Liebsboa: Lissabon. PP166: Der siebenunddreißigste Tag der Großen Fahrt zur See. Nachgetragen am Morgen des achtundzwanzigsten, eines Donnerstags, nämlich dem 8. Mai 2014.

(8.27 Uhr.
MS Astor, Oberes Achterdeck, wieder auf dem Atlantik.
41º33‘ N/9º36‘ W.
Kurs 345º N.)

Gestern hatte Die Dschungel mal wieder einen Idioten zu Gast, den es, daß er einer ist, auch zum Ausdruck drängte. Ich hab das Zeugs heute morgen gelöscht, mag mich nicht abgeben mit so etwas, bin grad ein bißchen zu weich, um kontern auch nur zu wollen. Ich habe tatsächlich geweint, als wir Lisboa wieder verließen, nicht sehr nein, nicht „richtig“, nur so ein bißchen lief mir was Nasses die rechte Wange hinunter; es hätte, Sie haben völlig recht, auch vom Seewind rühren können.
Daß meine zweite Begegnung mit dieser Stadt anders als die erste würde, hatte ich, Sie lasen es sicher, geahnt. Aber nicht, daß mir dort widerfahren würde, was ich so bislang nur mit Neapel erlebt habe. Auch diese Stadt, bei unsrer ersten Begegnung, stieß mich ab, „nur raus!“ haben wir beide, Do und ich, damals gedacht, „bloß schnell wieder weg hier!“ Und für Lisboa muß man „abstoßen“ aktiv lesen: die Stadt gab mir einen Tritt. Danach war ich so fertig, daß ich auf die Idee kam, diesen Sterberoman zu schreiben: Ich wollte mich versöhnen. Und nun nahm mich die Stadt ans Herz.
Vielleicht hab ich sie überhaupt jetzt erst gesehen. Vor drei Jahren war ich mit dem Freund hier, der sie schon kannte und mir zeigte, was er kannte. Da sind wir, anstatt durch die Gassen zu gehen, gleich auf die Burg hoch, die voller Touristen, dann auf die Praça Pedro IV, die ebenfalls voller Touristen, und weiter westlich den Chiado-Hügel hinauf, wo‘s, verglichen mit dem Gassengebiet des Burgbergs, übersichtlich ist. Ich mag keine Übersichtlichkeit und vor allem dann nicht, wenn sie mit Melancholie und Stille verbunden ist; das ist mir zu leb- und leidenschaftslos; da werd ich depressiv.
Gestern aber – ich war als allererster von Bord – zog mich die Stadt, s o g sie mich ein, und zwar sofort, nachdem ich aus dem Hafen raus war: sog mich in die Gassen; ich weiß nicht mehr, wie viele Treppen und Treppchen ich stieg und über wie viele der kleinen rutschglatt-getretenen Kopfsteine ich dahinschritt, mit denen die schmalen Gehsteige beschlagen sind. Lisboa ist ohnedies eine Stadt des Kopfsteinpflasters, Katzenköpfe der Fahr- und Kätzchenköpfe der Fußweg; dazu die alte kurze Tram, in der aber nur Touristen saßen. Es waren, insgesamt, zu viele Touristen in dieser kleinen Stadt; ich versteh einfach nicht, weshalb sie sich immer auch kleiden müssen wie Touristen; geradezu sofort sind sie zu erkennen, selbst wenn sie hundert Meter weg sind. Da muß es doch niemanden wundern, wenn sie zu Diebesopfern werden. Mir selbst ist es schon peinlich, mit einer Kamera herumzulaufen, offen baumelnd vorm Bauch. Die Einheimischen müssen sich doch fühlen, als wären sie Tiere im Zoo. Manche rächen sich dafür. Imgrunde ein angemessener Ausgleich.
Wenn man zum Castelo São Jorge aufsteigt und wieder hinabgeht durch die Gäßchen und von unten, sich umdrehend, noch einmal hinaufsieht, wird einem augenklar, woher der Begriff des „Bürger“s stammt: so sehr sind die kleinen Häuser und Hausgebilde in den Schutz des Burgbergs teils geschmiegt, teils darunter geduckt, wie unter die Flügel eines riesigen Vogels, der dort, aus Wehrmauersteinen, seinen Hort hat. An jeder Ecke gibt es neue Ein-, Hinab- und Hinaufblicke, Gärtchen zuweilen, vor die Wohnkammer, die wie in Süditalien direkt auf die Straße hinausführt, gestellte Stühle, mal eine Bank, dann wieder über den Dächern nicht das Meer, nein, die lagunenartige Mündung des Tejo, der vor Lissabon ein riesiges, einzigartig geschütztes Hafenbecken ist und erst nach einer Enge, über die der berühmte Ponte de 25 Abril gespannt ist, zur Meeresmündung wird. Von dort, nicht von Lissabons heutigen Kais, brachen die großen Seefahrer auf, nach Indien etwa Vasco da Gama. Insofern liegt die Stadt nicht wirklich am Meer und liegt da irgendwie d o c h.
