Hülsen & Strings.

Wir sind um die Informationen, die wir tragen, herumgewickelt. Das „wir“ ist Teil des Behältnisses und dieses selbst ein Teil der Informationen: alles zielt auf Weitergabe, die im organischen Leben „Vererbung“ genannt wird. Dennoch sind wir nicht, im herkömmlich verwendeten Sinn, „Hülsen“, sondern viel eher strings: die Hülse-selbst ist eine Funktion der Informationen; eine andere ist die Persönlichkeit als zumal dasjenige, was sich dieser Erkenntnis dadurch zu entziehen versucht, daß es ein Privates proklamiert. Je infomatischer eine Gesellschaft nun wird, desto stärker auch die Gegenmacht, die an der Freiheit des Subjektes festhalten will, weil sie das einzige wäre, das die Vorstellung einer wesenhaften Ich-Person erlaubt. Das, was wir nicht teilen (wollen), nennen wir privat, und zwar gegen das bessere Wissen, daß alles, als Information, die es ist, ohnedies ‚geteilt’, also auf mehreres anderes wechselwirkend bezogen ist und bezogen sein muß. Es wäre sonst entropisch und das Persönliche, das sich zugleich gegen diese Erkenntnis mit Begrifflichkeiten wie solchen der Privatheit abschottet, überhaupt nicht vorhanden.
Insgesamt ist die Kategorie einer autonomen Substanz (des ‚Wesens’) so wenig mehr haltbar wie die des Akzidentiellen. Es g i b t nicht das private Ich – nicht anders jedenfalls als in Form eines Vorscheins, der das Eigentliche Wirkende überstrahlen – der darüber hinwegtäuschen soll.

(CCCLXXXIX).

26 thoughts on “Hülsen & Strings.

  1. kinder und privatheit ich habe in ihrem tagebuch die yugiohkarten-geschichte gelesen und nun das obere eben…es ist IHRE haltung dazu…glauben sie nicht,dass man erst lernen muss,was “privat”(sicher auch nur eine begrifflichkeit für etwas ganz besonderes in diesem fall) ist,bevor man diese ,”ihre theorie” entwickeln kann?geheimnisse haben,nicht für jeden zugängliches..manches nur für die freunde ,manches nur für die eltern gehört zu den kindlichen entwicklungsphasen dazu,wichtig um ein ich zu entwickeln…und erst dann kann jeder entscheiden wie er anschliessend damit umgeht..ich weiss,dass ich hier in ein wespennest steche und respektiere dennoch ihre haltung(obwohl ich zugebe,dass diese haltung leider auch in den medien so präsent ist,dass ich mich wirklich frage,wie kommt es ,dass so viele menschen glauben,dass ihr ganz alltäglicher kram so dermaßen interessant ist?in puncto semiprominenz wird es auch kommerziell genützt,vorallendingen “wie”?!!!..und wie alles hat es zwei seiten)dennoch halte ich es für sehr wichtig,jedem diese entscheidung selbst zu überlassen,woran man nun die allgemeinheit teilhaben lassen möchte oder auch nicht ich denke ,dass es gerade in bezug zu kindern ein thema ist,in das man nicht eingreifen sollte,ohne sich vorher sehr klar und genau mit entwicklung zu beschäftigen,denn oft verbirgt sich dahinter etwas anderes…ablösesprozesse in der pubertät sind fast durchweg von “das geht dich nichts an ” geprägt…sie haben doch damals sicher auch nicht ihre tagebücher ihrer mutter beim morgendlichen frühstück vorgelesen?…allerdings wirft das in mir gerade die frage auf,kann es denn dann gültigkeit haben,was sie oben schreiben,wenn kinder das empfinden?..ist es nicht vielmehr so,dass es eine unterschiedliche empfindung ist,temperament und charakterlich bedingt..oder in immer weiteren grenzen im leben erweitert?für die allgemeinheit zuträglichem gedankengut in form von philosophie,kunst und literatur finde ich es schön, angeregt zu werden…aber regt es mich wirklich an,was jürgen drews ehefrau in ihrem kleiderschrank hat?wo liegen die grenzen zum exhibitionismus?ist es nicht oft ein prozess,der dort enden könnte?

