„… diese Art heidnischer Gnade“: Mana & Sirenen. Das Arbeitsjournal des Sonntags, dem 26. Juni 2016.



Betrachtet man Adornos Interpretation
des Sirenenmythos im Einzelnen, fällt an
ihr als eigenwilliger Zug auf, daß sich in den
Sirenen Rechtsansprüche aus der Vorzeit gel-
tend machen.

Sebastian Soppa,
Der Sirenenmythos in der >>>> Dialektik der Aufklärung
in: Eickmeyer/Soppa, >>>> Umarmung und Wellenspiel


[Arbeitswohnung, 11.45 Uhr
Wagner, Lohengrin, Aufzug II Ortrud/Telramund (Kempe 1974)]

Des >>>> Fürsten von Lampedusa vorgestern, auf Deutsch freilich, gelesene Erzählung „Die Sirene“ (>>>> „La sirena“) schloß alte Denk-, eigentlich sogar Instinktwelten wieder auf: „Erschauerten einst die Wilden vor einer geheimnisvollen, übernatürlichen Macht in der Natur, dem Mana, unterwirft sich das positivistische Weltbild selbst gesellschaftlichen Tatsachen als Unabänderliches, gleichsam naturgegebener Ordnung. Soziale Fakten nehmen einen schicksalshaften, herrschaftlichen, dauerhaften Anstrich an. Damit ähneln sie der sich ewig wiederholenden Natur im mythischen Naturbild“ (Soppa 288). Denn selbstverständlich habe ich nachgesehen, ob die Erzählung des Fürsten in >>>> Eickmeyers/Soppas Wasserfrauenbuch vorkommt. „Gegen das traditionelle Verständnis des Odysseus als einen alle Widerwendigkeit der Welt überwindenden Heroen wendet sich Ute Guzzoni. Sie radikalisiert Adornos Interpretation, indem sie den ganzen Sirenenmythos für falsch erzählt hält. Weil der Sirenenmythos zur Etablierung eines Vernunft-Sinnlichkeits-Chorismus beiträgt, hat er Anteil an der für die abendländische Geistesgeschichte folgenreichen Trennung von vernünftigem Subjekt und sinnlicher Objektivität. Dadurch entsteht eine Distanz zur Welt, die weiblich-intuitives Wissen genauso ausschließt wie das Vernehmen des Sich-an-ihm-selbst-zeigenden, eine Entsprechungshaltung zum Weltspiel, durch die Heidegger den Vostellungen der abendländischen Subjektivitätsmetaphysik entgehen wollte.“
Interessanter-, auch bezeichnenderweise steht im Lohengrin der große Dialog Ortrud/Telramund eben für die oben zitierten „Rechtsansprüche aus der Vergangenheit“. Ortrud vertritt sie gegen das christlich/monotheistische Sich-die-Welt-untertan-machen. „Odysseus entzieht sich der Fesselung an die Natur durch eine neue Fesselung – an sich selbst“ (Soppa 293). In >>>> Argo hebt nun „meine“ Sirene, also die >>>> Lamia Niam Goldenhaar, diese Fesselung auf: Ihrer Gattung gemäß reißt sie den Anderswelt-Odysseus, nature strikes back. Dagegen sagt Ligäa, des Fürsten Sirene: „Du gefällst mir – nimm mich. Ich bin Ligäa, die Tochter der Kalliope” (!) “. Glaube nicht an die Märchen, die man über uns erfunden hat; wir töten niemanden, wir schenken nur Liebe“ (Tomasi di Lampedusa, 38).
Sich auf das Erzählen der Geschichte durch Mythen (wieder) einzulassen, sie zu reaktivieren, wie die Trilogie meiner Anderswelt es tut, bedeutet einen Widerstand gegen die rationalistisch/utalitaristisch/funktionalistische Totale, mithin auch gegen Selbstentfremdungsprozesse, bei doch gleichzeitiger, parallelgeführter Rationalität, die sich in der poetischen Konstruktion, besonders aber als sie zeigt. Dem Mythischen entspricht das Ähnliche, etwa die gleitende, aber nie zu tatsächlicher Identität gelangende Überführung von Lamia in Nymphe in Sirene: das, was ich >>>> „Flirren“ genannt habe; ebenso entspricht ihm mein Konzept von Allegorien. Und Kunst wird entscheidend: „Die Vorbeifahrt des Odysseus an den Sirenen ist die Geburtsstunde der Kunst (…): Die Begegnung von Odysseus und den Sirenen markiert die Wegscheide, an der Kunst und Gesellschaft sich trennen. Der Kunst wird keine Auswirkung auf die Lebenspraxis mehr eingeräumt. Sie kommt in Reservate“ (Soppa 294/5). Hiergegen habe ich mich immer angestemmt: „… und dann scheint mir, ich habe gemerkt, daß es dir – wie es bei einigen Sizilianern der besten Art vorkommt – geglückt ist, die Synthese von Sinnen und Vernunft zu verwirklichen“ (Die Sirene 31).
Kein Zufall also, daß mich Sizilien >>>> so sehr besetzt hat – nicht Zufall, sondern innerer Zusammenhang, Psyche und Welt. Lauschst du nach innen, hörst du das Draußen: Bloch. „Ich bin alles“, sagt Ligäa, „weil ich nur fließendes Leben bin, und nichts als das; ich bin unsterblich, weil aller Tod in mich einmündet; von dem des Stockfisches von vorhin bis zu dem von Zeus; in mir vereinigt werden sie wieder Leben, das nicht mehr persönlich und begrenzt ist, sondern panisch und daher frei“ (Die Sirene 42).


