Ein Trauertattoo im Arbeitsjournal des Dienstags, den 31. Januar 2023 ODER Variation über ein Thema seit langem.

[Arbeitswohnung, 6.49 Uhr
France musique contemporaine:
Mauricio Kagel, Motetten für acht Violoncelli]

Freundin,

selbstverständlich gibt es einen Zusammenhang mit → gestern, ebenso, wie mir erst, während ich am Enwurf der dritten Tattoo-Erweiterung saß, die diesmal zum und auf den Rücken, meinen, führen und wahrscheinlich heute schon gestochen werden wird, – ebenso also, wie mir, aber da erst, klarwurde, daß ich nunmehr auch eine Trauer körperlich ausdrücken möchte, die mein Leben seit langem begleitet. Auf drei mir bekannte Abtreibungen sehe ich heute zurück, zwei davon habe ich sogar begleitet, die n a c h der Geburt meines Sohnes sehr bewußt und schmerzreich; wahrscheinlich wurde sie mir deshalb nicht zu einem Trauma, weil ich sie literarisch verarbeitet habe, etwa → dort sowie in den Bamberger Elegien; an die anderen beiden erinnerte ich mich n u n erst wieder; als sie durchgeführt wurden, war ich beide Male noch sehr jung und lange noch nicht fähig gewesen, das Ausmaß ihrer künftigen Bedeutung zu spüren, geschweige denn zu kennen. Es konnte dies auch erst geschehen, nachdem ich diese erste Geburt selbst miterlebt und das Kind mit meinen Händen ins Licht gehoben hatte; ich mußte fast fünfundvierzig Jahre alt dafür werden.
Das Geschehen hat meinen gesamten Blick auf die Welt verändert und wirkt bis heute als ein Mysterium nach. Und erst da begriff ich, weshalb ich, als ich anfang der 2000er bei Beyeler vor den Blättern der Himmelspaläste Anselm Kiefers stand, besonders von einer Arbeit zu ergiffen war, um sie jemals wieder aus dem Gedenken zu verlieren. Dabei hat sie gar nichts von der Monumentalität und seit je mich faszinierenden Intensität der meisten seiner anderen Arbeiten (etwa des auf mich nach wie vor, wohl weil thematisch eng verwandt, ähnlich wirkenden Bildes “Lilith am Roten Meer”). So wußt’ ich noch gar nicht, weshalb. Es stieg mir tatsächlich erst ins Bewußtsein, als ich nun diese dritte Tattooerweiterung entwarf, die quasi andere Seite des dem Leben huldigenden Triskelentattoos auf meiner Brust; es soll eben auch genau diesem gegenüber gestochen und aber mit ihm über die Pflanzenranken verbunden werden, die ja auch über den rechten Arm hinab auf meine Hand führen.

Fast schockhaft stand ich vor knapp einer Woche vor dem Haus, das eine Ecke mit dem Hotel teilt, in dem Elvira M. Gross nach unserer → Bamberger Veranstaltung untergebracht war; zwei Wandseiten dort sind mit einem Wein bewachsen, dessen Ranken genau das Prinzip realisieren, durch das mein Tattoo wächst:

 

 

 

 

 

Elvira, als ich es ihr zeigte, war ganz ebenso berührt. Ich war, ohne es bereits derart “natural” vor Augen gehabt zu haben, sondern pur als Vorstellung ganz demselben Prinzip gefolgt und folge ihm nicht nur noch weiter, sondern verknüpfe es jetzt mit diesem einen Himmelspalast. (Es hat seinen Grund, daß, in “Meere”, Fichtes Arbeiten in dem polnischen Bunker “Höllenpaläste” genannt sind.)