    1. Sie haben da völlig recht. Ich widerspreche auch nicht. Nur daß d i e s e Äußerung in einem Zusammenhang steht, der wiederum an Die Dschungel und meine sonstige Publikationsgeschichte geknüpft ist, also an etwas, das ohnehin bloßliegt und schon deshalb besprochen werden sollte.

      Selbstverständlich interessiert nur dann, was jemand im Kleiderschrank hat, wenn sich daraus Folgen herleiten, etwa im hiesigen Fall ästhetischer, in anderen Fällen politischer Natur – und zwar Folgen, die auf Allgemeines zurückwirken. Danach wird in Der Dschungel und in vielen meiner Bücher Ausschau gehalten. Da in meinem Fall um Privat(Nicht-privat öffentlich sehr gestritten wird, ist das etwas, das sehr wohl mit speziell diesem Kind zu besprechen ist. Es wird so oder so Auswirkungen der Streitfälle mitbekommen – schon deshalb muß darüber gesprochen, aber zugleich die Entscheidung des Jungen respektiert werden. Mehr ist hier nicht zu sagen, mehr gehört hier nicht hin; m e h r würde ich dann tatsächlich,mit Freunden, Geliebten, jedenfalls Nahen, ‘privat’ besprechen.

      Ihren Vergleich mit der yellow presse finde ich allerdings hier unangebracht. Der Boulevard-Tratsch geht ja gerade n i c h t nach innen, auch nicht ins Innen der Betratschten, sondern verbleibt wohlwissend an den Oberflächen, dem Glamour. Selbst bei entsetzlichen Nachrichten wird stets nur das weitergeleitet, was sich vorzugsweise schockhaft konsumieren läßt – nicht aber, was unvoreingenommen bedacht werden müßte. Man müßte sich erst einmal klar darüber werden, was denn unter “privat” eigentlich verstanden wird. In diesem Sinn hieß es bereits nach 68 nicht völlig unzutreffend, das Private sei das Politische. (Der Begriff Privatheit entstammt tatsächlich der anhebenden Warengesellschaft; in agrarorientierten, dörflichen Lebensgemeinschaften gab es ihn so gut wie nicht – und das hatte nichts mit diktatorischen Gesellschaftsformen zu tun. Sogar das deflorationsbesprengte Laken wurde mancherorts nach der Hochzeitsnacht hinausgehängt. In unseren Ritualen der Eheschließung wittert davon bis heute etwas mit – sonst wären auch s i e privat.)

    2. “Privates Innenleben” ist Bestandteil einer “Liste der menschlichen Universalien” von Donald E. Brown. Auf dieser Liste sind hunderte von Merkmalen versammelt, die sich in jeder je dokumentierten Gesellschaft nachweisen lassen. Also muss sich das auch auf Gemeinschaften beziehen, die noch nie von “anhebender Warengesellschaft” gehört haben. Allerdings ist laut Brown auch “Reziproker Tausch (von Arbeit, Gütern oder Dienstleistungen)” eine menschliche Universalie. Es könnte also sein, dass sowohl ein Begriff von Privatheit wie auch von Warentausch schon länger und verbreiteter existieren, als Ihr erster Satz in der Klammer dies nahelegt.

      “Man müßte sich erst einmal klar darüber werden, was denn unter “privat” eigentlich verstanden wird. In diesem Sinn hieß es bereits nach 68 nicht völlig unzutreffend, das Private sei das Politische.”

      Den Zusammenhang zwischen beiden Sätzen verstehe ich nicht. Sagte man nach 68 “Das Private ist das Politische”, weil auf diese Weise geklärt werden sollte, was denn nun eigentlich “privat” bedeutete?

