Das mit einer Triggerwarnung versehene Arbeitsjournal des Sonnabends, den 28. Januar 2023. Mit Rückschau auf den Dienstag sowie Hans Werner Henzes Ode an den Nachtwind.

[Arbeitswohnung, 7.03 Uhr
Hans Werner Henze, Ode an den Nachtwind]
Wieoft ich diese CD jetzt gehört habe? Ich weiß es nicht. Elfmal, dreiundzwanzig Mal? Und wenn, dann stets mehrfach hintereinander. Die Musik läßt mich nicht los. Je öfter ich sie gehört habe, desto stärker, einnehmender, wird sie, saugt mich ein. Dabei fand ich ganz zu Anfang keinen Zugang, griff aber dennoch immer wieder zu dieser Platte, irgendwann legte sich ein innerer Schalter um, öffnete sich ein Ventil, um diese Musik in mich einzulassen. Habe ich die Platte in den Player gelegt, laß ich sie laufen als einen Loop. Es ist auch beim Hören, wie der Cellist, Isang Enders, es erzählt: Während des Übe- und Aufnahmeprozesses habe sich eine penetrante Begeisterung eingeschlichen, man komme “nicht umhin, daß es sich lohnt” (Booklet, S. 18). Dabei habe, ist im so ausgesprochen vornehm wie liebevoll gestalteten Booklet zu lesen, Henze das Cello gar nicht gemocht. War es ihm, also sein Klang, zu, sagen wir, männlich? Und schrieb dann sowas wie diese Oden an den Nachtwind und die Trauer-Ode für die Mäzenin Margaret Geddes, ja, alles Liebeslieder ohne Worte! Ich bin ohne Worte (na jà, fast).
Ich bekam die CD schon vor Wochen mit Bitte um eine Rezension zugesandt, die ich auch oft schon schreiben wollte; es war nicht die Zeit, zu viele Aufträge kamen auf einmal. Aber vielleicht werde ich dennoch eine längere Besprechung noch schreiben, dann für Faustkultur wohl, — für heute möge diese innige Empfehlung genügen. Die Zusammenstellung der henzeschen Stücke für Violoncello und Orchester hat einen insofern s u g g e s t i v e n Suchtcharakter, als wir die Wirkung des süßen Giftes, nämlich seinen … ja, humanen Wohlklang … als wir ihn anfangs nicht merken. Doch unversehens liegen wir wie von Wasser umschlossen darin und fangen an, wie durch Kiemen zu atmen: Luft nicht →  von anderen Planeten, sondern des unsren, doch vorher so kaum je gespürt.

Hans Werner Henze
O d e
Werke für Cello & Orchester

Isang Enders, WDR Sinfonieorchester
Lin Liao & Jonathan Stockhammer

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Ich schaue → auf Bamberg zurück, denke und fühle zurück. Was Elvira M. Gross und ich dort erlebten, gehört zu den schönsten Lesungen, die ich jemals erlebt. Nicht daß sie intensiver als frühere gewesen wäre oder mehr Begeisterung ausgelöst hätte als etwa → die Präsentation vor einem dreiviertel Jahr, wobei von “Begeisterung” gesprochen werden durchaus kann; besonders war der Bamberger Abend vor allem, weil in dem vollen Saal alle lesenden oder doch kunstinteressierten Generationen vertreten waren, wirklich von jung bis alt und Lesung wie Gespräch tiefste Aufmerksamkeit fanden, Aufmerksamkeit und Zugeneigtheit, was, letzteres, eine Voraussetzung erfüllender Kunsterlebnisse ist. Wird, wie ich es oft erlebe, gleich Skepsis mitgebracht, findet ein Werk keinen Eingang — k e i n Werk. Es bleibt dann bei der Skepsis oder sie schlägt sogar in Ablehnung um. Wir bekommen dann nichts zu spüren als das, was wir sowieso schon fühlten (oder meinten), und bestätigen nur noch uns selbst oder das “Urteil”, das wir schon mitgebracht hatten (also den oder was, die es  in uns eingepflanzt haben). Freiheit beginnt, wo wir hören.
Ein Besucher, übrigens, hat den Abend mitgefilmt; gestern schickte er mir die Files. Die Aufnahmen sind erstaunlich gut geworden, ich habe schon hineingeschaut. Die insgesamt neunzehn Clips will ich nach und nach in Die Dschungel stellen, wollte mit dem ersten – Nora Gomringers einfühlsame Begrüßung – eigentlich schon heute beginnen, doch ist es, scheint mir, wichtiger, erst einmal auf die Veranstaltung hinzuweisen, zu der ich morgen, und zwar diesmal nach Hamburg, reisen werde:

 

