III, 274 – Wenn Rosen das Gegenteil von Rasen, rutscht er vom Hocker

Eine große Heuschrecke lag auf den Stufen, die zum Hof hinaufführen. Leblos. Nach dem großen Regen gestern war sie fortgespült. Wer weiß wohin. Sciroccoregen brachte sie wohl neulich. Auf der Windschutzscheibe feine Sandpartikel dann immer. Einmal ebenfalls so ein Riesending an der nach Süden gehenden Hauswand. Organisches inmitten des Anorganischen. Der Minibalkon, den wir hatten, war eher ein Proforma. Ganz zu Anfang, als wir dort in diese erste Wohnung einzogen, diente er immerhin als Loge für eine Polizeiszene unten auf der Straße. Ein Polizist fuchtelte rechtfertigend mit einem Beutel in der Hand in die Runde: Ecco! Wohl ein Drogeneinsatz. Damals.
Die Rosen, die Hosen, die Chosen. Sie, die Rosen, halten steif an ihren Hosen fest und wollen nichts fallen lassen. Sie trinken aber auch kein Wasser mehr. Der Pegel in der Prosecco-Flasche (“La Gioiosa” – Valdobbiadene (ich liebe dieses Wort: alle sprechen es in meiner Vorstellung falsch aus, so daß ich mir vorkomme als der Hüter der Aussprache (der Akzent liegt auf dem O (woraus sich auf Umwegen diverse Schlüsse ableiten ließen, denen ich aber kein A mehr geben mag))) senkt sich nämlich auch nicht.
Ich würde aber auch nicht wollen, daß es ihnen, den Rosen, wie dem Sägewerker in Bernhards ‘Kalkwerk’ ergeht, der schon auf dem Traktor sitzend seine Frau in den Schuppen schickt, um die Ketten zu holen für das Abschleppen der gefällten Bäume im Wald, und dann, als die Frau nach zwei-drei Minuten zurückkommt, tot neben dem Traktorsitz hängt. Sauggprosa.
Grad so wie im elften Kapitel, dem vorletzten, in Gurks Berlin-Roman. Wenngleich toute autre chose. Pure Saugprosa. Dichtung passiert, sonst nichts. Keine Alltagsepisoden mehr, nur Visionen.
Eine Karbidlampe stand fest an der Erde. Durch einen Schirm abgeblendet, schoß sie einen scharfen Strahl in eine einzige Richtung. In allen Winkeln saß prahlend die Dunkelheit. Zwei Gnome hockten am Boden. Die Schattenbewegungen ihrer langen Arme huschten gleich Fledermausflügeln durch den Lichtkegel der Lampe. Ein technisches Geschöpf fuhr auf und nieder, fast lautlos. Riesig, ein Dämon, stand die aufgereckte Gestalt eines Mannes.


gläserklirren, mir selbst fiel ungeschickterweise die kippe auf den fußboden, so daß ich kurz vom hocker rutschen mußte, um die glut zwischen schuhsohle und fliesen zu zerreiben. er selbst nickte kurz dem wirt zu und ließ dazu ein meckerndes „ja-a-a“ hören, als wollte er damit ein bonmot des kneipiers quittieren, das mir beim abwärtsrutschen entgangen war.

Von >>>>hier, mehr jedoch gibt’s nicht von Franz Gutbier.

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2 thoughts on “III, 274 – Wenn Rosen das Gegenteil von Rasen, rutscht er vom Hocker

  1. Gutbier trifft Gortzheimer.

    Ich habe mich – >>>> à propos >>>> Franz Gutbier – gelegentlich an Ähnlichem probiert; eines dieser Textchen findet sich >>>> in diesem Buch:

    Selzers Singen Titel

    Das Buch sei derzeit nicht verfügbar; dieser Umstand rechtfertigt es, das Texterl hier mal einzustellen.

    Also:

    Bornholmer Hütte

    „Ach je“, sagte Gortzheimer. „Ach je. Alles soll immer so schnell sein.“ Über der Theke lief grün und weiß ein Fußballspiel mit schwarzen Punkten. Gortzheimer war ein leicht untersetzter Mann in den frühen Fünfzigern, der sich seit ein paar Monaten nur noch alle sechs Tage rasierte: Das halte frisch, behauptete er. Tatsächlich schien er von Woche zu Woche jünger zu werden, offenbar im selben Maß, in dem er sich weigerte, weiterhin Fahrpläne, Öffnungszeiten, ja sogar Vorstellungsdaten zu akzeptieren. „Ich mag mich nicht mehr einspannen lassen“, erklärte er mir beim Bier1, „ich gehe ins Kino, wann es mir paßt.“ So stand er nun nicht selten vor geschlossenen Türen und mußte nach einiger Zeit unverrichteter Vergnügungsdinge wieder abziehen. „Lieber das“, sagte er, „als in der Schlange zu stehen und meine Zeit von anderen vergeuden zu lassen.“ Ob er nicht so sehr viel mehr Zeit verliere? Ich leckte mir Schaum von der Oberlippe. Man könne keine Zeit verlieren, erwiderte er ruhig, man könne sie nur gestohlen bekommen… Er lachte. Aber ich sah ihm an, wie unglücklich er im Tiefsten seines Herzens war.
    Es ging ihm, logischerweise, auch finanziell nicht mehr gut. Seine Einstellung zur Zeit hatte auf seinen Beruf übergegriffen, so war er ohne Arbeit seit fast einem Jahr. Und da er sich obendrein weigerte, amtliche Sprechzeiten zu akzeptieren, war er mittellos, – wenn man den kleinen Monatsscheck seines mittlerweile greisen Vaters einmal beiseite läßt, der doch selbst nur ein kleines Ruhegeld bezog. Ich konnte mir gut vorstellen, mit welch gemischten Gefühlen der aufrechte Mann – er war, hatte mir Gortzheimer erzählt, Vorarbeiter gewesen und wegen eines schweren Wirbelsäulenvorfalls frühberentet worden – in seinem Altersheim saß und in den Momenten, in welchen er Verzweiflung zuließ, den Kopf schüttelte.Hätte der Junge doch nur was Handfestes gelernt! Doch Gortzi – wie die Kumpels den alten Mann früher nannten – liebte seinen Sohn, auch wenn er dessen Ansichten mißbilligte, und unterstützte ihn also.
    Ich möge, sagte Gortzheimer, nur nicht denken, ihm gefalle das. „Ich hab mich mit dem Alten nur gestritten, er ist ein Geschwindigkeitsfanatiker, schon immer gewesen, Herbst, Sie glauben nicht, wie mich das schon als Jungen gequält hat! ‚Mach mal hin, Kerl!’, ‚Mär nicht so rum!’“ – Das habe, erzählte Gortzheimer, seine ganze Kindheit, seine ganze Jugend bestimmt. Und war sein Erwachsenenleben über wirksam geblieben. Gortzheimer war in der Werbung gelandet nach Studienabschluß, hatte zum creative team einer großen Agentur gehört… „doch wissen Sie“, erzählte er mir gleich am Abend unserer ersten Begegnung, „ich saß an meinem Schreibtisch, die drei flachen Bildschirme vor mir, Entwürfe, Druckpapiere, ein paar Notizen wegen Conny’s Schokoriegeln… nein nein, ich hatte den Slogan schon, es war wirklich nicht so, daß mir nichts mehr eingefallen wäre… aber mit einem Mal dieses Gefühl: Was machst Du hier eigentlich? Ich hielt mitten in der Arbeit ein, stierte durch die Bildschirme, saß, saß und spürte, Herr Herbst, ich spürte die Zeit.“ Er atmete durch. Nahm einen Schluck – er konnte, wie ich selbst – unfaßbar viel trinken, nur wurde er halt jünger davon. So kam mir das jedenfalls vor.
    Und jetzt, es war unsere achte oder neunte Begegnung – wieder saßen wir in der „Bornholmer Hütte“ gleich bei mir um die Ecke, – jetzt also hob er den Blick, der fast scharf wurde und sich auf irgend etwas an meiner Nasenwurzel konzentrierte, Gotzheimer brauchte das vielleicht als Halt, ich meine, wir waren bereits beim sechsten Halben. Er starrte und schwieg.
    „Ja?“ fragte ich.
    „Ich liebe die Zeit“, sagte er. „Sie ist das einzige, was ich gegen meinen Vater verwenden kann. Ich hab das viel zu spät begriffen. Ich muß wieder dahin zurück, wo ich erwachsen wurde.“
    Endlich begriff ich. Deshalb wurde er jünger. Jetzt starrte ich ihn an. Aber er war schon wieder in sich zusammengesunken und wirkte traurig, allerdings auf beinahe kindliche Weise. Ich konnte mir mit einem Mal gut vorstellen, wie er mit fünfzehn ausgesehen hatte, ja wie mit fünfzehn saß er nun vor mir: scheu und ein wenig ängstlich, fast unschuldig, ganz naiv. Und ich hörte, wie aus dem Zimmer nebenan der Vater rief: „Tempo! Tempo! Meine Güte! Muß bei dir immer alles so langsam gehen!“ Der Fernsehlautsprecher über der Theke grölte. Gorzheimer lächelte. Ich war ziemlich besoffen, als ich nach Hause ging.

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