Bitter und süß, doch von himmlischer Vitalität. Joana Mallwitzens Übernahme des Rosenkavaliers in André Hellers Inszenierung an der Staatsoper Unter den Linden, Berlin.

All die Mauern und Zäune Waren mein Tagebuch,
Mit Kreide vollgeschmiert,
Mit Herzen und mit Pfeilen.
Die Herzen sind verlöscht, Die Pfeile
blieben stehn.

Heller, Bitter und süß (1980)

“Hab’ jetzt einen montierten Kopf
gegen die Männer – so ganz im
allgemeinen!”

Hofmannsthal/Strauss, Der Rosenkavalier

          Festliche Stimmung in der Lindenoper, bei mir erwartungsbebende Nervosität: Wie hat sich Hellers Inszenierung seit dem Februar 2020 entwickelt – meine Besprechung der Premiere finden Sie »»» dort[1]Faustkultur hat sie leider nicht mehr online? die nach zweieinhalb Jahren eigentlich nur noch Repertoirestück wäre – und vor allem wegen der Neubesetzung der beiden weiblichen Hauptpartien Marschallin und Sophie mit Julia Kleiter und Golda Schultz; beide sind doch bei der Einstudierung dieser Inszenierung ebenso wenig dabeigewesen wie Martina Prudenskaya als Octavian. Am gespanntesten war ich aber auf Joana Mallwitzens orchestrale Interpretation. Würde sich der in ihren Dirigaten haftende geheimnisvolle Zauber auch nun einstellen, da man sie, weil tief im Orchestergraben stehend, nicht sieht? – einer, der Zauber, dem ich in einem langen Essay für Faustkultur unbedingt noch nachgehen möchte, wenn auch in der Hoffnung, ihn niemals auflösen zu können. Bei noch keinem Dirigenten, keiner Dirigentin habe ich diese spezielle Aura, die sich – ein durchweg verblüffendes Phänomen – auf Tonträgern nicht abbilden läßt, bisher so erlebt. Dazu paßt, daß Richard Strauss’ens Vorspiel zum dritten Akt endlich einmal nicht inszenatorisch zugeschüttet, sondern dem „reinen“ Orchesterklang die Exklusivität zugestanden wird, die diese Ouvertüre braucht.

           Und um es also vorwegzunehmen: Ja, der Zauber wirkte, obwohl von meinem Platz im ersten Rang aus, recht nah an der Bühne, nur wirklich sehr bisweilen allenfalls die rechte Dirigentinnenhand mit dem Taktstock zu sehen war, wenn er hoch erhoben. Spontan höranalytisch hatte ich den Eindruck, daß Mallwitz sowohl die Dynamik der Klangauren weitet als auch die Tempi immer wieder rasant umschlagen läßt; hinreißend etwa, wenn sie nach der Marschallin berühmter Zeit-Arie, als die Uhren stehenbleiben, die Pause um einen Sekundenbruchteil länger währen läßt nicht nur als vor ihr Zubin Mehta, sondern als es die Partitur-selbst vorsieht:

Es ist wirklich nur ein Bruchteil – doch die Wirkung derart enorm, daß dieser minimale Moment es der Marschallin überhaupt erst erlaubt, ihr erlösendes Aufatmen sich entfalten zu lassen: Allein[,] man muss sich auch vor ihr nicht fürchten – was so zu der großartigen, typisch hofmannsthalschen Lebensmaxime nicht nur führt, sondern sie bereits vorklingen läßt, nämlich daß wir l e i c h t sein müssen, mit leichtem Herz und leichten Händen halten und nehmen, halten und lassen . . .. Eben dies wird diese für mich bedeutendste Frau der Opernliteratur im Finale schließlich auch tun. Die nicht so sind, die straft das Leben, und Gott erbarmt sich ihrer nicht. Julia Kleiter nun, die Sängerin der Marschallin (Gattin des Feldmarschalls Fürst Werdenberg, der im Stück typischerweise nur genannt wird, niemals erscheint; er spielt auch im übertragenen Sinn keine Rolle) … bis zum Lever durchaus noch stimmlich blaß, ist da vollendet Fürstin und ganz zuvorderst eine, wie Hofmannsthal sie sich vorgestellt hat, noble, hochkultivierte Frau in ihren auch erotisch besten Jahren, sagen wir zwischen dreißig und fünfundvierzig/sechsundvierzig. So singt sie und mimt sie die Rolle nicht nur, sondern sie ist sie, ist sie rundum. Ihr, Kleiters, tatsächliches Alter macht es im Wortsinn augenfällig – anders als in der Premierenbesetzung Camilla Nylund es konnte. Mit einundfünfzig war sie dafür, sie möge mir verzeihen, schon beinah über der Grenze und konnte die Marschallin nur noch repräsentieren. Was ein Problem ist. Denn die Partie, auch das ist ihr Mysterium, schreibt sich in große Sängerinnen ein; singen, wenn sie es können, können sie sie bis zum Bühnenabschied quasi, und manche tun es auch. Sie bleiben dann Idealbesetzung, auch wenn ihr Alter nicht mehr „stimmt“. So sehr sind die wirkliche Person und diese Rolle verschmolzen.
An Karan Armstrong etwa erinnere ich mich nach wie vor intensiv, sehe sie sogar noch, einmal sich zurückdrehend, ihr Blick durchschweift den Raum, den ersten Akt verlassend. Welch ein, doch leise schmerzend, Stolz! Als sie 2001 ihren Abschied von der Deutschen Oper Berlin mit eben dieser Rolle … ja, b e g i n g, saß ich abermals im Publikum mit. Da war sie zweiundfünfzig. Kleiter wird es in einigen Jahren ebenfalls sein und spürt es, die Marschallin singend, voraus. Eben das überträgt sich ins Publikum. Meine Begleiterin, die Mama meines Sohnes, weinte. (Sie hat den Rosenkavalier erstmals mit zweiundzwanzig gesehen, ebenfalls mit mir, war damals schon erschüttert. Auch damals sang die Armstrong. Es liegt heut siebenundzwanzig Jahre zurück. Jetzt, in der Pause, sagte Kavita, unterdessen älter als Kleiter auf der Bühne: „Weißt du, es ist noch einmal anders, wenn man jetzt selbst auf die fünfzig schon zugeht ….“ – Ach, die Zeit! Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie.
)