Wobei ich “an sich” schon heute losfahren wollte, um nämlich endlich das Abschlußgespräch mit der alten Damen zu führen, deren Lebenserinnerungen ich für sie schreibe. Kurzfristig sagte sie, die schwer krank ist, aus Schwächegründen ab. So habe ich einen Tag (kein gutes Wort in diesem Zuammenhang, verzeihen Sie, o Freundin, bitte:) “gewonnen”, den ich für den ersten Entwurf der ersten Hochzeitsrede nutzen will, die ich bereits im März zu halten haben werde. Außerdem liegt noch der Auftrag der Literaturhauses Berlin vor, auch er winkt mit dem Schlußtermin.
In Hamburg werde ich aus den Béarts nur eines der Langgedichte lesen und dazu eine oder zwei sehr kurze Geschichten aus den Erzählbänden; wir sind ja vier Lesende insgesamt (Claudia Wenk-Santana habe, schrieb mir Lou Probsthayn, abgesagt); da hat wohl jede/r eine Viertelstunde, kaum mehr. Doch ich habe eine Begrüßungsidee, weil’s ja üblich geworden ist, Triggerwarnungen plazieren zu müssen. Die meine lautet so:

Meine Damen und Herren,
ich bin nicht für meine politische Korrektheit bekannt, geschweige für eine erotische. Und beabsichtige auch nicht,
es zu werden.

Und in der Nacht wird’s gleich zurückgehen, weil am Montag mein Sohn Geburtstag hat, den dreiundzwanzigsten nunmehr. Er hat zu einem Frühstücksbrunch geladen und ich war gestern unterwegs, um mein Geschenk für ihn zu, sagen wir, perfektionieren. War zeitlich etwas eng, hat aber schließlich, dank eines einfühlsamen Handwerkers, geklappt (mehr hier zu verraten, ist selbstverständlich ausgeschlossen). Zum Ausgleich sozusagen möchte ich Ihnen aber nicht vorenthalten, wie Elviras und mein Spaziergang des Morgens nach der Bamberger Lesung fast unterbrochen worden wäre und wie wir das im Wortsinn überwunden haben:

Darauf dann – welch eine Crema! – gab es bei Minges Caffè:

Bevor wir uns trennten.

Sie die Treppe zum Bahnsteig 3 hinauf, ich zum Bahnsteig 6.

 

 

Die Melancholie trat am Abend aber erst in die Tür; auch gegen sie hat die Ode an den Nachtwind geholfen.

Ihr ANH

P.S.:
Gestern abend haben Elvira und ich die letzten Korrekturen an den Druckfahnen zur Neuausgabe der Verwirrung des Gemüths fertiggestellt und an den Verlag geschickt. So wird denn auch dieses Buch bald da sein, wahrscheinlich noch im Februar.

 

 

4 thoughts on “Das mit einer Triggerwarnung versehene Arbeitsjournal des Sonnabends, den 28. Januar 2023. Mit Rückschau auf den Dienstag sowie Hans Werner Henzes Ode an den Nachtwind.

  1. Zu den Photographien auf ihrem Literaturblog noch etwas: Es wäre schön, wenn die anklickbar wären. In dieser Form sind sie viel zu klein und es ist nichts zu erkennen. Das ist sehr schade. Zumal ich sie gerne in “nah” gesehen hätte, nicht nur wegen der schönen Frau, sondern auch, weil ich Bamberg so sehr liebe und dort sehr oft bin. Leider habe ich es zu ihrer Lesung nicht geschafft. Es mag zwar goetheianisch heißen “Keine Ferne macht dich schwierig”. Aber bei Photographien ist es doch eben auch wieder schlecht.

    Den Ort dieser Photos im übrigen kenne ich so gut und so sehr. Es ist hinter dem Bamberger Dom der Weg hoch zum Michelsberg, von wo aus man diese großartige Sicht über die Stadt hat. Bamberg ist einfach auch eine Stadt zum Flanieren. (Ich dachte ja immer, daß die Pforte eigentlich offen ist.)

    1. Seltsam, auf meinem Laptopscreen “kommen” die Bilder bestens, und der ist ja deutlich kleiner als auch nur einer meiner beiden Bildschirme, die ich wegen der Video- und Musikschneiderei so groß brauche. (Manche, etwa Blick aufs Publikum, sind mir sogar fast zu groß – der Rechte am eigenen (Ab)Bild halber. Es ist da ja fast sogar theoretisch unmöglich, jede und jeden gesondert um Erlaubnis zu fragen. Für den mir zugesendeten Filmmitschnitt der gesamten Veranstaltung gilt das ganz besonders; da fährt das Kameraauge einige Male dicht in die Gesichter. Parallel läuft aber der Vortragston, so daß sich auch schlecht etwas herausschneiden läßt, und zum Beispiel schwarze Schatten draufzulegen, würde den Fluß des Tones stören.)

  2. Um die Bilder in gemäßer Größe direkt im Eintrag zu sehen, empfehle ich im Browser auf 170 % Zoom zu gehen. Dann wird zwar auch die Schrift riesig, aber das ist mir dann eben egal. Bei Normalansicht mit 100 Prozent sind mir die Bilder auch zu klein, um sie zu studieren. Mit dem Zoom sehe ich die Fotos in einer mir genehmen Größe und kann so schöne Details erkennen, wie zum Beispiel das Straßenschild beim Mäuerchen. Die Kletterbilder gefallen mir besonders. So schön verwegen, im wahrsten Sinne des Wortes.

    Im Tafelspitz in Hamburg wäre ich auch gerne dabei, so heimelige Räume, gerade angeschaut. Das wird sicher ein feiner Nachmittag und Abend.

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