Als wir noch dachten. Zweites Buchmessen-Arbeitsjournal: Donnerstag, der 15. Oktober 2015.


Noch tiefnachts eingestellt:



[MöFe Sachsenhausen, 6.12 Uhr]
Das geht ganz gut, dreieinhalb Stunden Schlaf.
Nachts, nach >>>> Lesung erst und dann, im Städel, Empfang und intensivem Gespräch, durch die schwarze Nacht schreiten in Frankfurts ödstes, aber aus jeder Ritze rufende Gebiet direkt südseits des Bahnhofs mit Lektorin und Freund, sie zur Pension zu bringen, die er, die Pension, einen Waschsalon nennt, und sie, die Tür, schließt sich, wir schreiten weiter. Auf der Brücke stellt uns ein Taxi, „man kann das gehen ja, aber es zieht sich“, so sind wir in Schreiten & Schritt überzeugt; ich bezieh noch die zweite Bettgarnitur, Do auf der Lesung erklärte sofort, wo ich sie fände. Einschlafen dann, ein banges Tier, das sich einrollt und auslauscht, bevor der Schlaf es hinwegnimmt.
Konzentrierte Lesung, die ersten beiden Abschnitte, die erste Begegnung mit dem „Besuch“, Gygis alba und Gilburn dann, der Text ein leises Fluten, Anfluten, vorsichtig Heben und Senken und Heben, schlimmes Mißgeschick und Lindern, erste Apotheose unter der laufenden Dusche, hinüber ins Stotantomale, schließlich noch einmal im Buch, für ein letztes kurzes, zurück: Wolken mit feinen Wasserhosen über dem Meer:: der grollende Neck. „Du hast mich melancholisch gestimmt“, sagt eine Freundin, „ich kann das Buch noch nicht kaufen, brauch erst wieder Abstand.“ Der Applaus war anhaltend lang. Meine Löwin kommt erst, als ich schon lese, und geht, sowie ich geendet habe, es ist wie Hineinwehen, Wehe & wehn.
Überhaupt, Oberländer und ich haben das anschließende Gespräch grad beendet, ist der kleine Saal um Nu geleert. Dreivier Bücher signiert. Erster Gang durchs dunkle Frankfurt, erstmal zum Städel, es gibt noch zu essen. Aber steril ist es dort. Nora Bussong schweift herzu, gibt mir die Hand, wir sagen Hallo, sie schweift davon. Alles ein wenig irre, aber ich habe über den gesamten Tag schon sehr viel getrunken, was freilich nur ich selbst mir anmerke und was ich der Welt anmerke, die um mich ansteigt und sich absenkt und wieder ansteigt. Dazu der Lektorin leise Lesungskritik: Bitte nichts erklären. Stehen lassen. Wirken lassen. Die Bilder sind ganz für sich, brauchen dich nicht mehr. Gib ihnen Raum. Doch war das Gespräch direkt nach der Lesung meine Idee nicht gewesen. Andererseits versuche ich noch immer zu vermitteln, was einer Vermittlung vielleicht gar nicht bedarf; Elvira M. Gross hält sie sogar für verfehlt.
War gut, s e h r gut, wie sie mit meinem Verleger sprach. Es gibt so etwas wie eine innere, rein innere, eine gewissermaßen zurückgenommene Autorität, und zwar aus intovertierter Leidenschaft. Ich beobachte es staunend, hatte paar Stunden vorher, meinerseits leidenschaftshalber, einen Rüffel bekommen: „Nimm dich mehr zurück. Das kannst du nicht machen!“ Mein Temperament. Ich wende ein: aber in Italien. Er: Wir sind nicht in Italien, sondern in Deutschland.
Leisetreterland, besser nix sagen. Einmal mehr das Gefühl, und von Anfang an, falsch hingeboren zu sein. Für ein ganzes Leben falsch auf die Koordinaten gestellt: nur in der Sprache nicht im Exil sein, und in der Musik. Es gibt von Othmar Schoeck ein Jubellied für seine, die deutsche Sprache, das ich liebe, seit ich‘s zum ersten Mal hörte. Und daß ich es nicht mehr singen dürfte, ohne daß ich sogleich als ein Rechter gülte (gülte? ja, gülte). Aber Daniela Danzens Satz: „Ich bin dankbar, in der Sprache Hölderlins schreiben zu dürfen.“ Wie beneidete ich sie um die innige Naivetät solcher Wahrhaftigkeit! Manchmal sage ich mir diesen ihren Satz leise vor, wie eine Selbstermahnung, die zugleich ein Verbot ist und aus der ich aber nicht hinausfliehen, etwa ins Englische, kann. Ich habe keine Sehnsuchtssprache außer der meinen. Mit keiner anderen werde ich jemals mehr so tief in sie hinabtauchen wie in die der Leisetreter, noch daß ich‘s wollte. Meine Sätze winden sich ineinander, die Grammatik wird weich. Ich bin eine Wunde, so wie sie wund. Die pragmatische Decke, das pragmatisch-funktionale Plaid, das ich tags über mich ziehe, ist dünner als es aussieht. Man denkt: Ui, was für eine dicke, dichtgewobene Wolle. Und irrt sich.

Um zehn ein Interview am Stand. Osttirol. Komisch.
Abends Verlagsessen.
Dazwischen.
Dazwischen.
Ich muß den Text für Graz fertigstellen.

Webern, zweite Bagatelle. 1980, eingangs dieses Journals. Als wir noch dachten: die Welt, die W e l t!

3 thoughts on “Als wir noch dachten. Zweites Buchmessen-Arbeitsjournal: Donnerstag, der 15. Oktober 2015.

  1. othmar schoeck klingt halt schonmal etwas >deutsch< – bajuvarische nazi-idiomatik ala seehofer/söder, also nebst bayernslang, der hier nicht.
    nun, das dirndl ist ästhetisch, ästhetischer ist doch das kopftuch generell, weil kleidungsstück, das mehr verdeckt als dirndl, gell.
    je mehr kleidungsstück, desto ästhetischer kleidung.
    ich liebe ästhetik fern von design umd klammotte : den nackten körper.
    das ist ästhetik.
    ästhetik des widerstands gegen prüderie.
    deutsche ( wie überhaupt ) sprache ist der witz, die realität ist nackt.

    1. @jane doe zu “deutsch”: Othmar schoeck klingt halt schonmal etwas >deutsch<Stimmt. Aber Zappa, Dylan u.a. klingen alle schonmal etwas sehr >US-amerikanisch<, finden Sie nicht? Und Jacques Brel hat unheimlich französisch geklungen. Übrigens hat auch Schubert schonmal etwas >deutsch< geklungen, Hannes Wader darin zum Verwechseln ähnlich. – Wobei, Schoeck war Schweizer.

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