           Ja, Kleiters Marschallin ist großartig. Nur hätte man ihr eine andere Frisur als in der Premierenbesetzung der Nylund gönnen können, eine vielleicht, die Elisabeth Schwarzkopf zitierte, jene Darstellerin, die für mich die Marschallin von Anfang an war; in jeder anderen Rolle kam sie mir vor, als ob’s die Fürstin Werdenberg wär, die sich verkleidet habe. – Ich trag da eine Prägung und weiß, es ist nicht gerecht. Dennoch, als sie die Rolle erstmals sang, war sie – also noch v o r Karajans berühmter Einspielung von 1956, nämlich unter Marek Janowski – siebenunddreißig. Bislang hat, für mich, gleichzuziehen allein Kiri de Kanawa vermocht. Sie ist beim Rollendebüt achtunddreißig gewesen, unter Levine; in der längst legendären Aufnahme drei Jahre später unter Solti ist sie vollendet. Dem steht die Kleiter nun zur Seite – bloß daß ihr der, am Ende fast des letzten Akts, nur scheinbar ironisch-nüchterne Ton, ein in Wahrheit indes beklemmend hoher des akzeptierten Verzichts, um eine Spur zu pragmatisch gerät, dieser zwei Silben – „Ja. Ja.“ – denen wir Rosenkavalianer, indessen Herr von Faninal ergeben noch seufzt, halt sei’n sie aso, die jungen Leut’, angespannt entgegenfiebern – auch hier singt es, wie ganz oben, die Schwarzkopf:

 

           Tadellos, wenn auch nicht exzeptionell, Marina Prudenskayas Octavian. Nein, stimmt nicht. D o c h exzeptionell. Ich bin mir nur nicht sicher, ob es an ihr, der Sängerin, oder dem Dirigat der Mallwitz lag. Gerade im ersten Akt hatte ich ständig den Eindruck, die Akzente der, sagen wir, „Botschaft“ dieser Oper hätten sich leicht versetzt. Eben weil eine Frau dirigierte? Ich meine noch jetzt, niemals so deutlich vorgeführt bekommen zu haben, wie „daneben“ sich Männer benehmen und leider eben auch sein können … nicht nur der sowohl in Schauspiel und Gesang herausragende Ochs Günther Groissböcks – weil eben nicht, wie leider sehr oft, als Karikatur und Popanz gegeben und weil ebenfalls im von Hofmannsthal gedachten Alter. Sondern ganz wie er führt auch Prudenskaysy Octavian schon im Dialog mit der Marschallin vor, wie eigentlich nur immer an sich selbst er denkt und daß der jugendliche „Bub“ tatsächlich (was ich oft in Essays gelesen, bislang aber in keiner Aufführung beglaubigt fand) kaum etwas anderes ist als der Lerchenauer Ochs in dessen Jünglingsjahren. – Ach, wehe über Sophie!

           Ja, diese Sophie. Man kann Golda Schultz nicht übelnehmen, dass sie die berückende Reinheit des Tonbogens eine Note vor, dann ab Takt 30 nicht erreicht, wie ich sie auch tatsächlich nur ein einziges der vielen, vielen Male gehört habe, die ich den Rosenkavalier nun schon sah – von nämlich 1996 Laura Aikin unter Donald Runnicles gesungen, hier am selben Haus. Ihr … ich will nicht „engels“- schreiben … – elbenhohes ais schoß mir die Tränen quasi durch die Netzhaut, beim h schon liefen sie hinab, zwei kleine erschütterte Bäche gleich unter dem Quell, und schließlich beim gis meine Wangen warn naß – erschütternd einfach auch deshalb, weil ich dieses Bürgermädchen stets für komplett uninteressant gehalten hatte, a Weaner neureiiiches Maderl halt.

