Sit tibi terra levis: Decima Ameriana – alla romana. Geschrieben am Mittwoch, den 26. August 2015.


[Traumschiffs Kamintisch,
9.37 h]


Roma empfing mich vollkommen still
Selbst an Stazione termini gähnten die Binari | halb neun schon war ich da
trat hinaus
Schwüle Wärme, wie erhofft, leichte Wolkenbedeckung zwar, doch schon quetschten Sonnenstrahlen
durch, und auf der Repubblicà nahmen lethargisch die Antiquare das Holz von den Ständen
mein Klima, zumal immer wieder ein Wind von den Bergen herzog
so gut wie kein Verkehr, gut, Römer auch nicht
nur Esquilina schwarz belebt, dreivier Gassenzüge südwestlich des Bahnhofs schwarz wie Paris mit dem einsamen Hadj meines Sonnenbrillenlädchens, der aufsah von seinem Minikoran wie wenn ich ihn störte, Scusisignore, cherco questo modello, essatto questo modello (mein nur noch einbügliges Ochialidelsolegestell ihm zugehalten): Hamma nich: er in den Bart (auch der zu Rot gefärbt, mindestens zweimal schon Wandererkommstdunachmekka)
aber ich lasse nicht nach, fange selbst an zu wühlen: mindestens tausend Modelle, nebeneinander, wie die Ware halt kam, noch in den Päckchen, nur oben je den Deckel abgerissen
inschallah nimmt der den Blick von den Sur‘chen, vielleicht kriegt er mich los, wenn er mir hilft
braucht keine Minute, ecco!
Vier Exemplare such ich mir raus, zwei schwarze für den Normaltag, eine braune, weil meine andre braune auch schon kaputtging, und eine, das nenn ich Snobismus, für die beiden hellgrauen Anzüge
quanto fanno lo stesso come nel anno scorso come sempre dal, almeno, Giubileo – was nu‘ fuffzehn Jahre her is‘ (seither ist in der Stadt nicht ein einziges Pornokino mehr sichtbar, schon gar nicht sind es die Porno-ja!-hallen, in denen die Römer zeitungslesend oder leis diskutierend einherschritten, bevor sie zurück in die Säle flanierten (an den dunkeln Seiten immer einzwei Nutten auf und ab) – immerhin, was die Sonnenbrillen anbelangt: das nenn ich mal Stabilität.
Sind nicht mehr viele drin in dem Päckchen; sie warten alleine auf mich offenbar. Vielleicht klappt es im nächsten Jahr noch einmal, vielleicht auch noch mal im übernächsten. Dann werd ich die Façon wechseln müssen
„Salam“, sage ich, bevor ich gehe, im michWenden
Er sieht verdattert auf, weiß nicht, ob ich eine Übertretung beging, als Ungläubiger, spürt aber auch eine Hand für den Frieden
schweigt
Jedes Jahr ist es so, es sei denn, einer seiner jugendlichen Gehilfen übernimmt den Verkauf
Früher gab es hier mehr arabisch-islamische Läden; die verbliebenen ziehen sich gleich gegenüber der Westmauer des langen, sehr langen Bahnhofs hin und bieten fast alle nur Speisung
Schwarzafrika, mitten drin das kleine gallische Lädchen des Hadjs. Doch wirklich nur drei Gassen weiter ist fast der gesamte Rione chinesisch, auch jede Bar (also jedes Café), was den Espressi aber nichts nimmt, nichts den Cornetti; ich habe eher den Eindruck, sie sind hier besser als in den römischen Bars, vor denen die Touristen sitzen
die es heute auch kaum gibt; sie ballen sich nur, doch selbst da nicht wie sonst in Kilometerlänge, an den dafür sowieso verdächtigen Orten, zum Beispiel vorm Colosseo, wo heute Gladiatoren stehen, die irgendwie keine Zuschauer haben: niemand will sehen, wie sie sich die Arme abhacken, echt niemand. Sie nehmen die Helme von den tiefgebräunten Köpfen und kratzen sich ratlos die Glatzen, sind wiederum davon zu müde, um ihre Kurzschwerter zu polieren, die aber doch in dieser Schwüle ganz bestimmt Rost ansetzen werden.
Ich mußte zum Colosseo, weil ich für mein >>>> ANHsTfT Aufnahmen brauche; irgendwann werde ich in Berlin die AlmaPicchiola-Erzählung einsprechen.
Da grüßt mich ein Wolf, der aus seiner Wasserstele lugt und möchte, daß ich von ihm trinke.
Drei Autos fahren über die riesige Chaussee, unter ihnen ein Bus. Ich habe sie gezählt, war nicht schwer. Am hohen Bauzaun entlang. Roma bekommt eine dritte, man faßt es nicht, Untergrundlinie: LINEA C, bald wird man öfter mal umsteigen können, nicht nur an Termini. (Dagegen an >>> Châtelet zu denken, das sich bei soziologischem Interesse [Pariser Reiseverhalten in den permanenten Völkerwanderungen von aber kurzer Dauer] für lange Expeditionen unbedingt empfiehlt, schon der neuen Ethnien wegen, die dort im Dunkel entstehen).
Vorher war ich auf dem „nuovo“ marcato Esquilino, um nach Tintenfischen zu sehen, auch Austern hätt ich gerne – gibt‘s auch, aber ers‘ma‘ will‘ch wissen, wie lange die Fischstände offen haben (will ja nicht in der Sonne die gärenden Leiber mit mir tragen).
Bis drei, dassis prima.
Der Inder glaubt mir nicht, daß ich wiederkommen will. Fast alle Fischhändler sind hier Inder. Die Gemüsehändler fast alle auch. Hinterm zentralafrikanischen Rand das ganze Reich der Mitte römischer Cafékultur, und Indien gleich an der Mauer. Die Italiener verkaufen in den umlaufenden Hallen vor allem Schuhe aus Neapel um den dreifachen Preis. Ein Schwarzer versucht zu feilschen und rennt sich die Stirn ein. Denn er kann von dem Schuhpaar nicht lassen.