    3. RE: Hülsen & Strings. Werden wir uns klar darüber, was unter „privat“ verstanden wird!

      Laut Kluge versteht man unter „privat“ im ur-sprünglichen Sinn:

      AdjAdjektiv std.Standardwortschatz (16. Jh.)Entlehnung

      Entlehnt aus l. prIvAtus, eigentlich “abgesondert (vom Staat)”

      Nach dem Duden, „Das Fremdwörterbuch“:

      privat
      …“(der Herrschaft) beraubt; gesondert, für sich stehend; nicht öffentlich“

      1. die eigene Person angehend, persönlich
      2. vertraulich
      3. familiär, häuslich, vertraut
      4. nicht offiziell, nicht öffentlich, außeramtlich

      „…das Private sei das Politische“, nun ja, teilweise. Nach den Punkten 1-3 des Dudens erkenne ich hier das Politische im umgangssprachlichen Bereich aktueller Lesart nicht, sondern das p e r s ö n l i c h e, also die eigene Person betreffend. Demnach bezieht sich die Bemerkung Ihres Sohnes durchaus darauf, das im übersetzten Sinn Sie – als Vater – der Herrschaft über den p r i v a t e n Besitz des Sohnes beraubt sind und nur durch sein Einverständnis hin Zugang zu seinen Spielkarten haben sollen. Ein, wie ich denke, wichtiger Schritt in Richtung Menschwerdung. Zumindest in unserer Gesellschaftsform. Sollte er etwas anderes anerzogen bekommen, wird er es später im Umgang mit anderen Menschen nicht leicht haben und eventuell verblüfft feststellen, dass man ihn früh der Freiheit beraubt, wenn er wiederholt nicht zwischen „mein“ und „dein“, „privat“ und „öffentlich“, „gut“ und „böse“ unterscheiden kann.

      Das man im Mittelalter eine andere Kultur pflegte, ist allgemein bekannt und ich bin sehr froh, dass wir n i c h t in einer solchen Zeit leben müssen!

      Das wir so etwas wie „das Private“ haben, ist eher als Privileg zu sehen – oder streben wir zurück zu den Zeiten der DDR („Das Leben der Anderen“), als unzählige technische Helferlein in den Händen zahlloser Spitzel dafür sorgten, dass das Private nicht mehr privat war und der Staat den Menschen überallhin kontrollierte? So etwas muß ich nicht haben. Ebenso glaube ich nicht, dass Sie auf der Strasse, händchenhaltend mit Ihrem Sohn, von einem Kamerateam heimlich gefilmt, sich in den Abendnachrichten wiederfinden wollen, in einem Beitrag mit Kinderschändern assoziiert. Da hätte man Sie nämlich Ihres Rechts auf das eigene Bild beraubt, was ja auch nichts weiter wäre, als die Wegnahme einer „Privatsache“. Denn das Private wird hier von Gesetz wegen geschützt, gegen Missbrauch und Manipulation – oder wer, meinen Sie, sollte die oberste moralische Instanz sein, darüber zu walten, welche Information in welchen Zusammenhang korrekt dargestellt wird? Verzeihen Sie den drastischen Vergleich von eben, aber da bleibe ich lieber beim Privaten und dem, wie der Begriff „Privat“ hier in diesem Land gehandhabt wird.

      „Es g i b t nicht das private Ich…“, sagen Sie das mal den tausenden gefolterten Menschen, denen man das „Private Ich“ mit glühenden Zangen aus dem Leib gebrannt hat…

      Übrigens ist es auch das Privileg eines Jeden in unserer Gesellschaft, sich selbst zu exhibitionieren, selbst darzustellen. Dies hat meiner Ansicht nach aber dort seine Grenzen, wo Dritte, wenn auch Beteiligte, in diesen Exhibitionismus nicht mit einbezogen werden wollen. Kleiner Wink mit dem ganzen Zaun: welcher Unternehmer hätte es schon gerne, wenn „vertrauliche“ (Duden Punkt 2.) Informationen des Betriebes sich im Blog eines Mitarbeiters veröffentlicht finden, der wie Sie das Wort „Privat“ nach seinem Gusto definiert?

      Es ist erstaunlich, wie Sie in Bezug auf das „Private“ eine Gleichmacherei betreiben, wenn es um die Kunst und die Schriftstellerei geht auf Ungleichheit, auf Unterschiede, auf Abgrenzung des Standes durch Bildung und Reputation beharren! Das erzeugt in mir den Eindruck, Sie beugen die Dinge, Begriffe, Ansichten so, wie es Ihnen gerade passt.

