Wo sind die Exhibitionisten hin? Das Arbeitsjournal des Freitags, den 15. Dezember 2017. Mit Christopher Ecker, Tadeusz Konwicki, Katharina Hacker, Hannes Wader, abermals Balthus, sowie der Église Saint-Gervais zu Paris.

[Arbeitswohnung, 7.45 Uhr
Villa Lobos, Bachiana brasileira VIII]

Heute, als er noch ein Kind war, erzählt uns Christopher Ecker von einem Gespräch mit seinem Teddybären, der dem kranken Jungen unerbittlich die letzte Konsequenz abverlangt, wenn auch nur in der Frage: „Aber weißt du auch, was du dann tun mußt?” Im Eimer neben dem Bett steht ein flacher Wassersee und wartet.
Die Miniaturen der >>>> Anderen Häfen haben also auch zarte, hier im Wortsinn, Seiten:

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Wobei ich >>>> die Diskussion von gestern durchaus noch nicht für abgeschlossen halte. In einem (un)gewissen Sinne tut >>>> Tadeusz Konwicki da nicht nur etwas, sondern einiges hinzu. Mit der Mâconière hatte ich gestern einen kurzen geemailten Wortwechsel zur Scham, für die wiederum >>> meine Eckerfrau zu einem Symposion gern einladen würde; ich erinnere mich, vor vielen Jahren auch mit >>> Katharina Hacker über sie gesprochen zu haben: als eine Notwendigkeit auch der erotischen Erregungen, ihre, so Hacker, conditio sine qua non. Wir könn(t)en daraus folgern, daß die Lust um so größer wird, je näher sie der Sünde ist. Werden Bilder wie Balthus‛ verboten werden, wird, sie zu betrachten, zur ungeheuren Sinnenerschütterung derer führen, denen es – wenn unter Strafandrohung zumal – gelingt. Auf diese Weise wird der Pädophile in den Himmel explodieren, ja selbst dem Busengrapscher ein Stückchen Seligkeit zuteil.
Erinnern Sie sich, Freundin, noch der Zeiten, in denen fast wöchentlich von Exhibitionisten die Rede war, die Zeitungen prallvoll mit ihnen? Das waren Leute, in aller Regel Männer, die außer einem Trenchcoat von Columbo gar nichts am Leibe trugen, und außer Schuhen, klar… – und dann, in irgendeinem Park, an irgendeiner Straßenecke, wenn junge Frauen oder gar Kinder daherkamen, diese von der Schule, öffneten sie ihn, also den Mantel, und zeigten ihr… wie soll ich‛s nennen, Ding? Möglicherweise stand es schon ganz statthaft und ward indes vom der ihrem Blicken Ausgesetzten Entsetzen nun erst so richtig prall.
Wo sind diese Exhibitionisten eigentlich hin? Ihnen galt die Volkssorge damals nicht minder als heute derFRauAlsSexualobjekt, nur gab es halt noch Twitter nicht. Es war eine richtige Mode, wegen der Exhibitionisten aufs allertiefste erschüttert zu sein (aus aller Tiefe).
Wie auch immer, die richtige Antwort, die einzig passable, hatte Hannes Wader parat. Da steht so ein DenPimmelZeiger, und die Kinder, die ihn – also beide, Pimmel wie Zeiger – auf der Straße besuchen, strecken die Händchen mit ausgestreckten Zeigefingern aus und fangen an zu lachen. Nicht nur die Jungs, die Mädchen selbstverständlich auch. „Waaas? Das da soll mal in mich rein?” Und schüttelt sich, und die Lachtränen kullern.Also ich verstehe das Elend der Exhibitionisten. Vor allem, wo bleibt ihr Raum, wenn wir heutzutage schon im Tatort, nämlich sogar am Sonntag Schwänze sehen können? allerdings nur baumelnde – so hätten sie denn noch eine Chance, vorausgesetzt, ihre Physiologie spielt mit, und daß es nicht zu kalt ist. – Weiß Göttin! welcher Exhibitionist müßte nicht auf den neuerlichen Anzug der Sitten mit höchster Freude reagieren?
Und wir, wir Künstler, werden wieder etwas wert! Heute, deshalb, anders >>>> als gestern, kann ich den Bildsturm der Hashtags nur bejubeln. Wenn ich ein Restaurant betrete, und wie ein Wind über Savannen, wie die Strömung über das Seegras raunt es sich von Tisch zu Tisch, flüsternd, wispernd, ergriffen von Abscheu und Begehren: „Da, sieh doch nur! ein Admirador!!!” Man wird da als Unhold richtig was wert.Meine lieben und bösen Geschlechtsgenossen: Wann zuletzt hattet ihr beim Betrachten eines Gemäldes eine Erektion? Hat Euch der Balthus tatsächlich erregt? Eher nicht, oder? zumal überall Sensoren hängen, und die Luftfeuchtigkeit wird kritzelnd überwacht (wer aufmerksam lauscht, vernimmt den Fingernagel über die schwarze Schultafel kratzen), am Eingang zu den nächsten Sälen steht ein livrierter Museumswächter, an den Ausgängen jeweils auch, möglicherweise darf man auch gar nicht nahe genug ran an das sowieso restlos musealisierte, also gänzlich desinfizierte Bild. – Da hingegen… Die Löwin und ich haben mal im gotischen Dunkel der >>>> Église Saint-Gervais, während vorne vorm Altar weißgekleidete Nonnen auf die Knie gingen, haben mal… nein, das führe ich nicht aus (indes in einen Roman, da sollte es hinein)… also haben mal: Punkt. Und der Singsang, das schwebende Wispern der gläubig in Jesu Versunknen, Versunkeninnen, umwehte kühlend unser hechelnd Atmen und füllte es mit ebender mystischen Transzendenz, die der Frauen und Männer Vereinigungen zu dem heiligen Akt machen, der sie sind. Dies läßt sich in späterem Alter fast nur noch über Perversionen erreichen.