Romas Düfte.
Erwärmte Koniferen. Dazwischen Kernseife, immer wieder. Jemand tritt aus dem Haus, das Kind an der Hand, und riecht nach dieser aseptischen Seife.
Pasticcerie.

Die Bassariden von Henze ab Oktober in der Oper Rom. („ab Oct“ notiere ich und notiere dazu: „in die Gedichte meine Privatabkürzungen übernehmen“, ubw z.B., oder daß ich „Über“ nie ausschreibe, sondern bloß, zweites Beispiel, „Ue“, wenn ich „Übersetzung“ meine; mir selbst sind diese Kurzformen später oft kryptisch); La Traviata in S. Paul‘s Within the Walls; geht aber erst um 8.30 h los, da trink ich schon längst wieder Wein in Amelia
Romas Düfte…

Zum Campo Cestio (L’antico cimitero per stranieri non cattolici), >>>> Helmut legte‘s mir nah, Piramide (halb senkt sie sich in den Friedhof hinein), mit meinem „BIRG“ hab ich die Fahrten von und nach Orte und sämtliche Öffentlichen Verkehrsmittel frei, grad zwei Stationen von Colosseo entfernt, ich erkenne den Platz: hier bin ich früher im Autowühlen immer abgebogen, wenn ich nach Fiumicino wollte.
Acht Autos heute, ich hab sie gezählt (auch unter ihnen ein Bus); immerhin fünf Vespe, aber, romungewöhnlich, nacheinander. – Viereinhalb Touristen in zwei Gruppen. Man erkennt Touristen prinzipiell an ihren Kopfbedeckungen; haben sie keine auf, erkennt man sie an den Shorts unter zu dicken Bäuchen und über zu dicken Beinen. Sie tragen auch gerne Birkenstocks- ob man „Schuhe“ dazu sagen kann, darüber bin ich mir uneins. Aber zu Schuhen nachher eigens noch, ich lache noch jetzt.
Als mir der Engel begegnet, Böcklin über und vor ihm. Zypressen sind unheimliche Bäume, sie zeigen alle zum Himmel, die Krone ist ein Zeigefinger, der mit seinem Duft hinauflockt. Pinien dagegen schützen uns vorm Himmel, passen auf, daß wir im Anblicken Zeus‘ nicht verbrennen. Pinien betten uns den Boden. (Noch ein Bild: Im nun „gesäuberten“ Park der Piazza Vittorio, bei den Chinesen also, allerdings hinter Gattern, schlafend Obdachlose – viele, auffällig viele, ohnedies in Rom. Aber hier hat einer auf dem Rasen ein Bettlaken, ein richtiges Bettlaken, ausgebreitet. Darauf liegt eine richtige Bettdecke, Daunen, bei dem Wetter, und ein Kopfkissen. Und zwischen Laken und Decke, den Kopf auf dem Kissen, liegt er selbst und schläft. Auch ihn schützen Pinien, an deren Stämmen andre Obdachlose, doch auf Pappen, liegen. Ich spür es sofort: Stünden Zypressen statt dessen dort, der Mann wäre lange schon tot.)
Als mir der Engel begegnet.
Ich kannte ihn, eine Frau, herzklemmend schöne Frau. >>>> Isolde Ohlbaum schenkte sie mir, für das Titelbild der Fenster von Sainte Chapelle:


Konnte ich ahnen, daß er mich herlocken würde? Daß sie mich herlocken würde? Ich habe solch eine Grazie nur sehr selten als Steinfigur gesehen, bei Klinger etwa, sonst fast nie: wie die Bewegung Stein ward!
Man kann sich in Engel verlieben. Das habe ich gestern gelernt. Man bekommt sie nicht mehr aus dem Herzen und weiß das. Und man beginnt, traurig zu werden und zu begreifen, was Umumkehrbarkeit bedeutet. Denn ich werde der Frau, die dieser Figur das Modell war, niemals begegnen. Sie ist ja schon tot seit 1895, und vielleicht ist das Urbild ja selbst nur eine anima mea Orfea gewesen. Außerdem gibt‘s keine weiblichen Engel.
Ich liebe diese Sohlen, die Arme, liebe den Schwung der um sich gelegten Flügel. Es ist etwas anderes, vor der Figur wirklich zu stehen, ihrem ungeheueren Eros, als eine Abbildung zu betrachten. Meine Güte, ich habe gar nicht gewußt, was mir die Ohlbaum auf mein Buch geprägt hat, wie präzis sie offenbar wußte.
Ihnen nur ein Detail:



Hätte ich hiervon vorhergewußt, ich hätte doch nie, nie, n i e ! keine zehn Meter davon weg in einen Busch gepinkelt. Gut, es war niemand außer mir da, und außer dem Gärtner, der es nicht anders halten wird, wenn‘s ihn drückt –
Ich hätte weinen können vor diesem Engel, nicht der Pinkelei wegen, die hätt ihn wahrscheinlich sehr amüsiert, sondern schönheitswegen weinen, darüber, daß es so etwas gibt, vor Dankbarkeit, daß ich es sehn darf –
Und es war alles so ruhig.
Abgesehen von den Zikaden.
Sie jubelten.
Der Pinienduft stand in der Luft wie ein verdunstender, mit Weihrauch aromatisierter Honig.
Jenseits der Umfriedung stritten sich Möven.
Immer mal wieder brummte oben ein Flugzeug.
Sogar bisweilen war ein Mopedhupen zu hören.
Manche Verkniffenheiten, Béart, Deiner Lippen.
Du müßtest diesen Engel sehen.
Ich besuchte noch die Gedenkplakette für Axel Munthe und legte ein klitzekleines Steinchen drauf.
Ich war erschrocken, als ich vor August Goethens Grab stand, ich war auch angeekelt, erbost über so viel Unmenschlichkeit. Nicht einmal seinen Namen hat ihm der Schatten seines Vaters gelassen. GOETHE FILIVS steht auf dem Stein PATRI ANTEVERTENS OBIIT ANNOR[VM] XL / MDCCCXXX. „Dem Vater vorangehend“, immer ihm nachgehend –
Wie du hießt, ist uns völlig egal | sei vergessen.
Aber wenn du nach links schaust
tu‘s mal
Vielleicht daß diese Frau, daß dieser Engel, anima mea Orfea – nachts zu dir spricht und du schlüpfst zu ihr unter die Federn? dahin sie den Vater nie nähme? –
soll der bei seinem Gretchen bleiben oder unter der Stilettospitze der Königin von Saba –
autsch
muß zurück zum Mercato, Fisch kaufen, blutigen Fisch kaufen,
küß Dich, Emilyn Story
paß mir auf Böcklin auf, Orfea
ah! nun d o c h etwas Verkehr! – und gut, daß ich im Sommer immer ein Handtuch über der Schulter trage, es duftet so nach meinem Schweiß, eiweißig etwas, drei Piniennadeln haben sich drin verhakt | und ich laß sie

(War noch im Palazzo delle esposizone, banalreligiös überhobener Popkitsch
wär halt auch gern ein Künstler | doch bleibt wasser is‘
David Lachapelle
Erzjackson Michael
paar witzige Schwänze unter der Sintflut, auch diese Stümpfchen von Dicken
fotorealistische Fotografie surrealbombastisch aufprogrammiert
drei Säle voll von diesem Zeug
ich brauchte dringend Blut
dieses Fischblut
und daß die Händler drin | bis zu den grünen Gummischuhwaden waten)

„Wie?! Siebenundzwanzig Euro für acht Austern???“
Er gab mir schließlich drei für drei.