Nach nur wenigen Treppchen nahm ich meinen ersten, einen ausgezeichneten, Caffè. Für sechzig Cents, kaum zu fassen. Und telefonierte erstmals wieder, mit daheim. Rauchte, sann. Es war warm, die Sonne schien allezeit. Wie ich es mir, in der empfindlichen Frische unserer Anfahrt, gedacht hatte. Und schritt weiter, immer wieder stehenbleibend, die Augen schließend, lauschend. Ließ den Recorder mitlaufen. Flanierte weiter, hinab zur Praça Pedro IV mit einem Abstecher ins hochgeschönte chicke Baixa, uninteressant, und wegen der wartenden Touristenschlange nicht mit dem berühmten Aufzugsturm, sondern zu Fuß nach Chiado hoch, aber weiter und immer weiter, bis sichg nur noch sehr vereinzelt und auch nur als Pärchen, die in ihren Stadtplänen lasen, Touristen sehen ließen, dann über Madragao bis Estrela hoch; je höher man kommt, desto reicher wird es. Doch nicht nur hierin gibt es Ähnlichkeiten mit Neapel. Das Temperament indessen, der Menschen, ist anders; sie sind, wie die Stadt selbst, meistens still. Innengekehrt. Auffällig unaggressiv.
Doch weiter. Weiter die Avenida Alvares Cabral entlang zum Largo do Rato und von dort einer der breitesten und prächtigsten Avenuen zugeschritten, die ich überhaupt kenne: einer mondänen Rutsche gleich führt sie bis fast zur, wieder, Praça Pedro IV hinab, palmenbestanden mit längsgezogenem Grün inmitten, dort blumengeschäumt, aber gesäumt von den Repräsentanzen der wahren Herrschaftsfamilien der Welt, Prada, Rolls Royce, Chanel – der registered trademarks Hoch-Aristokratie.
Vorm Musical-Theater saßen die drei Instrumentalisten des Astor-Ensembles, Baß, Klavier und Schlagzeug, und winkten mich zu sich auf einen „Vinho pressione“. Sie hatten schon einigen Gläsern herzlich zugesprochen, „immer“ erzählte Nicolae, „wenn ich in Lissabon bin, komme ich genau hierher, auf gradem Weg vom Hafen, setze mich hin und trinke diesen Wein, bis ich wieder an Bord muß“. Mich aber zieht es noch einmal den Burgberg hinauf, um dort in einem Gassenwinkel, wo zweidrei Stühle draußen stehen, einen letzten Caffè zu nehmen und einen Cigarillo zu rauchen. Um zu sinnen. Noch nie, wenn ich nach Europa zurückkam, verspürte ich solch ein Heimatgefühl. Ich bin kein Deutscher, dachte ich, sondern ein Europäer, der so ein Deutscher ist, wie in Deutschland ein Bayer ein Bayer, ein Sachse ein Sachse und einer aus Hessen ein Hesse.
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(10.30 Uhr.)
Ich habe das Achterdeck wieder verlassen. Es ist, um zu schreiben, wirklich zu kühl. Noch auf keiner Reise vorher hatte ich es derart täglich mit Temperaturwechseln zu tun. So warm und licht es in Lisboa auch war, kaum verließen wir den Tejo, begann ich zu frieren. Kevin hat sich tatsächlich eine handfeste Erkältung zugezogen, sitzt dick verpackt draußen und fiebert vor sich hin. Einen anderen aus der Abenteurergruppe hat‘s im Gesicht erwischt: Er schlug nachts hin auf einer der Treppen. John stapft unwillig brummend übers Achterdeck, von der unteren zur obren Raucherecke hoch und wieder zurück, die Pudelmütze bis zu den Augenbrauen runtergezogen. Und Meg kommt auf See aus ihren Wollhandschuhen so wenig mehr heraus wie ich aus meiner Lederjacke. So schaukeln wir spürbar der Biscaya entgegen, wo wir vielleicht nicht nur noch schaukeln werden. Wenn nicht der Wind dreht.

Die Sonne wirft indirekt ein Gleißen aufs Meer. Das tausendfach, wo es getroffen, aufblitzt. Und wir ahnen im Osten das Land.

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