So immer anders. PP 208, 13. August 2014: Mittwoch. Mit Wesseltoft und Kraggerud.

(5.58 Uhr, Arbeitswohnung.
Kraggerud & Wesseltoft, >>>> Last Spring.)

Ja, es ist morgens schon wieder kühl. Abermals einen Schal um den Nacken gelegt: gegen die Melancholie, wenn Sie so wollen. Kaum eine andere Musik paßt hier mehr als die, die ich nun höre. >>>> Actmusic hatte sie mir geschickt, bereits vor zwei Jahren, als diese CD erschien:

Es sind ruhige Meditationen um nordische Volksliederklänge, teils um tatsächliche Folklore, für Geige und Klavier, ausgeführt von einem Jazz- und einem Klassikmusiker, Henning Kraggerud und Bugge Wesseltoft, beide in je ihrem Fach und Land sehr bekannt; bei den ACT-CDs, deren Verlag nicht grundlos das Wort „Vision“ im Unternehmenstitel trägt, bin ich manchmal an die junge >>>> ECM erinnert, deren bei ihm wieder puristisches Erbe er vielleicht angetreten hat. Unterdessen habe ich drei weitere CDs von ihm bekommen, nachdem bekannt geworden war, daß ich bisweilen nicht nur Opernaufführungen, sondern auch Schallplatten für die FAZ besprach. Das ist nun aber, scheint’s, Geschichte: Seit ebenfalls zwei Jahren habe ich dort keinen Vorschlag mehr unterbekommen. „Last Spring“ war einer davon. Und nun hat mich der Umstand des sich andeutenden Jahreszeitenwechsels die CD wieder vornehmen lassen, nicht aus Absicht, nein, sondern aufgrund eines – läßt sich das schreiben? – kollektiven Instinkts. Kraggeruds und Wesseltofts Einspielung sind Musiken voll einer Wehmut derer, die wissen,was kommen wird, aber sich nicht dagegenstemmen, sondern aus dem Wechsel und dem Vergehen eine Süße destillieren, Essenzen dieser Süße, weshalb sie ihnen nirgendwo zu Kitsch wird, sondern beide lauschen den Klängen in konzentrierte Strenge nach – und wir, das macht es spannend, ihnen immer voraus. Es ist alles andere als eine Erwartungserfüllungsmusik, vom Klangkosmos selbst einmal abgesehen, der für den Norden, wo er kompositorisch berühmt wurde, typisch ist, zu denken an, siehe ECM, Jan Garbareks Ansatz, der sich leider in der Pop-Esoterik verklebt hat, zu denken auch an Arvo Pärt, mit dem es ähnlich ging. Hingegern bei Wesseltoft und Kragerud nirgends „gefüllt“ wird, sondern die Klanglinien bleiben deutlich Strich, die Wehmut ist ein Reisig, aus dem noch Blätter sprießen, nicht vom Pinsel getuscht, sondern jede Kontur mit einer Stahlfeder gezeichnet: Man spürt den kleinen Schmerz des Papieres, durch das die Ritzungen laufen. So, möchte man meinen, entstehen Fältchen erst, dann Falten in unserem Gesicht, wir merken es ja kaum, sehen aber eines Morgens in den Spiegel und erschrecken leise, weil wir alt geworden sind. Auch wenn die CD „Last Spring“, vergangener Frühling, heißt, so i s t er eben doch vergangen. Das stimmt uns traurig, froh aber zugleich, daß er war. Hier wird zurückgeschaut. Bei Hermann Hesse fand ich gestern >>>> ein Gedicht, das etwas davon ausdrückt:(…)

Stille gehen wir die alten Wege
Durch das grüne Land der Kindertage,
Und sie werden uns im Herzen rege
Fremd und groß wie eine schöne Sage.

Ach, und alles, was auf uns mag warten,
Wird den reinen Glanz doch nimmer haben
Wie vorzeiten, da wir noch als Knaben
Falter fingen, jeden Tag im Garten.