      Ihre Paralipomena in Ehren, aber in dem oben verfassten Text scheint es sich ja wohl mehr um ein aus der Not geborenes Hilfskonstrukt zu handeln, welches die letzten hundert Jahre soziologischer Forschung nicht berücksichtigt. Das liest sich mehr nach „quantenphysikalisch-chaostheoretisch-genetisch-mythisch-postmoderner Quacksalberei“.

    4. @ PRIVAT. Hübsch, daß Sie mit dem Unternehmer kommen. Der seine Geheimnisse nicht öffentlich verbreitet wissen will. Klar will er das nicht. Von solchen Geheimnissen hab ich in meiner Börsenzeit genügend erlebt.

      Im übrigen gilt die GEWALT DES ZUSAMMENHANGS: Da ich kein Einzelner, sondern in soziale Verbände befangen bin, kann ich letztlich g a r nichts Eigenes mehr veröffentlichen, da i m m e r jemand anderes betroffen ist. Und, was den Foltervergleich anbelangt, so ist Privates etwas anderes als das individuelle Leid, das i m m e r Einzelnen zugefügt wird – aber, i n d e m es immer Einzelnen zugefügt wird, einen Allgemeinen Character nicht bekommt, sondern ausdrückt. Sowohl Auschwitz als auch Guantánamo sind im Wortsinn schlagende Beispiele dafür. Am Ende Ihrer “Überlegung” zur pc steht das völlige Schweigen gegenüber dem Machtmißbrauch.
      Das “Private” ist mitnichten ein Gegenentwurf zum “Unterschied”. Sondern der Unterschied ist ein anderes. Der Unterschied ist da, gar keine Frage (wer von uns hat schon gleichgeformte Ohren?); dieses aber ist ein physisches Phänomen, das Private hingegen ein Gesellschaftliches, ein Gemachtes. Und Unterschiede von “gut” und “böse” ist einem Kind nun g a r nicht beizubringen, sonst faßt es etwas ontologisch auf, das phänomenologisch – und zugleich ideologisch – ist – also eine Sache der Wahrnehmung und des Glaubens, mitnichten aber eine Sache des Seins.
      Im übrigen muß, denke ich, das Private in seinen jeweiligen funktionalen Zusammenhängen betrachtet werden. Ganz sicher war das Private zu DDR- oder sonstigen totalitären Zeiten ein We r t – aber eben im Sinn eines moralisch P o s t u la t es, nicht etwa einer tatsächlichen Entität – und derselbe Wert kann in anderem Zusammenhang eine auch moralisch völlig entgegengesetzte, restriktive Wirkung entfalten – eine unheilvolle… und zwar so weitgehend, daß sie letztlich in den kompletten Untergang führt.

    5. @ a. Mit Warengesellschaft habe ich. Die kapitalistisch organisierte Gesellschaft gemeint.Das schien mir klarzusein. Da es das offenbar nicht ist, ergänze ich: verdinglichende Gesellschaft – bzw. diejenige, die aus Unterschieden unter abstrahierender Substraktion derselben handelbare Äquivalenzen herstellt. Mein Argument zielt demzufolge auf die Geldform und auf das Eigentum imSinne von etwas, das vererbt werden kann (also nicht selbst errungen werden muß). “Das Private ist das Öffentliche” hat sicherlich gemeint: Im Privaten wird das Öffentliche offenbar. Etwa im Sinn meiner Überlegungen zum (sexuellen) Mißbrauch (von Mädchen; es sei denn, die Jungen wären – in dem Fall: anal; symbolisch ist das wahrscheinlich egal – penetriert worden – was strikt von Mißhandlung zu unterscheiden ist). Es wird im Privaten e h e r offenbar als im Öffentlichen: Genau das ist meine These.

    6. Bzgl. Warengesellschaft: Der Unterschied zum reinen Warentausch war mir schon klar, lieber ANH, ich hatte zunächst nur darauf hinweisen wollen, dass “Privates Innenleben” (das ich aber hier auch nicht definieren kann) sowohl zeitlich als auch geographisch unabhängig von Ihrem Zusammenhang mit der Warengesellschaft existierte und existiert. Einmal in die Liste der menschlichen Universalien vertieft, fand ich dann auch noch das Tauschprinzip, angewandt auf Arbeit, Güter oder Dienstleistungen, was mir doch zumindest ein Vorläufer der Warengesellschaft zu sein scheint.

