Deus ex vagina: Friedrich Nikolai Herbst. Im Arbeitsjournal des kühlnassen Dienstags, dem 26. April 2016. (Friedrich bei Stern, 4).



Oft erschrak ich (wenn auch nur formelhaft
auf eine anerzogene Weise) über die Kürze
des Weges in mir zwischen Hoden und Hirn.
Daß er nun immer länger zu werden beginnt,
das macht mich frösteln: Es berührt mein
innerstes Wesen.

Friedrich II in seinen Fünfzigern.
>>>> Bei Stern, 168.


[Arbeitswohnung, 10.05 Uhr]
Längst keine Frage mehr, daß er für mich eine Identifikationsfigur ist, deren Mythisches mir Stern allerdings um die Ohren haut, und zwar ziemlich. Auch wenn ich mir die historischen Usancen abziehe, bleibt ein gerüttelt Maß überschüssiger Grausamkeit. Bezüglich Friedrichs Sohnes Heinrich läßt Stern ihn, Friedrich, dies auch selbst erkennen, und solche Szenen im Buch legen sich mir, einem Vater eben a u c h, sehr auf den Magen:So gewann ich die Fürsten wieder und verlor den Sohn aufs neue. Heinrich kehrte nach Deutschland, ich nach Apulien zurück. Natürlich – und das heißt: nach der Natur eines Sohnes, der im Schatten eines übermächtigen Vaters verdorrt – wurde er im Ungehorsam rückfällig: die einzige Möglichkeit für ihn, nicht an jedem Spiegel vorbeisehen zu müssen.Stern baut hier ein Gewebe psychologischer Einfühlung, die des politischen Kalküles Handeln zugleich übertrampelt, auch weil man sie für den Beginn des hohen Mittelalters an sich nicht voraussetzen kann; genau darin aber besteht dieses Romanes poetische Kunst.
Also je weiter ich lese, wiederlese, desto mehr rücke ich abermals von meiner eigenen Romanidee ab, auch wenn ich neulich dachte, und es so äußerte, möglicherweise lasse sich gegen Stern bestehen, wenn ich die Wolpertinger- und Andersweltpoetik der verschliffenen, bzw. sich im Textprozeß verschleifenden Räume, zumal auch auf die Zeiten übertragen, wiederaufnähme. Jeder zweite oder dritte Absatz bei Stern verunsichert mich aber, zumal meine politische Grundidee, nämlich einen europäischen Roman zu schreiben, einen proeuropäischen in scharfer Abgrenzung gegen die USA, sorgsamer Wiederannäherung aber an den Orient, die Gefahr birgt, in >>>> Kantorowiczs Idolisierung zurückzufallen, bei der – sein Buch erschien 1927 – heiklerweise noch hinzukommt, daß mit Friedrich die Kyffhäuserlegende verknüpft ist, wenn auch für Hitler mehr mit Friedrich I, Barbarossa also, als mit II, der sich wegen seiner quasi toleranten Haltung zum Judentum für den Nationalsozialismus kaum eignete.
Wahrscheinlich brauche ich, wie seinerzeit für Thetis, „nur“ einen ersten Satz, aus dem das Folgende geradezu notwendigerweise, das heißt „wie von selbst“, vegetativ heraustreibt. So geschah es in vielen meiner Erzählungen, ja Bücher.
Also ich weiß noch nicht.
Mein Respekt vor Sterns Buch ist riesig. Auch deshalb will ich in Der Dschungel, >>>> wie heute früh, immer weiter aus diesem Friedrich zitieren. Es ist doch wirklich erstaunlich, wie nahe manche seiner Äußerungen meiner Poetologie kommen. Und das Zitat hierüber, ganz oben rechts, tut sein übriges. So gnadenlos auch, mit sich selbst, beschreibt er die schwindende Spannkraft seines Körpers – bei gleichzeitig durchgehaltener sozusagen Askese: „Dabei nehme ich, weil ich es so gewohnt bin, am Tage nur eine Mahlzeit ein (…), die ich im Sommer kurz vor Sonnenuntergang, im Winter natürlich später halte. (…) Und jeden zweiten Tag nur Wasser. (…) Wer wie ich durch jahrzehntelangen Umgang mit Falken und Habichten weiß, daß diese Vögel nur auf dem Weg über einen vollen oder einen leeren Kropf vom Menschen zu benutzen sind, der hütet sich, in die Abhängigkeit der Kochtöpfe zu geraten“ oder – kocht besser selbst, und backt. Denn „Das Einfache ist einem Fürsten nicht immer zur Hand“ – a u c h so eine in ihrer stillen Trefflichtkeit grandiose Volte Sterns.
Jedenfalls müßte „mein“ Europa ein auf den Geistraum ausgeweitetes sein, weil sein physischer Raum sich nicht mehr in Wochen oder gar Monaten, sondern in wenigen Stunden durchmessen läßt, will sagen: „mein“ Friedrich würde Auto fahren und das Flugzeug benutzen und hätte große Schwierigkeiten, freie Beizareale zu finden; wahrscheinlich wäre er längst auf die Vereinten Nationen aus.
So denk ich hin und her.
***

Thomas Findeiss‘ Ahmeti ist, fünf Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung hier in Der Dschungel, nun >>>> als eBook erschienen. Der Text hat seinerzeit viel Zuspruch genossen. So ist es mir eine doppelte Freude, sein Erscheinen annoncieren zu können, auch wenn ich ihn lieber noch in gedruckter, konservativ gebundener Form vorliegen sähe. Aber ich habe, wenn auch mehr oder minder am Rande, die Widrigkeiten mitbekommen, die sie verhindert haben; Ärgerlichkeiten sind es, die allerdings ziemlich gut, was „schlecht“ bedeutet, in die Zeitläuft’ passen.
***

Nicht aber denken bitte, Sterns Friedrichroman, das verhindert den meinen nämlich noch mehr, sei in sogenannter einfacher Sprache geschrieben – etwas, das schnell annehmen wird, wer hört, der „Mann aus Apulien“ sei sofort ein Bestseller gewesen (was er war und wohl immer noch ist). Nein, es gibt prosaexperimentelle Passagen darin, die weder Joyce noch Broch nachstehen, etwa die berührende Liebeserklärung an Bianca Lancia auf Stern, Mann aus Apulien, 79:
Kopf und Körper umstellt von hastig beiseite geschobenen Bechern mit Wein und Schalen voll Obst. Das aufgeschlagene Gewand der Liegenden und die absurde Beinkleidfesselung des stehend Fleisch weidenden Gottes. Der aus leeren Brüsten getrunkene dionysische Rausch und das lustvoll nahe Ersticken am lebenden Fleisch. Der schreilösende Stoß in die Mitte flehend aufgehobener Schenkel und der Rückzug gegen den Willen sich saugend anschmiegender Lippen. Das Kalkül der Lustbereitung im Ungewissen von Frequenz und Tiefe des Eindringens. Das rasende Verlangen nach Füllung. Der schmerzhafte Drang nach Entleerung. Der stumm schreiende Mund. Das peitschende Haar. Die flatternden Lider. Die fleckige Rötung von Schultern und Hals. Hände um Brüste. Die Gier nach Bedeckung der eigenen mit des anderen Haut. Der Sturz in Arme. Das Erschrecken der Kerzen, Das Klirren von Glas. Das Kommen im Gehen vom Wir zum Ich. Das scheue Lächeln. Die Bedeckung der Leiber und der Seelen. Die Rückkehr des Denkens und der müde Spott: Deus ex vagina.

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