Testamentische Beiz. Das Arbeitsjournal des Sonnabends, dem 10. Oktober 2015.


[Arbeitswohnung, 7.45 Uhr]

Irgendwie hat meine Beschäftigung der vergangenen und weiter vergehenden Wochen etwas von einem Testament, das man eben nicht schreibt, sondern montiert, bzw. einiges von einer, sagen wir, >>>> Vorlaßverwaltung, also einer in Lebzeit vorgezogenen Nachlaßorganisierung, für die es allerdings kein Geld gibt. Dennoch, wenn ich so >>>> an den alten Texten herumwerkle… zumal ich mir gestern und vorgestern die Neunte Elegie vorgenommen habe; das >>>> Video werde ich heute abend oder heute nacht einstellen; ein reizvoller, finde ich, Kontrast zu den frühen Arbeiten; meine „Neunte“ ist ja schon voller Abschied, die Gymnopédies waren voll Aufbruch, aber bereits diese Elegie, also daß ich sie anfing, liegt schon wieder neun Jahre zurück. Gut, ich habe an ihr und den anderen zwölf fast fünf Jahre lang gearbeitet. Meine Sterbeelegie, passend zum nun >>>> Sterbebuch.
Erst um sieben aufgewacht; „na ja“, sagte die Löwin am Telefon, „du warst komplett besoffen gestern nacht“. Wovon ich jetzt erst, beim Latte macchiato am Schreibtisch, was merke. Sich drehendes Blut. Tatsächlich zwei Flaschen Wein neben dem Stuhl am Boden, immerhin eine noch halb voll. Aber ich hatte mir gestern eine Flasche Billig-Scotch geleistet, sie in eine Glaskaraffe umgefüllt, um den Absturz vom Malt nicht auch noch sehen zu müssen, und auch der zugesprochen.
Übrigens ist „Vorlaß“ das Wort für das Federspiel an der Köderattrappe sowie für die toten oder lebenden Tiere, die man einem >>>> Beizvogel vorwirft, >>>> las ich gerade. Was läßt sich daraus für die Dichtung schließen? Für Stauferfriedrich II habe der Falkner als Menschenführer-Vorbild gegolten: de arte venandi cum avibus ist eine Regierungslehre. Ich meine, bei uns die Straßen sind ziemlich sicher; die Leute gehen zur Arbeit und haben ihren Feierabend. In aller Regel können sie uneingeschränkt, selbstverständlich je nach Wohlstand, konsumieren. Das is‘ was. Nehmen wir an, ein Straßenmusiker bekommt in der SBahn je Station/Waggon 50 cent in seinen Becher und, weiter spekuliert, die Fahrtzeit von Station zu Station beträgt im Mittel zwei Minuten, dann hat er einen steuerfreien Stundenlohn von 15 Euro; bei acht Stunden täglich kommt er auf 120, mal zwanzig Arbeitstagen (auch er hält die Wochenenden beschäftigungsfrei) ergibt das 2400 Euro. Imgrunde eine ziemlich gute Alternative: ich könnte probieren, sowas mit Gedichtvorträgen, ja, im öffentlichen Nahverkehr, zu tun. Vielleicht auch immer ein paar Bücher zum Handverkauf dabeihaben. Vom Ertrag abzuziehen wäre lediglich die Investition einer Monats-, bzw. irgendwann Jahreskarte.
Vor allem könnte ich dieser Tätigkeit auch auf Lesereisen nachgehen, meinethalben in Karlsruhe: Komm ich da an, dreh ich noch vor der Lesung meine S- und UBahnrunden. In Frankfurtmain genauso oder in München, wo ich aber Lesungen blöderweise nicht kriege, sondern eher noch irgendwann sogar ein direktes Stadtverbot über mich verhängt werden wird.
Jedenfalls habe ich mich gestern abendnacht auf diese meine Berufszukunft schonmal gehörig eingetrunken. Und die Sonne scheint; es könnte heut ein Lauftag werden.

(Wenn man das Wild mit dem Greifvogel beizt, dann beißt man
es mit dem Vogel, also (indogermanisch bheid) spaltet
es vom Leben ab; so auch altindisch bhinátti: zerstört es,
trennt es vom Leben.)



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