(Deutsche Übersetzerin der Sirena:
>>>> Charlotte Birnbaum)


Mir wurde bei meinen Lektüren klar, wie innig nach wie vor meine ästhetischen Überzeugungen mit Adornos Denk- und Wertebewegung verwandt geblieben, eben nicht nur von ihnen beinflußt worden sind, und auch, wenn ich seine schließlich ebenfalls der Dialektik anheimgefallene Negativität als indirekte Weitervertretung der Hoffnung nicht mehr teile, zumindest eben auch hier die Totale aufzuheben versucht habe, weil ich glaube, daß der völlige Verzicht auf „Schein“ annorektisch, schließlich pathologisch annorektisch-masochistisch ist und schließlich nichts als den Tod favorisiert, ja ihn unwillentlich idealisiert (das „Verschweigen“, das „Verstummen“ usw.), auch dann also, wenn ich entschieden für den ästhetischen Synkretismus eintrete, lassen sich meine Widerstände, die das Ausmaß von Widerwillen, ja Ekel haben, gegen das, was ich Pop nenne, nicht nur sinnlich aus meinen persönlichen Jugenderfahrungen herleiten, sondern theoretisch nach wie vor von Adornos und teils auch Horkheimers Analysen. Mein Widerwille fand in ihnen eine bis heute von niemandem widerlegte Begründung. Sie ist in meinem Werk Poetik geworden, und zwar auch wenn er selbst, Adorno, sie ganz sicher abgelehnt hätte. Ich glaube an ein poetisches Zugleich. Die Dinge bewegen sich so nebeneinander wie miteinander verbunden; nur die Hinsichten trennen – notwendiger-, nämlich praktikablerweise. Ohne solche Praxis könnten wir nicht überleben, wir können es aber auch nicht, wenn wir sie totalisierend internalisieren. Auch darum das Flirren.
Der alte Widersacher aller Kunst: der Satz von Ausgeschlossenen Dritten. „Dieses sinnenfrohe Mädchen, dieses grausame kleine wilde Tier war auch eine höchst weise Mutter gewesen: sie hatte allein durch ihre Gegenwart Glaubensinhalte entwurzelt, metphysische Schwärmereien zerstreut; mit ihren zerbrechlichen, oft blutigen Fingern hatte sie mir den Weg gezeigt zu einer ewigen Ruhe, auch zu einer Askese im Leben, die nicht aus dem Verzicht kam, sondern aus der Unmöglichkeit, künftig andere, geringere Lüste anzunehmen.“ Als ich diesen von m i r kursivierten Satzschluß las, war es, als begriffe ich schreckhaft-staunend mich selbst.


„Ich werde (…) diese Art heidnischer Gnade, die sie mir gewährt hat, nicht zurückweisen“ (Die Sirene ebda).

Nun will ich arbeiten, wahrscheinlich werde ich heute eine Sportpause einschieben, denn ich bin erst um neun Uhr aufgestanden, so daß mir mindestens drei Arbeitsstunden fehlen. Ich will die Gedichtsammlungsversion des „süßen Schmerzes“ nun endlich letztmontieren, damit die Texte hinausgehen können. Ein längeres Skypegespräch mit Freund C. pochte darauf, auch wenn er auf meine Mitteilung, daß >>>> Dielmann in diesem Herbst den >>>> Wolpertinger neu auflegen will, ebenso mit Skepsis reagierte wie tags zuvor die Löwin. Mir selbst ist es wichtiger, daß dieses Buch nicht nur mehr übers Moderne Antiquariat, sondern eben auch wieder als reguläre Neuausgabe greifbar ist, als mich in meinen Klagen über ärgerliche Verlagsusancen einzuigeln, mit gespreizten Stacheln.
Überdies ist endlich zum >>>> Tristan der Deutschen Oper zu schreiben, ein Rückblick, der ästhetisch voranschaut. Und an den Böhmer/Béarttext ist zu gehen.

ANH, 13.47
(unterbrochen durch Gespräche)


[22.06 Uhr]
Die Tristankritik fertigbekommen; sie wird sich morgen sehr früh automatisch in Der Dschungel einstellen und ab dann also zu lesen sein.

Jetzt: Wein.

3 thoughts on “„… diese Art heidnischer Gnade“: Mana & Sirenen. Das Arbeitsjournal des Sonntags, dem 26. Juni 2016.

  1. @anh; der graf von lampedusa ist mit seiner wirklich berückenden “sirenen”-geschichte in “Umarmung und Wellenspiel” präsent, allerdings in der weiterführenden bibliographie am ende (in Ihrer ausgabe wohl s. 308), die ausdrücklich für neugierige (weiter-)Leser gedacht war.
    wir konnten damals schlicht keinen romanisten in unserem umkreis finden, der einen beitrag über La Sirene liefern wollte.
    hätte ich Sie damals schon gekannt, ich hätte ganz sicher angefragt. aber vielleicht ergibt sich ja noch eine gelegenheit…

    besten dank jedenfalls für den hinweis auf das gute alte stück,

    A.

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