      Ich hatte also eigentlich sagen wollen: Es gab und gibt einen Begriff von Privatheit VOR und NEBEN der Warengesellschaft, also kann es keinen so exklusiven Zusammenhang zwischen beiden geben. Ich würde eher einen Zusammenhang zur menschlichen Natur herstellen. Das würde auch erklären, warum “das Private” (auch wenn jeder etwas anderes darunter versteht) so resistent ist gegen Eindringlinge aller Art und gedanklichen Herkunft.

    7. Es ist nicht resistent, A. Sondern ganz im Gegenteil wirken die Zeitzusammenhänge und ihre moralischen/das Selbst defnierenden Postulate auf das e i n, was als privat empfunden wird. Daß es – als Empfindung – diesen Bereich gibt, ist nicht bestritten, aber daß es sich um einen absoluten, also unabhängigen, nicht wandelbaren handelt. “Privatheit” ist vielleicht als Begriff eine menschliche Universalie, aber als Begriff ist sie leer. Was wir darin finden, wandelt sich von Zeit um Zeit und von Kultur um Kultur und, vor allem, ist selbst unter den Menschen ein- und derselben Kultur in ein- und derselben Zeit sehr verschieden. Meine Ahnung ist – besser: mein Instinkt läßt mich das riechen -, daß der Inhalt der Privatheit direkt von den gesellschaftlichen Grundlagen abhängt: er ist ihr – oft affirmativer – Reflex – und zwar ganz so, wie die Gestaltung von menschlichen Hoffnungen etwa im Pop die Realisierung dieser Hoffnungen gerade verhindert; pervers ausgedrückt: am Kitsch macht uns glücklich, daß er so tut, als w ä r e bereits die Hoffnung realisiert. Das entzieht einer wirklichen Realisierung die nötige Energie. Ebenso, fürchte ich, steht’s um das Private. Es soll v e r b e r g e n. Was, psychisch gesehen, einer bewußten Verdrängung gleichkommt.

    8. Da stimme ich Ihnen zu: bei der Wandelbarkeit, bei der Wirkung der Zeitzusammenhänge auf das “private Innenleben”. Aber es muss, dies wiederum nur eine “Ahnung” von meiner Seite, einen Kern geben, der bleibt, auch wenn sich sein äußeres Erscheinungsbild verändert. Ein Kern, der mehr ist als ein “leerer Begriff”.

      Denn irgendwoher muss doch diese Kraft kommen, mit der sich so viele Menschen gegen das Eindringen in ihre Privatsphäre – wie auch immer diese in der jeweiligen Kultur oder Zeit oder bei einem Individuum aussieht – wehren. Das meinte ich mit resistent: So verteidigen viele ihr Privates gegen Versuche von außen, das Private öffentlich zu machen. Ich meinte mit resistent nicht, dass das Private zeit- oder kulturunabhängig sei.

    9. Menschen haben die Illusion, sie seien ein autonomes Ich. Menschen glauben an zumindest innere Freiheit. Zugleich jedoch, wenn sie dem nachspüren, beginnen sie zu ahnen, daß es mit dieser Freiheit nicht sehr weit her ist, sondern daß alles – auch das eigene Verhalten – immer Gründe hat, die hinreichend und so notwendig groß sind, daß nach ihnen entschieden wird. Wären nämlich die Gründe jeweils gleich stark, wäre keine Entscheidung möglich. Man würde sie dann dem Zufall überlassen – also Umständen, die auf uns zufällig w i r k e n, aber das ebenso wenig sind. Dem Zufall oder der Laune, wobei, wie jemand gestimmt ist, ebenfalls Gründe hat.
      Das Private nun hält den Vorschein aufrecht, daß es anders sei. Insofern hat es etwas Religiöses und wird ja auch entsprechend behandelt: sein Bruch kommt einem Tabubruch gleich. Tabus aber beschreiben etwas, das man nicht tun soll, ohne nachzufragen: J e d e s Tabu zeichnet dieses Frage- und also Denkverbot aus; deshalb i s t es ja eben ein Tabu und nicht einfach nur ein Verbot, das man bei entsprechender Gesetzgebungslage modifizieren kann.
      Diese gesamte Diskussion um das Private vermittelt, man kann das geradezu lehrbuchhaft hier nachlesen, bei allen Beteiligten (selbstversändlich auch mir) den Geschmack einer Tabu-Diskussion, bei der die meisten an dem Tabu festhalten wollen und entsprechend sanktionierend vorgegangen wird, steht einer auf und stellt es in Frage. Schon d a ß einer das tut – nur einer reicht völlig -, wird als Tabubruch erlebt und geahndet. Im Privaten-selbst wird dann mit Liebesentzug sanktioniert: Denn wer das Tabu bricht oder auch nur brechen will, wird aus der Gemeinschaft der Gläubigen ausgeschlossen. Er wird Ketzer.