Und dann, noch zwanzig Minuten, dann fährt mein Zug, sah ich

ich lache noch jetzt | einen Priester

dunkel im Habit | im Nacken die Kapuze
saß da und tippte ins Handy
vatikanisches Facebook & Chucks an den Füßen
gelbe, zitronengelbe Chucks –
„shoes are boaring“ las ich in Kapstadt
und sah auf den Knöcheln der Convers den Heilige Stern:
Sacerdoti, dimentichiamo i sandali!

So also nicht nur verliebt in die ruhige Roma, sondern erheitert | verließ ich ihre Pinien.
Schrieb im Zug >>>> dieses Video schon.

Der kleine Wagen brütete auf dem Parkplatz.
Fenster runter. Kurven fahren.

„Ich wollte vor dem Wein zurücksein.“
Der Freund ging, um ihn zu entkorken.

„Wir essen eine Dorada nachher und eine Spigola. Dazu blanchierter Spinat. Und zur Vorspeise Austern. Die Totani hier sind für morgen.“



*



Nun noch die letzten fünfeinhalb Tage:



5 thoughts on “Sit tibi terra levis: Decima Ameriana – alla romana. Geschrieben am Mittwoch, den 26. August 2015.

  1. “Gedichte ohne Worte”: Auf die Idee kam ich, als ich, zurück am Kamintisch, begriff, ich bekäme auf keinen Fall mehr rechtzeitig den Text geformt, der mir während der Zugfahrt durch den Kopf gewalzert war, und ich war in Druck, wenn >>>> das Video noch heute (also gestern) pünktlich veröffentlicht sein sollte. Anfangs spielte ich noch mit dem Gedanken, einfach tatsächlich aus dem Notizbuch vorzulesen, Fragmente, dann legte ich die Bildspuren an – und begriff dabei, daß ich die Sprachgeschehen in mir drinlassen mußte und genau das über das Bild zu vermitteln war.
    Da es nun von Mendelssohn die berühmten “Lieder ohne Worte” gibt, wieso sollte es nun nicht neu auch “Gedichte ohne Wörter” geben? Diese Idee gefiel mir dann so ungemein, daß ich sie an den Anfang einer ganzen Serie stellen wollte und dies nach wie vor will, ja heute vormittag noch viel mehr will als gestern nacht.
    Das Ding ist, zugegeben, eine Frechheit – aber eine hochkomische und dazu noch voll Poesie. (Übrigens, je öfter ich mir das Video nun ansehe, um so unheimlicher wird es aber auch; vielleicht geht es meinen Leser:inne:n ähnlich. Woran das liegt, weiß ich noch nicht.)

  2. Engel Ist es wirklich so, dass Sie nicht wussten, dass dieser Engel in Rom ist und dass sie ihm nun unerwartet begegneten? Schon wegen der Pariser Reiseerzählung “die Fenster von Sainte Chapelle” hätte ich ihn auf einem Pariser Friedhof vermutet. Per Zufall besitze ich Ohlbaums Buch “Denn jede Lust will Ewigkeit”. Einige ähnliche Engel sind darin, doch dieser nicht. Seltsame Fügungen gibt es.

    1. @Cellofreund. Ich wußte es tatsächlich nicht, hätte vor allem solch eine Figur nie auf einem – im weiten Sinn – protestantischen Freidhof vermutet.
      Daß Sie Ohlbaums Buch ‘per Zufall’ besitzen, allerdings, möcht’ ich bestreiten, und zwar so und/oder so.

    2. Per Zufall? Es ist so ähnlich wie mit dem Naym Lap, einer kleinen goldenen, einen Inka-König darstellenden Skulptur. Eine Freundin, Ines Scheppach, Bilderzeichnerin von Beruf, malte ihn mit Millionen kleinen Bleistiftstrichen ab, dazu auch so, wie sie ihn sich als wirklichen jungen Mann vorstellte. Nicht viel später kam in die benachbarte Halle, nur wenige Meter von dem Entstehungsort der Zeichnung, eine Ausstellung: das Gold der Inkas. Und mit dabei war die kleine Goldskulptur, die Ines nur nach der Vorlage einer Fotografie abgezeichnet hatte. Als wolle Naym Lap dorthin, wo man sich so sehr mit ihm beschäftigt hatte.
      Sie glauben mir schon, dass ich das Buch von Ohlbaum besitze. Aber Sie glauben nicht, dass es Zufall ist. Wer weiß. Im November 2008 gefiel mir wohl der Titel-und ich bestellte es. Seither schaue ich es mir gelegentlich an, deshalb hatte ich es mit einem Griff.
      Diese Skulpturen beeindrucken mich sehr. Vielleicht, weil man mich einmal, als ich 8 war, morgens um 6, bei Gewitter sogar, auf den Genueser Friedhof Staglieno schleppte.

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