Dieser nun, Freundin, heißt “Die Ungeborenen” — woraus ich, auch hier noch ohne schon zu verstehen, “Die Nichtgeborenen” machte; vom französischen Titel “Les Non-nés” abgeleitet. So ist denn mein gleichnamiger in den zweiten Band meiner Gesammelten Erzählungen aufgenommener Dialogtext → “Die Nichtgeborenen” noch ganz von den i n s Leben kommenden Seelen durchdrungen und nicht von denen, denen es verweigert wird. Diese rückten jetzt erst ins Zentrum: drei meiner Kinder, die hätten werden können. Ein bißchen ist es wie ein Ruf. Wobei ich mir klar darüber bin, daß der nicht Zeitpunkt, sondern –raum mit meiner Krebserfahrung, aber besonders mit ihrer für mich heftigsten Folge zu tun hat, dem deutlichen “Wissen”, es habe mir die Chemo die Fruchtbarkeit zerschossen. Ich hatte doch so sehr n o c h ein Kind gewollt und hätt es gern noch immer. Jetzt hör ich nicht die ‘Ungeborenen, sondern die Nichtgebornen rufen. So scannte ich das Blatt aus dem edlen Kunstdruckband und nahm aber von Kiefers Arbeit nur den oberen Teil, den, der ins Licht führt; allerdings isolierte ich aus dem unteren Teil die aufsteigenden Hemdchen noch mit hinzu:

 

Danach galt es, Kiefers Schwarzweiß an die Färbung der Haut anzupassen und dieses Bild auszudrucken, um zeichnerisch die Pflanzenranken hinzuzufügen, die Kiefers Motiv mit dem Brusttattoo verbinden. So daß ich zu folgendem Ergebnis kam, das ich nachher um 12 mit Elena, meiner Tätowiererin, besprechen werde und sie also stechen lassen möchte:

Unterdessen war mir, wie ich Ihnen oben schrieb, klar geworden, was ich hier eigentlich bearbeitete … — daß es, um Mitscherlichs Begriff zu verwenden, Trauerarbeit ist. Auch hier eine der Grundbewegungen meiner Poetik, Verdrängtes oder das, was verdrängt werden könnte, ins helle Bewußtsein zu heben, damit getrauert werden überhaupt erst kann. Text und Bild verschmilzen, Körper und Zeichen, Privates und Öffentliches, Intimität und Kunst.

Ich habe, Freundin, den Entwurf andren schon gezeigt; die Reaktionen reichten von “stark!” (Elvira) bis zu gestern लक्ष्मीs tiefem Erschrecken: “Das ist ja furchtbar! Es sieht aus wie bei uns in der Klinik Nekrosen …” Mit welcher Assoziation sie, doch in übertragenem Sinn, durchaus recht hat; nekrotisches ist abgestorbenes Gewebe, in diesem Fall das leibgewordene Rufen der abgetriebenen Kinder. Das genau wird hier gezeigt, Trauer-selbst wird Bild, aber durch die immer weiterwachsenden, in das Bild hinein-, aus dem Bild hinauswachsenden Ranken dann doch noch ins Leben geholt, als eine Erinnerung nämlich, die sich entpersonalisiert, wie alle Kunst allgemein wird und nicht mehr allein am Urheber hängt. Worum es mir doch immer ging: zu erzählen, was – eigentlich – uns alle angeht, nicht nur mich. Worunter wir leiden und was uns ins Licht hebt, beglückt.
Niemals zuvor bin ich derart nahe an der Bildwerdung meiner Dichtung gewesen. Immer vorausgesetzt freilich, daß Elena nicht abwinkt. Aber vielleicht wird jetzt sinnlich und dem Verstande begreifbar, was das oben nur verlinkte Gedicht erzählt:

Svava

I
ich habe meine Tochter gesehen
nichtgeboren im Rahmen der geschlossenen Tür
längst war sie Frau und ich war ganz alt

so stand sie lange und wehte

II
ich habe meine Tochter gesehen
nichtgeboren im Rahmen der geschlossenen Tür
längst war sie Frau und ich war ganz alt

stand lange und verwehte

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Siehe auchDas Triskelentattoo ODER Zur Körpergestaltung

Ihr ANH
[France musique contemporaine:
Ramon Lazkano, Bras dessus bras dessous für Klavier zu sechs Händen]

***

[Zurück in der Arbeitswohnung, 18.45 Uhr
Strauss, Arabella (de la Casa, Wiener Philharmoniker, Solti 1957]
Es ist getan:

(Bilder je direkt nach dem Stechen aufgenommen, daher noch die Rötungen. Der Eindruck wird sich bis zum Ausheilen nach und nach verändern, vor allem bereits nach dem Abnehmen der nach dem Aufnehmen zum ersten Heilschutz aufgebrachten Transparentpflastern.)

