief er ein und schlief durch bis heute morgen um neun; das sind vierzehn Stunden. Ich selbst ging um zwei ins Bett, etwas angeschickert und besorgt, hatte immer wieder mal mein Ohr an den Mund des Schlafenden gelegt, weil in dem Film, den ich sah, dauernd Leute starben. Dann, sowas um vier Uhr, schreckte ich hoch, mich beinah erbrechend: so heftig war das Aufstoßen gewesen, auch durch die Nase, was widerlich ist und mich mit dem spontanen Eindruck erschreckte, daß ich blute – senkrecht stand ich im Schlafsack, in dem ich kokonartig ruhte, weil ich den schlafenden Jugendlichen nicht aufwecken mochte wegen des Bettzeugs, auf dem er, nach wie vor bekleidet, wie weggesackt schlief. Ich peste ins Bad, sah nach, mir ins Gesicht, nein, kein Blut, wirklich nur ein sauerer Aufstoßensschwall. Irgendwie die Säure aus der Nase bekommen. Legte mich wieder, schniefend, schnaubend, hustend – und schlief ebenfalls bis neun Uhr durch.
Schön in der Sonne war gewesen, daß Alter keine Flirtrolle spielt – anders als im Netz. In meinen Kontaktforen wird von denen, die mich interessieren, zunehmend weniger auf mich reagiert, oder es kommen Nachrichten der Art, einen Vater habe man schon. Das fällt in freier Wildbahn weg, da zählen keine Zahlen, da zählt nur Präsenz. Also genoß ich’s, während ich las, zu flirten. Eine junge Frau sprach mich sogar an, wie ich da saß in meinem hellen Anzug und den edlen Schuhen aus Tanger, denen aus Stroh, die ich wie meine Augäpfel hege.

Also >>>> das Gedicht ist angegangen; heute will ich es fortsetzen, aber zuvor den Saviano zuendelesen. Vielleicht kommt auch >>>> Parallalies nächstes Gegenlektorat zum Giacomo Joyce, das dann meinerseits gleich fortgesetzt werden sollte. Und es hat sich bei >>>> Bersarin ein guter Kommentarwechsel ergeben, >>>> der um Regiekonzepte und Kritiken kreist; Kritik als Kunst, Verschiedenheit der Kunstsparten usw, hier besonders von Regietheater-Auffassungen, Ähnlichkeiten/Differenzen zu Romanen, die ebenfalls mit einer Herzkammer Interpretationen, bzw. Fortschreibungen von Topoi sind. Jedenfalls ist sein Weblog alles andere als ein, wie ich das einst genannt habe, Plauderblog. (An einer Stelle im >>>> Giacomo Joyce hatte ich gestern kurz den Impuls, „twittering happily, twittering and chirping happily“ mit „selig twitternd, twitternd und selig chattend“ zu übertragen – entschied mich aber dagegen, weil diese Art Modernisierung zu einem falschen Assoziationshof geführt hätte; hübsch aber ist es).

Vielleicht geh ich heute abend mit der Samarkandin Wein trinken, nicht essen, weil mein Sohn noch mal vom Gulasch haben möchte, das er gestern magentechnisch nicht hätte aufnehmen können – oder es wäre nachts zu einer kleinen Katastrophe gekommen, die sich aufs pure Aufstoßen kaum beschränkt hätte. Was ich immer versuche, ist, zu den Gängen des Geistes die Organe dazuzudenken, so, wie Saviano von den materiellen Erscheinungen schreibt, wie wenn man vor einem Vermeer-Gemälde stehend an denjenigen denke, „der die Farben gemischt, die Leinwand gespannt und die Perlenohrringe zusammengefügt hat, statt das Bild zu betrachten. (…) Beim Anblick eines Treppenaufgangs denke ich an den Kreislauf des Zements, beim Anblick einer Fensterfront an den Aufbau des Gerüsts. (…) Ich sehe nicht bloß die getünchte Wand, ich denke an den Mörtel und die Mauerkelle.“ Unser aller Mörtel und Mauerkelle ist der Körper, er allein.

Guten Tag.

3 thoughts on “Mit Kinski und Saviano Parteiischkeit an Pfingsten II, das wieder – leider – bedeckt ist. Montag, der 20. Mai 2013.

  1. Ich danke Ihnen, daß Sie auf unseren Dialog bei mir im Blog verlinkt haben. Was nun das Plaudern betrifft, so mußte ich kurz lächeln und an die „Unterhaltungen Deutscher Ausgewanderten“ von Goethe denken. Denn in dieser Novelle liegen ja Plaudern und Poetisieren sehr dicht beieinander: Begann es am Anfang noch mit einer eher schnöden, unterhaltend-aufreizenden Schauergeschichte, die in jener Gesellschaft der Flüchtenden erzählt wurde, um sich durch das Erzählen die Zeit zu vertreiben bzw. im Beieiander teils die Sorgen fortzuhalten bzw. die gesellige Bildung zu beflügeln, so endet es in jenem hochartifiziellen, symbolischen Märchen.

    Was nun eigene Kritiken uns Besprechungen betrifft, so werde ich sicherlich in nächster oder übernächster Zeit zu Ihren Aufsatzband „Schöne Literatur muß grausam sein“ bei mir im Blog etwas schreiben. Der Titel bereits gefällt mir ausnehmend gut, weil er so gelungen die Gegensätze pointiert, die Literatur ausmachen: jener Stich ins Herz, jenes Messer, das die Wunden reißt und im selben Moment das Sinnlich, was eine Leserin, einen Leser anspringt und nicht mehr losläßt.

    Ich bin – zumindest durch unseren Schreibkontakt – auf die Texte von Ihnen, auf Ihre Literatur sehr neugierig geworden.

    1. Lieber Herr Bersarin, solche Verlinkungen sollten selbstverständlich sein und bedürfen keines Dankes. Im Gegenteil bin ich meinerseits dankbar, daß noch jemand weiteres derart detailliert und sich einfühlend über Opern-Inszenierungen äußert. Das ist für mich ein ziemlicher Gewinn.

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