Orte und Gelegenheiten wie diese sind rar geworden; jetzt werden sie wieder aus den gleichfalls raren Schatten sprießen. Ach, wer wie ich befürchtet hatte, das Anything goes des ökonomischen Primats habe Künste wie Sexus ihrer penetrierenden Stachel beraubt und der Empfängnis, der darf nun wieder hoffen. Ein neues Erschauern geht über Haut und Härchen der Welt, wie wenn uns, als wir noch ein Junge waren, zum ersten Mal ein Mädchen berührte, dort wo wir uns kaum selbst schon zu berühren wagten oder nur unter der Decke, wo wir es selbst nicht sahen. „Sie fallen rückwärts gegen einen rissigen, regennassen Baumstamm. Das Mädchen befindet sich immer noch in Lethargie. Witek löst den Mund von ihren halbgeöffneten Lippen. Er sieht ihr schrecklich blasses Gesicht, die geschlossenen Augen. Er will sie belebten, greift instinktiv in den Ausschnitt und fühlt sofort jene geheimnisvolle, wunderbare weiche Rundung, die betäubend duftende Wärme, die unglaublich schöne Rauhheit der Brustwarze. Er empfindet all das, was einst vor Jahren jeden jungen Menschen erschütterte.” (Konwicki S.161)
Erschütterung. Eben um sie geht es. Und um jene Kraft, die sie wieder ermöglicht, sie, die stets das Gute will und stets das Böse erst erschafft: >>>> die göttlichen Flügel der Sünde. O Freundin, wie riech ich – dabei hat noch gar nicht der Winter begonnen – F r ü h j a h r s l ü f t e !

Genießen Sie sie, genießen Sie mit mir!
ANH

[Villa Lobos, Sinfonia II]

 

6 thoughts on “Wo sind die Exhibitionisten hin? Das Arbeitsjournal des Freitags, den 15. Dezember 2017. Mit Christopher Ecker, Tadeusz Konwicki, Katharina Hacker, Hannes Wader, abermals Balthus, sowie der Église Saint-Gervais zu Paris.

  1. Dies hier ist ein Medium fast ohne Schranken, wenn du es nicht versuchst in Nordkorea zu öffnen und da klebt so viel Geld dran, ich frage mich wirklich, was Du befürchtest, da müsste man schon den Strom abdrehen. Es gibt die Exhibitionisten nicht mehr da draußen, weil sie hierhin abgewandert sind. Es ist alles noch da und in einem viel größeren Ausmaß als je zuvor, ich frage mich wirklich, was Du befürchtest, das ist ein Phantasma.

    1. Das wird nicht passieren. Du kannst umziehen, es gibt restriktivere Länder, da hackt man dir noch die Hände ab, wenn Du eine verheiratete Frau anfasst, ah ne, Dir passiert nix, sie wird man köpfen, wenn sie sich anfassen lässt, das zeichnet man auf und schickts weltweit über Youtube… so viel zu Grenzen und Perversionen.

    2. Man kann Umstände beklagen, aber beschreien muss man wirklich nichts, denn, der jetzige Zustand ist doch schon ein deutlich aufgeklärterer als zu Kaiserzeiten etwa, das lässt sich nicht mal so eben aus der Geschichte löschen. Wir haben alle mit vielen Freiheiten gelebt, so leicht lassen wir uns die alle nicht entreißen, wenn jetzt Frauen endlich mal öffentlich sagen dürfen, was ihnen zuwider läuft und sie stoßen dabei mal auf offene Ohren, ist das zu begrüßen, dass nicht einem ganzen Geschlecht alles gleich zuwider ist, auch klar, siehe Thea Dorn. Ich sehe von mir keine Gefahr ausgehen, ehrlich gesagt. Ich habe niemandem verboten, sich Balthus anzuschauen oder Bellmer, ich kann aber verstehen, was an ihnen stören kann, wie ich verstehen kann, dass einem Reiterstandbilder im Stadtbild irgendwie kurios vorkommen können inzwischen. Künste verändern sich ja auch. Für falsch halte ich, sie darum immer gleich zu entfernen, für genau so falsch halte ich aber, nichts Neues hinzufügen zu dürfen. Wir haben jetzt eine Sexismusdebatte und das ist zu begrüßen, was und wie sie etwas verändert, wird man sehen. Ich kenne viele Männer, die sie nicht minder begrüßen. Was Lippenbekenntnis bleibt und was wirklich was verändern wird und ob nur zum Besseren, wird sich noch zeigen. Es ist ja auch nicht so, als wenn man nicht Dinge, die man mal verbessern wollte und die nicht besser wurden, nicht auch wieder neu überdenken würde und könnte, vielleicht muss man mal raus aus dieser, wenn a dann auch b und c und dann eh Supergaudenke, das stimmt nämlich oft gar nicht, schon im kleinen oft nicht, weil immer noch so viele Parameter mit hineinragen, die kein Mensch bedacht und auf dem Schirm hatte. Ich dachte eh immer, Du bist eher ein Optimist.

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