Sonntag, der 28. Mai 2006. Bamberg – Berlin.

7.13 Uhr:
[Villa Concordia Bamberg. Regen, weiters.]
Das war eine lange Netznacht. Auf “Jagd” gewesen, die erotische Abstinenz macht mich verrückt, gerade nach einem Text wie dem über Mozart, der so auf Sinneslust pocht, die körperliche Schwester der Produktivität… – das nehm ich gleich als Aphorismus, auch wenn’s dann mal eine (mir bewußte) Redundanz in Der Dschungel ergibt (es mögen Hunderte n o c h sein, bei der Wiederholung Umkreisung mancher Themen, die für mich zental sind). Der Kontakt zu >>>> Prothoe ist wieder aufgelebt; sie ist tatsächlich die letzte Frau, mit der ich schlief, eigentlich nicht zu fassen, aber ich bin ja so voll der Hoffnung gewesen. Bis knapp drei Uhr nachts haben wir uns – von Cam zu Cam – gegenseitig aufgeputscht. Hinzu kam, daß mir ein Gespräch mit >>>> The Source, die obendrein um ein anderes Ende des Mozarttexts kämpfte, ziemlich verdeutlicht hat, daß ich wahrscheinlich, und zwar aus biologischen Gründen, tatsächlich sozial nicht sehr kompatibel bin (andere als ‚normale’ cerebrale Verschaltung), also als fürsorgender Familiengatte nicht tauge. Als Vater scheint das allerdings etwas anderes zu sein, bei mir, offenbar, aus mir dann aber unklaren Gründen – bzw. schlägt hier wahrscheinlich mein inneres – gespeichertes – Trauma des frühen Vaterverlustes durch elterliche Trennung durch und erzwingt das. Jedenfalls fing ich zu ahnen an, daß ich vielleicht, was die ganze >>>> Diskussion um Privatheit betrifft, einen blinden Fleck habe: ich fühle diese nicht, muß sie mir jeweils gedanklich konstruieren; das ist zwar nicht schwer und dann, tu ich’s, verstehe ich auch, was von den Menschen damit gemeint wird. Aber ich muß das „Fall“ für „Fall“ unternehmen, also bei jedem konkreten Anlaß neu – es ist eine intellektuelle Arbeit, nicht eine mir selbstverständliche, durch soziales Lernen, das sich als Grundgefühl situiert hat, bleibende Empfindung. Weshalb ich logischerweise, also stimmt meine Vermutung, Privatheit immer wieder übertrete, dann für jeden Einzelfall darauf hingewiesen werden muß, dann nachdenke und daraufhin nicht selten, weil ich logisch begreife, den Übertritt wieder gutzumachen versuche.
Ich schreibe dies im Bewußtsein, daß möglicherweise auch Ω diese Zeilen liest; ich kann ja nicht mehr tun, als mich zu erklären, offen zu sein und mich verwundbar zu machen, indem ich mich zeige. Auch wenn das den Verlust nun erst richtig festmauert. „Du mußt dir klarmachen, ob du das eigentlich kannst, was Ω offenbar ersehnt und von dir verlangt – ob du dich dazu eigentlich eignest“, hat schon U. vor Monaten gesagt; „werde dir klar darüber, wer du bist.“ Bei Prothoe gibt es diesbezüglich kein Problem; ihr ausgeprägter Exhibitionismus läßt sie meine Art recht eher genießen; aus meinem Drang zur Veröffentlichung zieht sie Lust. Und noch in manchem anderen passen wir sexuell ganz enorm und wissen das beide. Es wird sich zeigen, wie und ob sie diesmal mit meiner Liebe zu Ω klarkommt – vor einem halben Jahr brach sie unsere Affaire deshalb ab. (Und ich weiß, daß sie – und n i c h t ‚möglicherweise’ – dieses Tagebuch liest. Auch ein wiederum daraus resultierendes Risiko gehe ich ein.) Obendrein muß ich selbst sehen, wie ich mit dieser Konstellation klarkomme. Jedenfalls will Prothoe mich hier besuchen, erstmal für eine Woche, sowie sie zwei Uni-Termine hinter sich hat, für die ihre dortige Gegenwart unerläßlich ist.
Ich hatte dann, als ich nachts das Gespräch beendete, einen solchen Testosteronstau, daß ich, als ich ihn löste, Schmerzen bekam, die denen einer Harnleiterentzündung glichen. Bis fast halb fünf Uhr morgens kämpfte ich gegen sie an, es war rein furchtbar; ich wollte doch unbedingt schlafen, mußte schlafen; denn heute muß ich an den Kaschmirtext, ganz dringend; auch ihn will ich in zweieinhalb/drei Tagen stemmen. Damit ich dann an das Libretto für >>>> RHPP kann, das so überfällig ist, weil der Komponistenfreund schon darauf wartet. Erst danach, wird auch dieses fertig sein, werd ich wieder an ARGO gehen. Zwei Wochenendveranstaltungen liegen überdies in der Zeit, nächste Woche der Kirchentag in Gelnhausen, übernächste >>>> das Junge Literaturforum Thüringen/Hessen, auf dessen einem Workshop ich, sagen wir, Juror bin. Beides bringt etwas Geld, stört aber meinen geregelten Arbeitsablauf. Und ich werde mein Kind deshalb über zweieinhalb Wochen lang nicht sehen können.

