Muri. Seconda Ameriana. Sonntag, der 16. August 2015. Nach Weißer Nacht ein stiller Tag/wartet, nunmehr bedeckt, auf den Regen.


[>>>> Traumschiffs Kaminplatz,
8.23 Uhr]


Schrieb ich es schon einst? Nahezu jede Mauer, jede Wand hat hier den Charakter eines Materialbildes vom Emil Schumacher; oft ist kein Unterschied von Außenwand und Mauer; dazu gehören die Stellen, an denen mit anderem Steinwerk geflickt wird. Auf diese Weise erhält sich hier Zeit, erhält sich Geschichte; daß etwas gleichförmig sei, wie es die deutschen oder insgesamt nordeuropäischen Putze sind, ist kein Wert; Schmuckheit stellt sich anders her und wird zur Wohltat für die Augen, die an Glätte abschmieren würden und ja tatsächlich abschmieren. Gleichförmigkeit ist ein ästhetisches Laster, Ausgewogenheit seelischer Untergang. Auch daß an vielen Orten die schweren Kabel offenliegen, meist hochgeführt – wie in Tokyo, doch dort aus Erdbebengründen, hier aus Improvisation, die liegenläßt, warten läßt, und irgendwann geht man‘s an. Das hat Nachteile, etwa in der verläßlichen Zuhandenheit, manches funktioniert nicht immer gleich oder so, wie man‘s will. Kalkulierbarkeit ist ein minderer Wert, vielleicht sogar Unwert, weil sie Freiheit reduziert.
Der Abfluß der sehr schönen Marmorspüle ist defekt. In Deutschland riefe man sofort den Klempner. Hier wird ein Lebens-Ja daraus: Wir nehmen zwei Plastikschüsseln, die wir später, nach dem Abwasch, entleeren. Es macht dies kaum einen Unterschied zu früher, nur daß wir halt mal mit den Schüsseln durch die Wohnung spazieren, entweder in der Badewanne abwaschen oder aber, so meine Vornahme, draußen im Cortile auf der metallenen Brunnenbedeckung.
Die grüne Holzeinfassung des Portals bräuchte gelegentlich einen neuen Anstrich. Wir scheuen ihn, scheuen uns: Es ginge etwas verloren. Abermals Geschichte. Auch ist das Holz des Portals über Renovierbarkeit längst hinaus: allein, es abzuschleifen, ließe sein Material zerstieben. Und wissen wir denn, wie viele Lebewesen es längst birgt?
Wenn wir in Berlin durch die renovierten Straßen gehen, ein saniertes Haus an dem andern, wie erlösend ist‘s, steht da noch ein altes, eben nicht saniertes. Modofotograf:inn:en haben um diese Wirkung immer gewußt, Fotografen schöner Autos auch. Die Arkadendecke im Kreuzgang des längst säkularen Zwecken dienenden Chiostros Boccarini zeigt noch ebenso Spuren ehemals durchgehender Fresken wie der obere Schaftbereich der Säulen. Man könnte hergehen, um die Malereien wiederherzustellen. Aber was ginge dabei verloren! Wir gewinnen im improvisierten Zustand die Gegenwart von Zeit: Sie hat nur mal drübergehaucht, und wie wenn wir selbst es an Fensterscheiben tun, die dann beschlagen, löst sich der Hauch wieder auf. Wie wir selbst.
Es war klar, daß mein gestriges Gedicht, an dem ich von morgens bis abends gearbeitet habe, diesen Hauch zum Thema hätte, war mir klar, schon als wir in die Bianca notte zogen: wie das junge Mädchen fast unversehens alte Frau ist, die Nässe vertrocknet, alles eindörrend, aber immer neue Nässe wird, anderswo halt, doch ungebärdig wie je, und daß wir selbst, der Freund und ich, wie alte Männer zusehn – ich wollte es fassen, wieder einmal fassen, so, wie man rahmt, so, wie Edelsteine gefaßt sind, um die man sich bezeichnenderweise umbringt, um sie zu haben: sich zu erhalten nämlich, wo zu halten in Wahrheit nichts ist, jedenfalls nicht, was man „eigentlich“ meint.
Mag sein, daß es ein Risiko ist, daß ich den noch unfertigen Text schließlich eingesprochen, auf >>>> das neue Video aufgesprochen habe, aber wenn ich Vergänglichkeit im Blick habe, in der Seele, wenn ich nicht abwehren will, kommt es auf solche Risiken an.
„Man merkt deine Pound-Lektüre“, kommentierte abends der Freund, der nicht ganz einverstanden mit dem Text war oder immer noch nicht ist; er sprach von „vermittelter Wahrnehmung“, einer Wahrnehmung von der Metaebene, die nicht mehr in dem Geschehen ist. Ich entgegnete: „Doch. Es ist sogar mehr in dem Geschehen als die unmittelbare Wahrnehmung derer, die einfach nur dabei sind und sich mittreiben lassen.“ In mir wirkt die Empfindung von sich realisierenden Allegorien. Es ist egal, ob die jungen Frauen es wissen: in manchen Momenten sind sie, ganz wie das Gedicht erzählt, Afroditen. Afrodite ist durch sie hindurch, kleidet die Hülle ihrer Häute aus. Es sind dann nicht mehr ihre, der jungen Frauen, Organe: Genau daraus beziehen sie die Macht ihrer Lockung: die „rein“ physiologische Maschinerie vermöchte das nicht. Neu für mich war, daß ich dasselbe bei den jungen Männern wahrnahm.
Fremdheit erweitert den Blick.
Genazino fiel mir ein. „Der Schriftsteller“, hat er mir vor Jahren gesagt, „steht beiseite und sieht zu.“ Ich hab mein Leblang das Gegenteil getan, war immer mitten drin, wollte nicht zusehn, schon gar nicht „Chronist“ sein. Entsetzliche Vorstellung. Doch hier, und in Paris neulich auch, wo ich die Sprache nicht spreche, schon gar nicht in der Feinheit und Präzision meiner deutschen, bin ich aufs Zusehn verwiesen. Der Freund wollte tanzen, ich sollte tanzen, aber dann, täte ich‘s und begänne ein wie auch immer nonverbales Gespräch, begänne der Tanz der Körper, ich käme an eine Schwelle, und zwar schnell, die sich nicht überschreiten ließe. Und die Tür fiele zu. Denn ich bin nicht gemeint und kann auch nicht gemeint sein.
Darum hielt ich mich zurück. Nicht dazuzugehören ist ein altes Gefühl, das ich seit Kindertagen auch in Deutschland habe, oft, sehr oft, das sich aber vermittels Sprache überwinden läßt. Nur vermittels Sprache.
Hier nicht. Nirgendwo außer daheim.
Es öffnete sich ein Grabloch, in das ich lebendig fiele.
Also sah ich zu. Und da hat Genazino recht: aus solcher Fremde läßt sich mehr erkennen. Nebenbei: jede Mediation weiß das, jede Supervision. Es gilt nur im Gedicht: zugleich das Dabeisein herzustellen. Ich versuchte es über die Mythologie, der hierzustadts naheliegenden klassischen. (Amelia ist älter als Rom).
Nachts, vorgestern, zog der Freund dann noch einmal hinaus und hat tatsächlich bis halb vier Uhr morgens getanzt. Ich hätte ihn behindert, aber blieb nicht deshalb hier, sondern weil es mir wichtig zu sein schien, psychisch wichtig, mich meiner Fremdheit zu stellen, sie in gewissem Sinn auszukosten, um aus dem Getrenntsein ein Instrument zu schnitzen oder schmieden, wie man nun will, das mir den Ausdruck schärft.
Der Lärm war enorm. Direkt unter meinem Schlafzimmerfenster die Band, die Boxen auf Anschlag aufgedreht, die Musik nun wirklich nicht meine. Omnipräsent das Schlagzeug, das alleine deshalb so laut auf uns eindrischt, und immer im selben Grundbeat, um uns kollektiv zu machen – aber das ist ein anderes Thema. Ich dachte: Ergib dich. Andere hätten gesagt (und sagten): So kann keiner schlafen. Doch. Man kann. Ich konnte. Mußte mich nur ergeben, sackte im Krach schließlich weg und erwachte an einem so ungeheuer stillen Morgen, daß ich den Blick aufs Plätzchen fotografierte, als wäre Stille ein Raum oder Objekt, die sich ansehen ließen:


Erstaunlich auch, wie, wenn das Fest bis mindestens vier Uhr morgens ging, nach vier Uhr morgens die Abfälle weggefahren, die Bänke und Stühle und Stände, das Podest, die Boxen, alles weggeräumt worden sein müssen; ich erinnere mich an Rufe und Lasterchenröhren im Traum. Und schaue in einen Traum. Wozu paßte, was sich der Freund und ich gestern nacht angeschaut haben:

That you have but slumber’d here
While >>>> these visions did appear.

Purcells The Fairy Queen in einer zur Gänze mitgeschnittenen Inszenierung der Oper Kapstadt, mit sehr wenigen weißen (etwa dem Dichter, der hier zum Esel wird) und sehr vielen schwarzen Darstellern, die teils die Dialoge in ihrer eigenen Sprache sprechen. >>>> Ganz wundervoll: .

Und vorher las mir der Freund eigene Übersetzungen, >>>> etwa Hölderlins, ins Italienische vor. Er hat sie ausgedruckt.

Jetzt aber wieder an Die Brüste der Béart; ich bin ein wenig in Verzug, hätte gestern abgeben müssen, aber dachte mir erstens, ich halt‘s all‘Italiana, und zweitens is‘ ja Wochenende: vor Montag kann mit den Texten ohnedies nix passieren.

Heute abend, übrigens, gibt‘s mal wieder einen unkomplizierten Clip. Die Netzverbindung ist wacklig; die letzten beiden Videos haben nahezu drei Stunden benötigt, bis sie hochgeladen waren. (Ich brauche ein besseres Schneideprogramm und wahrscheinlich, auf Dauer, einen erheblich leistungsfähigeren Laptop; schon jetzt nerven mich die Grenzen, an die ich immer mal wieder stoße.)
A.

(Es regnet still. Der Täuberich gurrt. Gurren. Das Wort gurren: als plusterten sich dreifach gerollte „r“s. )

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