 

 

 

 

***

 

(Womöglich bin ich nun der einzige Mensch auf der Welt, der “einen Kiefer” auf dem Rücken trägt. Nun gut, einen “Ausschnittskiefer”. Nicht mal der berühmte, mit ihm befreundete → Ransmayr wird so etwas haben. (Lacht leise).)

12 thoughts on “Ein Trauertattoo im Arbeitsjournal des Dienstags, den 31. Januar 2023 ODER Variation über ein Thema seit langem.

  1. Bei Vergrößerung des Kiefer-Motivs auf Ihrem Rücken, entsteht ein interessanter dreidimensionaler Eindruck, so als würde der Betrachtende direkt in die Mitte des Bildes hineingesogen , verschwindet letztlich im “Tunnel” um dann dem “Licht” am Ende des Tunnels zu begegnen…

    1. Das war tatsächlich eine, ich schreibe mal, “Mit-Idee”: Dort, wo im Kieferbild dieses starke Licht ist, befindet sich genau auf der Gegenseite, also meiner oberen rechten Brust, der Mittelpunkt der Triskele (das – sehr kleine – Venusdreieck). So gesehen führt das Licht ins Leben (und eben n i c h t ins Jenseits).

      Nebenbei, es war heiter gestern, als Elena nach genau der richtigen Stelle für dieses “genau gegenüber” suchte. Schließlich diskutierten gleich d r e i Tätowierkünstler, wo sie denn sei, bis ich die Wirrungen mit den Worten abbrach: “I absolutely trust y o u r decision, Elena.”

      1. Ok.
        In Anbetracht einer (hoffentlich) überstandenen KrebsErkrankung und im Zusammenhang mit dem Gefühl von Trauer über die “Ungeborenen”, eine bildnerische Ode an den LebensWillen, ganz im Sinne der Natur.
        Bemerken möchte ich noch, dass ich jede Frau verstehen kann, die sich nach reiflicher Überlegung, für “ihren” Weg entscheidet.

        Schön, Sie in so künstlerisch.kompetenten Händen zu wissen…lächel…

        1. Selbstverständlich. Aber diese Entscheidung betrifft den Mann/die Männer immer m i t und kann auch bei ihm/bei ihnen zu einer mitunter sogar schweren Traumatisierung führen.

          Zusatz: Auch hier gilt, was ich das Tragische nenne. Der Mann hat keine Entscheidungsbefugnis, völlig zurecht nicht. Er ist vielmehr geworfen und muß aushalten, ohne etwas tun zu können. Im Liebesfalle geht er den Weg dann aktiv mit, den er beschreiten gar nicht möchte oder sogar ablehnt.

  2. Es i s t “in Ordnung”, aber ggbf. von schwerem Leiden begleitet. Das dann auszuhalten ist. Oder (oder-und) zu bearbeiten – so, wie jetzt ich es wieder getan habe (auch eine der Bamberger Elegien ist davon getragen).

    1. ich hab’s gelesen. Ihre poetischen Texte dazu, gefallen mir sehr gut.
      Inwieweit Mann/Frau tatsächlich schwer und über längere Zeit daran leidet ist individuell verschieden und beurteilen kann und will ich das nicht.
      Ich weiß nur und ich spüre dass auch in Ihren Texten, dass eine “TrauerSchwere” mitschwingt und sich einen Weg aus der Tiefe in die Aufmerksamkeit der Lesenden bahnt…

    1. Da müssen wir wohl auf → von Hagens warten.(Schaurige Vorstellung, eigentlich, aber manche vermachen ihre auf Erden verbleibende Hülle ja z.B. medizinischen Fakultäten; weshalb also nicht einem Museum.. – Nein, ich will ja beerdigt werden, also nicht verbrannt, sondern in die Erde zurückgehn. Als E r z ä h l u n g aber wär es ein Sujet.)

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