Musik hat allgemein den Vorteil, inkonkret sein zu können, weshalb sie nicht so schnell historisch wird und sich dann nur noch historisch akzeptieren läßt; ihre Begriffe, nämlich der Klang, sind von vornherein zeitlos, nein, besser: überzeitlich. Deswegen lächeln wir nicht gönnerhaft, wenn wir sie anhören, auch nicht, wenn sie aus vergangenen Jahrhunderten stammt; im Gegenteil kann ihr das eine besondere Wahrheit verleihen. Guter Musik, auch und gerade bei alter ist das spürbar, haftet eine nicht-naive Objektivität an, die Hesses Gedicht heute schon, einhundert Jahre nach seinem Entstehen, abgeht; sowohl von „Kindertagen“, geschweige „unbeschwerten“, können wir so wenig mehr sprechen wie von „Knaben“, wir müßten denn ironisch sein. Wesseltofts und Kraggeruds Musizieren, indessen, bleibt von solcher Ironie frei, von solchem Selbstdistanzieren; zugleich, indem es eben den Strukturen ihrer, und das s i n d sie, Melodien streng vorauslauscht, verkleben sie nicht im Sentiment. Am deutlichsten, gerade auch für den hörenden Laien, zeigt sich das am letzten Stück der CD, nämlich an Wesseltofts und Kraggeruds Interpretation des >>>> Wiegenliedes von Johannes Brahms, in das hineinzulauschen etwas von >>>> Scelsis de nature sonoris bekommt: Die Natur des Klanges-selbst erfassen. Das ist wirklich großartig, insgesamt, und um so mehr, weil sich in allen eingespielten Stücken die Stärken fest notierter Musik mit denen des Improvisierens – still, nie aufgetrumpft – so eng umfassen, daß sich vom Hörer gar nicht mehr hören und deshalb auch nicht sagen läßt, was denn nun außer einer Melodielinie vorgegeben war. Und so geschieht der Abschied. Ich habe, nein… e r, mein Instinkt, hat diese Schallplatte vorgeholt, weil sie vom Frühling zwar erzählt, doch so, wie sich ein Herbstlaub seiner erinnert. Wenn wir den Märchen glauben möchten.

(Zum Wort „Platte“ noch ein Wort. >>>> Büning, die ich bekanntlich sehr verehre, sagte mir am Telefon, auch das ist lange her, sie wolle in der FAZ die Rubrik „Schallplatten“ auch als Namen erhalten wissen, weil die CD wie das Vinyl Platte eben a u c h sei. Ich habe das seither in meine Sprachgebräuche übernommen.)

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So immer anders, schrieb ich oben. Morgencigarillo. So immer anders beginne ich dieses PP, h a b e es begonnen, mit einer Schallplattenkritik anstelle des Latte macchiatos, über den ich aber auch schon lange nicht mehr schreibe. Sehen Sie, ich las einen Namen, aber nicht nur er hat mich wehmütig gemacht, ein wenig nur, Sie müssen, liebe Freundin, keine Sorge haben. Ich hab mich mit dem Herbst arrangiert. Wurde auch Zeit, nicht wahr?, bei meinem Namen. Auch wenn ich in sechs Tagen noch einmal in den Hochsommer aufbrechen werde, dessen Luft auch noch morgens warm und dick sein wird wie atmosphärisches Gelee und die Sonne hautgnadenlos und heftig, so daß ich wieder Glatze brauche, weil ich mich gleichfalls heftig zeigen will. Sie dürfen aber nicht vergessen, ich selbst sollte es nicht, daß es um ein Sterbebuch gehen wird, in das ich endlich hineinfinden muß. In Berlin will mir das nicht gelingen.