      Diese Kraft, die Sie meinen, ist die Kraft der Verdrängung: und jemanden aus der Gemeinschaft zu drängen, ist ihr gesellschaftlicher Reflex:: er tut’s den inneren Prozessen äußerlich nach.

    10. Aber doch hübsch, dass ein nicht autonomes Ich immerhin in der Lage ist, die Illusion eines autonomen Ich zu erzeugen. 😉

      Setzt der Wunsch nach Privatheit den Glauben an ein autonomes Ich voraus? Also ich zum Beispiel mache mir bezüglich des autonomen Ich keine Illusionen, verspüre aber doch hier und da das Bedürfnis nach Herstellung und Wahrung von Intimität. Das was die im Tagebuch erwähnten Frauen Ihnen sagten (i.S.v. man will zu zweit was haben, was man nur zu zweit hat), das kann ich mit jeder Faser nachempfinden.

      Die Verdrängung, die Sie erwähnen, könnte evolutionsbedingt sein: Ich will meinen hübschen privaten Kosmos vor äußeren Einflüssen schützen, damit sichergestellt ist, dass mein Männchen/Weibchen seine/ihre Gene nicht in alle Winde verstreut, sondern sich um uns und unseren Nachwuchs kümmert. Etwas Ähnliches vollzieht sich dann noch auf einer höheren Ebene, also dort, wo es um die Erhaltung einer größeren Gemeinschaft geht. Wer sich diesem Bestreben widersetzt, sei es als Angehöriger der Gemeinschaft oder als äußerer Feind, der hat in der Tat oft nichts zu lachen.

      Aber sooo einfach gestrickt sind unsere heutigen Gesellschaften dann wiederum auch nicht. Sie (also Sie) haben doch mehr Freunde als manch unauffälliger “Mitläufer” das von sich behaupten kann!

    11. RE RE: Hülsen & Strings. Meiner Ansicht nach geht das, was wir das Private nennen, bis auf die genetischen Grundbedingungen zurück. Klopfen Sie mal die Urgeschichte und die Menschheitsgeschichte auf den Begriff Privat im Sinne von Vertrautheit und Schutz ab. Die Zelle schützt sich durch eine Zellwand gegen die schädlichen und tödlichen Einflüsse von außen. Der Mensch schützt sich durch eine Höhle und später durch ein Haus mit einem Dach darauf vor der Umwelt. Der Mensch nimmt seine Artgenossen ja – leider meist zu Recht – als etwas wahr, wovor man sich schützen muss. Das dies unterschiedliche kulturelle Abstufungen besitzt, ist mir schon klar. In Deutschland haben wir meist Gardinen und Vorhänge vor den Fenstern, als Sichtschutz, um das Private zu schützen, in den Niederlanden ist dem nicht so – aber auch die Holländer leben häufig in Einfamilienhäusern und nicht in Hallen oder im Freien mit ihren Mitmenschen zusammen. Überlegen Sie mal die zahllosen Nachbarschaftsstreitigkeiten, die meist um den Schutz des Eigentums und der Privatsphäre geführt werden. Diese Streitigkeiten waren kulturgeschichtlich bestimmt schon v o r den Gesetzen da, die solche Streitigkeiten in der Ö f f e n t l i c h k e i t schlichten sollten. Die Privatsphäre dient auch dazu, den R a u m zwischen den Menschen weit genug zu halten, damit man sich nicht gegenseitig b e d r ä n g t. Selbst wenn in überfüllten Städten dieser Raum meist nur in den Köpfen der Leute existiert. Hier gibt es interessante Versuche mit Ratten, die belegen, dass bei zunehmender Population in einem Käfig die Aggressivität unter den Tieren enorm zunimmt und es irgendwann zu Gewalt, Vergewaltigung und Kannibalismus kommt. Gibt man den Ratten dann wieder mehr Raum, verflüchtigt sich dieser Effekt rasch wieder.

