OHNE ABER DIE FORTSETZUNG: Weshalb ich schwieg. PP170, in LeHavre quasi geblieben. Mardì, mai 27ième.

„Die Abgründe überdauern die Höhen“
(…) vom Wasser modellierte Schaum- und Nachtgesichter, deren geheim-
nisvolles Königtum, kaum hat es seine Strahlen auf uns geworfen, uns auch
schon hilft, unser schattiges Festland mühelos zu verlassen, um endlich dem
Meer, dem Licht und seinem Geheimnis entgegenzuschreiten.
(Albert Camus über Hermann Melville,
deutsch von Lislott Pfaff)
[Britten nach Melville: Billy Budd.
Hampson, Rolfe Johnson, Halvaron.
Hallé, Nagano.]

8.02 Uhr, LeHavre.
Nein, ich bin nicht e n t f ü h r t worden – diese Bemerkung, um auf eine Befürchtung >>>> Parallalies zu reagieren, die er mir als Email in den elektronischen Postkasten beamte, doch auch viele andere Zuschriften drücken ihre Besorgnis über mein Schweigen aus, weil auch die angekündigte Fortsetzung der LeHavre-Erzählung nie erschienen ist und nun von der Kreuzfahrt nicht nur diese fehlt, sondern auch Harvich, sowie die Rückkunft in Bremerhaven, Heimreise nach Berlin; kein Eintrag aus der Arbeitswohnung mehr. Usw. Und natürlich hat >>>> dieser Kommentator nicht unrecht, der so christlich Markus heißt. Aber nicht nur, daß ich fast gleich nach meiner Rückkehr zu einer Lesung nach Bamberg mußte – nicht einmal das mochte ich annoncieren –, vor allem hat mich ein gar nicht ungewisses Gefühl von Vergeblichkeit erfaßt, dem ich auf See durchaus entfliehen konnte, ohne dessen überhaupt gewärtig sein zu müssen. Andererseits mußte ich auf See der permanenten Bespaßung entfliehen, was nicht immer gelang, gar nicht gelingen konnte, es sei denn, ich hätte mich in meine Kajüte zurückgezogen. So war ich nun so voll, so aufgepumpt mit schlechter Musik, daß ich auch gute nicht mehr hören mochte, jeden Laut quasi floh, nur Stille wollte, und des heißt eben auch: Stille des Worts. Das viele Entertainment hat mich in der Tat geschädigt, beinahe physisch, und davon brauchte ich eine Phase der Rekonvaleszenz. Sie auch ließ Die Dschungel stumm. Die Tatsache, daß >>>> Argo weiterhin verschwiegen worden ist, wie im übrigen ja die Bamberger Elegien auch schon, stimmte mich nicht kämpferischer. ‚Rückzug‘, dachte ich und wurde Lanmeister wieder. Es ist auch nicht so sehr ein ‚Zug‘ als mehr Fluß, Rückfluß: F l i e ß e n. Rück: Da begriff ich, daß ich, anstelle LeHavre als Text fortzusetzen, ich die Stadt real fortsetzen müsse, und nachdem ich endlich wieder Musik gehört hatte, endlich wieder, setzte ich mich in den Flieger und flog tatsächlich zurück; nach Frankreich müßte und mußte ich ohnedies, weil am Freitag die erste Pariser Lesung meines Lebens stattfinden wird, zusammen mit meinem Übersetzer >>>> Prunier.Von LeHavre aus könnte und kann ich sehr leicht mit dem Zug in die Hauptstadt fahren, wo ich dann auch, weil sie gerade dort ist, >>>> Phyllis Kiehl besuchen, die, schrieb sie mir, auch bei der Lesung anwesend sein möchte.
Hier aber nun, in LeHavre, kann ich auch endlich wieder schreiben. Mit >>>> der gestern eingestellten Kritik zu Billy Budd habe ich begonnen, nun folgt schon wieder ein PP, und ab nachmittags werde ich mich an die Rezension zu >>>> Popps Haus der Halluzinationen für >>>> Volltext setzen. Aber auch an die Gedichte möchte ich gehen.
***

