Altmütterlein Herbst: Nach der WSK. Das Arbeitsjournal des Freitags, dem 1. Juli 2016. Mit Paulus Böhmer, ff.


[Arbeitswohnung, 12.28 Uhr]

Alles halb so schlimm. Aber so soll ich hier sitzen, wenn ich arbeiten will (ob ich eine Krankschreibung brauchte, fragte mich die Arzthelferin):


Das Tuch drückt einen Eisbeutel an die Wange. Zwei Stunden kühlen, eine Stunde nicht kühlen, zwei Stunden kühlen, eine Stunde – undsoweiter über den Tag und auch morgen noch.
Jedenfalls war’s meine erste WSR, eine Abkürzung, die für „Wurzelspitzenresektion“ steht. Die kleine OP beginnt mit zwei Spritzen, dann wird das Zahnfleisch eingeschnitten und hochgeklappt und der Zahn von der Seite aufgebohrt, bzw. -gefräst. Danach wird der verwesende Wurzelspitzenrest herausgenommen und der Zahn von unten bis hoch zur intakten Füllung abgesägt, bzw. -geschliffen. Dieser Vorgang findet quasi im Kiefer statt. Bei mir mußte noch zweimal ein wenig „nachgespritzt“ werden; allerdings hätte sich der Schmerz auch ohne diese Maßnahme aushalten lassen. Dennoch geriet ich in Schweiß.
„Da is’ es!“ rief die Zahnarztschwester aus, als der Arzt das zweite Zahnstück aus der Wunde zog.
Jetzt mußte nur noch desinfiziert, dann die Wunde genäht werden – ein Vorgang, der mich restlos faszinierte. Vier Nähte wurden es. „Wie tun Sie das ohne Nadel?“ fragte ich, und er erklärte: „Die neuen OP-Fäden sind mit einer kleinen Nadel schon verschweißt.“ Er hob einen der Restfäden aus dem Papierbecher, in dem auch die blutigen Tabs und die entfernten Zahnstückerl gelandet waren. „Sehn Sie?“ In der Tat, ein vielleicht einen Zentimeter langes Rundnädelchen.
Meine Güte, dieses Geschick! Allein schon, mit Klammer und Pinzette zu nähen…
Jetzt soll ich aber eben so am Schreibtisch sitzen, als albernes Altmütterlein. Und bis morgen soll die Wange gewaltig anschwellen, übermorgen noch ein Stück mehr; erst dann bilde sich die Schwellung, bis etwa Mittwoch, zurück. Am Donnerstag werden die Fäden gezogen. Ibuprofen 600, falls es zu weh tun sollte, dreimal eine täglich. Stört mich alles nicht.
Wohl aber stört mich das Sportverbot: zehn bis vierzehn Tage sieht die „Patientenaufklärung“ vor. Es ist ziemlich sicher, daß ich mich daran nicht halten werde. Und auch in die pralle Sonne soll ich nicht, was nun wirklich sadistisch ist. „Kann auch sein, daß Sie morgen eine Art Kiefersperre haben. Also stellen Sie sich auf weiche Nahrung ein. Kann bis zu drei Tagen dauern.“
Soweit mein „OP“-Bericht. Bislang gibt’s keine Schwellung, auch keinen Schmerz, aber noch ist links die halbe Unterlippe gelähmt, und der vordere Zungenlappen hat bislang nur noch rechts seinen Tastsinn. Bis das vorbei ist, soll ich nichts essen, weil ich nicht merken würde, ob ich mir auf die Zunge beiße.

Die Böhmerzitate hab ich nun alle zusammen und auch schon mit ihrer Montage begonnen. Seit sechs Uhr bin ich auf und sitze daran, mit Unterbrechung halt wegen des Zahnarztbesuchs. Von >>>> allen Büchern Böhmers ist mir >>>> „Am Meer. An Land. Bei mir.“ das allerallerliebste, wohl weil nahste:


Es stehen Verse von teils beklemmender Schönheit darin.



Wir waren, Füchsin, für das Dunkel gedacht.
(…)
Und weil es wunderbar ist. Und eines ist
die Sehnsucht der Liebenden, das Fühlen des anderen zu fühlen,
ein anderes ist, das Fühlen des anderen zu sein.


*

[15.39 Uhr
Nach ein wenig Mittagsschlaf]

Das hat mich nun gefreut: Der Wolpertinger steht eigens annonciert >>>> auf Wikipedias Hauptsite.

(Langsam läßt die Betäubung nach. ‚An sich‘ hätt’ ich Hunger.)

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