Die Schmerzen sind jetzt weg. Etwas Taubes ist davon geblieben, das zugleich erotisch neuerlich drängt. Und zugleich an die Arbeit drängt: Ich habe L u s t auf den Kaschmirtext. Und muß mich außerdem noch bei den Freunden bedanken, >>>> The Source, >>>> parallalie sowie UF, die meinen fertigen Mozarttext sofort durchsahen und, wo sie das wichtig fanden, korrigierend eingegriffen haben. – So, ich höre gerade die Jungens erwachen. Wir werden heute mit dem 13.09er oder 15.09er nach Berlin zurückfahren.

17.07 Uhr:
[ICE Bamberg – Berlin.]
„Das ist gemein!“ riefen die Jungs. „Heute regnet es endlich nicht mehr, wir aber müssen zurückfahren!“ Recht haben sie, aber hatten immerhin den gesamten Vormittag und Mittag, bevor die Sachen zusammengenommen wurden und aufgebrochen werden mußte. Am Bamberger Bahnhof noch ein Eis, dann kam auch schon der ICE.
Mit meiner KASCHMIR-Erzählung war das noch nichts vor lauter Aufräumerei, Gepacke usw.; auch mit Prothoe noch gesprochen, weil ich gestern nacht überlegt hatte, morgen einfach nach Greifswald zu fahren und Dienstag früh dann von dort aus nach Bamberg zurück. Aber dann erinnerte ich mich, doch die nächsten beiden Wochenenden beruflich unterwegs und morgen also für zweieinhalb Wochen das letzte Mal in Berlin zu sein; da ist dann einfach zu viel zu regeln, um eine solche erotische Stippvisite vernünftig erscheinen zu lassen. Nun kommt nach der Uni evtl. Prothoe für die Nacht nach Berlin; aber es ist offengehalten. Im übrigen will ich gern Billard spielen mit Eisenhauer und den Profi sehen, bevor es für solange dann von Berlin wieder weggeht.
Mal sehen.
Eben mit dem Jungen etwas für die Schule getan, dann wurde ihm leicht schlecht, jetzt schläft er tief.Beide Kinder sind immer sehr spät ins Bett gekommen; jetzt, da die Fahrt ohnedies alle Leute ruhigstellt, meldet sich die müde Physiologie. Auch ich war kurz eingeschlummert; jetzt will ich aber doch noch ein paar Zeilen an KASCHMIR schreiben.

21.31 Uhr:
[Berlin, Kinderwohnung, Küchentisch.]
Na, das waren wirklich nicht mehr als ein paar Zeilen, also nichts, das heute eine Eintragung als „Arbeitsfortschritt“ rechtfertigen würde. Aber egal, die Kaschmir-Geschichte ist mir in ihren nach innen genommenen Abläufen klar.
Mein Junge schläft noch, ich werd mir einzwei Bier besorgen, dann noch etwas im Netz herumspielen, dann schlafengehen, um mal wieder um 4.30 Uhr pünktlich hochzukommen. Dann schaff ich morgen zumindest die Rohfassung des Texterls; daneben werde ich letzter Hand über den Mozartl gehen und ihn nach Salzburg mailen. Abgesehen von den neuerlichen erotischen Aufschäumungen denk ich an Ω, sehr, aber ruhig, besonnen, abwartend. – Und jemand ganz anderes, in völlig anderem Zusammenhang, drückte eine leise Eifersucht aus, man könnte schreiben Eine Art Eifersucht, schöner Buchtitel übrigens. Denn es ist ja keine (kann keine sein), sondern ist ‚w i e’. Das hat mich freischwebend nachsinnen lassen, ganz unkonkret: wie man nach kleinen Fliegen hascht, die gar nicht da sind und dennoch um die Netzhaut schwirren von Zeit zu überraschter Zeit. Die >>>> Diskussion über Kunst, hübscherweise durch Holmes initiiert, laß ich erst einmal gehen; wenn Sie, meine Leser, sie weiterführen, ist mir das recht. Ich mag nicht über Relativismen streiten…

…. – fast vergaß ich’s, dabei ist es von eminenter Bedeutung:
Zum ersten Mal am neuen Berliner Hauptbahnhof angekommen, der nunmehr eröffnet ist: in der T i e f e angekommen, was man aber nicht merkt. Dann geht es die Steige entlang, die Rolltreppen hinauf, überall Glas und Glasfluchten, riesig, atemberaubend die gegeneinander versetzten, auf mehreren Ebenen einander kreuzenden Geleislinien… Züge, die o b e n fahren, unten fährt, senkrecht darauf, der ICE, und ganz oben dann Regionalexpress und S-Bahn… das Unten wird zur schnellsten Verbindung, ich starrte und starrte (die Jungens starrten auch): Zuletzt habe ich annähernd Vergleichbares in Kyoto gesehen, auch da war ich bereits hin und weg – und es ging in das zweite ANDERSWELT-Buch ein. Nun werde ich morgen ganz unbedingt noch einmal zu diesem Hauptbahnhof hinfahren und werde darin herumflanieren, eine, vielleicht zwei Stunden, groß genug ist es ja, werde Fotografien machen und alles noch nachträglich in ARGO mit einbauen. Das ist ein Unbedingt. Selten hat mich „Zukunft“ einmal wieder so überzeugt.