Es ist vieles liegengeblieben, und einiges davon werde ich rechtzeitig nicht mehr fertigbekommen. Aber das macht nichts, bringt vielleicht ein bißchen Ärger, vielleicht ein paar Mißgestimmtheiten, doch ich will mich nicht mehr – in dem einen Sinn – treiben lassen, sondern will mich – in dem anderen – treiben lassen; die Dinge brauchen ihre Zeit. Und ich tue mich im Augenblick schwer, mir läuft das Schreiben zur Zeit nicht wie früher einfach so aus der Hand. Ich habe Hemmungen, etwas niederzuschreiben, bisweilen auch Unlust daran. Das ist bisweilen sogar mit etwas Ekel behaftet, dem einer erfahrenen Sinnlosigkeit. Zugleich weiß ich, daß dieser Eindruck ungerecht ist, ungerechtfertigt; er prägt sich mir allein aus der öffentlichen Resonanz auf, aus der, nennen wir’s doch beim eitlen Wort, Ruhmlosigkeit. De facto ist sie eine – Verletzung. Ich muß aufpassen, daß sie nicht Schädigung wird. Will aufpassen; es liegt noch zu vieles vor mir, um sie zuzulassen. Der Deutsche Literaturfonds hat das Sterbebuch abgelehnt, sogar dieses Sterbe- und Traumbuch; es war zu erwarten. Es hat mich trotzdem, gleich nach meiner Rückkehr, gekränkt. Mein Name, der des Unholds, genügt, um mich wegzutreten. Es ist unterdessen völlig egal, was ich zu schreiben vorhabe. Ich muß die Kraft wiedergewinnen, daraus, daß ich ein Vogelfreier bin, meinen Antrieb zu gewinnen, daß ich ein Outlaw bin. In einer Gesellschaft der Bigotten ist der Klare misfits. Ich weiß das, aber es ist nicht leicht, sich das noch und noch zu vergegenwärtigen, und zwar einfach deshalb, weil auch ich ein soziales Geschöpf bin,. das aufgehoben sein möchte. Zur Klarheit gehört, das zu wissen und zu zeigen und nicht statt dessen den einsamen Wolf zu idealisieren und Rufer aus den Wüsten. Deshalb werde ich mich gleich nach meiner nunmehr neuerlichen Rückkehr an das Kreuzfahrt-Hörstück setzen.
***

Ich sehe aufs Meer, habe das „neue“ LeHavre, also die Architekturen Perrers, nur im Rücken. Seltsam, daß ich mich ausgerechnet in diese nüchterne Stadt verguckt habe. Ein bißchen ist es wie an norddeutschen Küsten, aber hier, von der gesamten Reise, ist der Seegang am mächtigsten; er dringt sogar, als Klang, durch die geschlossenen Fenster; jeden Abend geh ich den steinigen Strand entlang:

Es ist gut, im Gehen zu denken, vor allem auch dann, wenn es kein lockeres Flanieren ist. Der Billy Budd klingt und klingt in mir nach, und ich weiß endlich wieder, spüre es wieder, was Musik ist, das heißt: was Kunst-überhaupt ist. Wer immer die Möglichkeit hat, besuche in Berlin bitte >>>> diese Inszenierung. „Diese herzzerreißenden Bücher, in denen der Mensch zu Boden gedrückt, das Leben aber auf jeder Seite gepriesen wird, sind unerschöpfliche Quellen von Kraft und Mitleid. Man findet darin Auflehnung und Zustimmung, unbezähmbare und grenzenlose Liebe, Leidenschaft und Schönheit, erhabenste Sprache, kurz: Genialität“ (Camus über Melville, ff.). das Leben aber auf jeder Seite gepriesen wird: Darauf, das glaube ich, kommt es an.
Es ist hier, als führte ich jeden Tag die intensivsten Gespräche mit einer nahen Frau, die dem Meer als eine in jede Falte dringende Stimme entsteigt. Mit ihrem Blick lese ich Melville. Und dauernd entstehen Gedichtzeilen, aber immer nur eine, immer nur einzelne Verse; alles, ohne zu fertigen Gedichten tauglich zu sein. „It‘s a dreaming what I am… fathoms down, fathoms… Who is it? Can‘t see your face, and dark, isn‘t it? Christ, I dreamed I was under the sea!“

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