[Bugge Wesseltoft & Henning Kraggerud, Last Spring.
Noch einmal, 7.08 Uhr.]
Das liegt auch an den „Umständen“. Gestern abend versetzte mich M., mit dem ich das Stereoproblem des neuen Musikcomputers beheben wollte und der den ganzen Tag über, bis zum späten Abend, nicht auf meine Nachfragen reagierte. Wie gesagt, ich kenne das von ihm. Überhaupt zeichnen sich, Freundin, fast alle meine Freunde durch eine sagen wir „afrikanische“ Beziehung zur Zeit aus, indessen ich selbst zu formalistisch bin, um nicht, wenn ich zu spät komme, geradezu beklemmt zu sein. Vielleicht sucht mein auch unbewußtes Freiheitsstreben genau deshalb solche anderen Menschen aus und liebt sie dafür. Dennoch heißt das nun, daß wir die Problembehebung auf heute abend verschieben mußten, was wiederum bedeutet, daß ich eine andere Verabredung absagen muß. Das ist schade; auch wird die andere Freundin, Freundin, darüber traurig sein. Doch ein nächster Abend vor Italien ist einfach nicht mehr frei. So immer anders, als wir planen. Und die Anlage muß „stehen“, wenn ich zurückkommen werde, dann geht’s scharf arbeitsteilig voran: nachmittags bis in die Nacht das neue Hörstück, morgens der Roman ff. Und zwischendurch immer mal wieder die Gedichte. Vor Italien sind noch die ersten Gespräche mit den Sprechern zu führen, die ich aber auch noch nicht bestimmt habe, ebenso wenig, wie der Termin im >>>>Hauptstadtstudio schon ausgemacht ist. All das geht auch erst, wenn Klarheit mit der Redakteurin besteht; wegen der Umbauerei meines Arbeitsplatzes, diesmal, habe ich das nötige Gespräch noch immer nicht geführt, wurde auch nicht angerufen. Die Initiative liegt wieder einmal, offenbar, bei mir. Aber schauen Sie einmal, liebe Freundin, wie schön mein Arbeitsplatz geworden ist. Zwei Tastaturen, untereinander fast wie Manuale einer Orgel: Das bereitet mir eine besondere Freude. Näher, meine Musik, zu Dir.


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6 thoughts on “So immer anders. PP 208, 13. August 2014: Mittwoch. Mit Wesseltoft und Kraggerud.

  1. Norwegian Woods. Auch über eine zweite, nunmehr “neuere” Platte von Act möchte ich schreiben und werde das in den nächsten Tagen tun:

    Vielleicht haben gerade sehr persönliche Anmerkungen zu Musikaufnahmen eine Qualität, die ich in der nun verlorenen FAZ gar nicht umsetzen könnte, weil “allgemeine” Normen dagegenstehen, wie Kritiken auszusehen hätten. Insgesamt geht es ja darum, Normen in einer sich zunehmend total normisierenden Welt mit Stil und Liebe zu unterlaufen. Daß wir dafür dann kein Geld bekommen, ist sozusagen die Strafe, die uns die Popwelt auferlegt.

    1. Eben das Elegische empfinde ich als so berückend. Und der Verzicht auf jegliche Percussion ist für meine Ohren geradezu befreiend: Durchlaufende Beats sind Vergewaltigungsversuche – wohlgemerkt: nicht als bisweilige Stilmittel, sondern in ihrer Permanenz. Alle haben sie etwas vom Stechschritt.

    2. Abgesehen@diadorim von dem schnell einsetzenden BummBumm, das ich nur manchmal, nämlich wenn verzerrt, nicht albern finde, ist das Stück ganz nett:

      Aber a bisserl langweilig halt, weil musikalisch zu voraussehbar. Mit der, wie Delf Schmidt gern sagt, Speckseite nach den Leuten geworfen.

      (Ich hoffe, daß die Verzerrungen nicht an meinen leicht defekten Baßlautsprechern liegen; die neuen werden in England grad gebaut.)

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