Aber hören Sie selbst. Ich habe sie, Schultz 2023 und Aikin 1996,
leicht versetzt übereinandergelegt, beide singen exakt dieselben
Töne, und dennoch steigt hoch über Schultz Aikin hinaus;
erstaunlich zudem, daß trotz der Verschiebung die Musik nach
wie vor”funktioniert” (für meine Hörstücke muß ich mir das
unbedingt merken).

            Abgesehen von ihrem Gesang allerdings setzte sich auch Aikins Sophie in keiner Weise von allen den anderen ab, also darstellerisch. Golda Schultz nun revidierte mein Bild. Und abermals: Lag es an dieser Frau am Pult? Oder an der Sängerin selbst?
Zum einen, nun jà, die „Reinheit“ des aikinschen Klangs konnte sie nicht haben, weil eine „Farbige“ etwas vermag, was wiederum uns „Weißen“ kaum je möglich ist, nämlich – mir fällt nur dieses Wort ein, es ist nicht ganz korrekt – „guttural“ zu singen. Wir hören es oft im Jazz. Als würde leicht rauchig, aber mit Vibrato, heraus aus dem Bauchraum gesungen und eben nicht mit der Kopfstimme. Das läßt die Stimme tiefer wirken, als sie tatsächlich ist; es werden ja dieselben Töne gesungen. Zugleich wirkt sie älter, nicht viel, aber spürbar. Dieser Umstand kam hier zu tragen. Das Mädchen wird richtiggehend aufsässig, das ist kein braves Töchterchen mehr,  ihr Vater sieht ganz alt aus; Goltz sang ihn glatt an die Bühnenwand. So daß der Marschallin Satz zu Ende des Stücks, sie, Sophie, möge nicht zu viel reden, Sie ist ja hübsch genug, eigentlich gänzlich danebenlag, ja selbst machistisch wurde. Was unter Mallwitz sie nun nicht sah und unter Mehta sehen auch nicht mußte. Nicht nur stand die Werdenberg unversehens ihrem Spiegelbild gegenüber, doch dem, als selbst noch ein Mädchen gewesen … nein, ihr „hübsch genug“ wiederholt sogar, was der Frauentatscher Ochs schon im ersten Akt herausgeprahlt hatte. Auch dies habe ich früher immer überhört. Es sind genau solche Momente, die unter Mallwitz fast verstören, aber unmittelbar berücken zugleich und deshalb doppelt ergreifen, Hirn nämlich u n d Herz. So etwas gelingt sowieso beinahe nur der Oper. Wenn sie klar ist, nicht klebt.
Und n o c h etwas Frappierendes. Octavian ist etwas älter als siebzehn, Sophie mag zwei Jahre jünger als er sein, vielleicht auch nur eins. Geschenkt. Tatsächlich indes ist ihre Sängerin, also Golda Schultz, vierzig Jahre alt und die Marschallin aber, mit Julia Kleiter, grad mal drei Jahr’ älter. Davon ist absolut nichts zu merken; ich war, nachdem ich’s recherchierte, richtiggehend verdattert. Denn wir sehen – und erleben – hier wirklich eine reife und eine noch nicht einmal ganz Frau: Welch grandiose Illusionskunst des Schauspielens also! Zumal die beiden, symbolisch halt, ein- und dieselbe Person sind, doch in zwei aufeinandergefolgten Generationen, und zwar auch dann, wenn Sophies Verbindung mit Octavian keine, wie es bei der Werdenberg war und mit dem Ochs geworden wäre, “Zweckehe” würde. Dem entspricht die Epochenmischung des Librettos, also der frühen Zeit Maria Theresias, der des Walzers im 19. Jahrhundert sowie der damals gegenwärtigen Vorkriegszeit um 1910. Mit Benjamin Wäntig[2]Im Programmbuch finden Sie seinen Essay komplett.
gesprochen nehmen Hofmannsthals und Strauss’ens Verfahren ästhetische Erkenntnismethoden der Postmoderne voraus – der Rosenkavalier ist eben k e i n, wie seine Kritiker, aber auch viele seiner Liebhaber wollen, konservativ-nostalgisches Stück, sondern zutiefst mit Hofmannsthals Chandosbrief verwandt. Joana Mallwitz, die in der Postmoderne aufgewachsen und also von ihr geprägt ist, schält dies sehr viel deutlicher hervor, als es Zubin Mehta konnte, intellektualisierend aber nicht wie in den Achtzigern Berghaus und Gielen an der Frankfurtmainer Oper, das war einfach nur elend. Sondern bebend vor wollender, warmer, schwingender Vitalität, die ohnehin eine Farbe des von mir so genannten Mallwitzzaubers ist, eines eben, der in alle Beteiligten mit hineinweht – und in uns, die wir teils lachend, oft aber bangend dabei sind, wenn wir da lauschen und sehen.

ANH, Berlin
23. bis 28. Dezember 2023

Achtung! Zum letzten Mal in dieser Spielzeit am 2. Januar um 17 Uhr!
Karten

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Hierüber besprochen wurde die Aufführung vom 22. Dezember 2023.
Die Rezension der Premiere des 9. Februars 2020 »»»» dort.








References

References
1 Faustkultur hat sie leider nicht mehr online
2 Im Programmbuch finden Sie seinen Essay komplett.

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