      Ich meine, dass Privatsphäre eben dieser Rückzugsraum, dieser Sichtschutz ist, den die Menschen n a t u r b e d i n g t, also durchaus genetisch gesteuert, brauchen. Da hilft keine noch so kluge Philosophie weiter. Keine Utopie wird dieses System aufbrechen, so lange kein evolutionärer, also genetischer Schritt dazu führt, diese Instinkte aufzubrechen und zu verändern. Nur, was würde das dann für die Menschen bedeuten? Wäre dann alles erlaubt, was zuvor verboten war? Jeder lebt dann nach seiner Vorstellung? Dann wären wir bald in einer schlimmeren Gesellschaft als der des alten Roms unter Caligula – Brot und Spiele und den Herbst zum Löwenfrühstück! Natürlich wäre das eine Alternative…

    12. Anti-Hölderlin. Denn wo Rettendes, wächst auch Gefahr. Das Private als einen wie auch immer gefüllten Schutzraum, sei es von Einzelnen, von (Glaubens- oder sonstigen) Gemeinschaften zu betrachten, scheint mir insgesamt mit Ihrer genetischen Spekulation überaus schlüssig zu sein; möglicherweise ist der Fliehkreis des Tieres das gegenwärtig schlagendste noch natürliche Beispiel: die Distanz, die ein anderes Tier nicht überschreiten darf, ohne daß entweder geflohen oder angegriffen wird. Einverstanden. Nur sind diese Fliehkreise in ihren sublimierten vergesellschaftlichten und vor allem verinnerlichten Formen Z w e i t e Natur, wenn nicht unterdessen schon eine Ditte (worüber ich bereits an anderen Stellen schrieb), und der Zugriff auf ihre Begründung ist verlorengegangen. Manches hat sich als Gefühl chronifiziert wie eine Allergie, die einmal wirklichen Grund hatte, nun aber als gelernte Reaktionsform auch da zutage tritt, wo sie entfremdetes Symptom ist.
      Das ist das eine. Das andere ist, daß die Inhalte und Empfindlichkeiten solcher Privatheiten ausgesprochen verschiedene und verschieden graduiert sind und sich dies alles eben kaum mehr anders als rein abstrakt, also als F o r m, begreifen läßt, die ein Klischee ist: ein an jeder möglichen und unmöglichen Stelle auswechselbares eingesetztes Druckbild. So wird dann auch normatives Recht gesprochen. Oft richtet es sich – die Dynamik wie die Rechtsprechung – sogar gegen das eigentlich zu schützende Interesse, das eine Befreiung will, aber sich, weil es sich bei diesem Privaten eben um ein Tabu handelt, die Befreiung selber verstellt. Dieses betrifft vor allem moralische und ganz besonders sexuelle Inhalte, deren Verschweigen zu einem restlos verschobenen Menschenbild und seinerseits zu heftigen Repressionen führt. Etwa >>>> am Beispiel von “Wie es die Europäer tun” habe ich solch eine Dynamik kürzlich hier ausgeführt (die Eintrag um 23.39 Uhr).

      Im übrigen war das Rom unter Caligula alles andere als ein rechtloser Raum, nur daß, wie in jeder Tyrrannei, das Recht willkürlich und j e w e i l s gesetzt werden konnte. Mit so etwas haben ja auch wir Deutschen eine sehr deutliche – wenn auch, zumindest in dem einen Fall, selbstgewollte – geschichtliche Erfahrung gemacht. Nun führte eine sagen wir ‘lockere’ Behandlung des Privaten ganz sicher n i c h t in ein Zwangssystem – nicht in einer libertären Gesellschaft, während das Private gegenüber einer totalitären Regierung ganz sicher einen Widerstand bezeichnet. Hier sollte genauestens differenziert und sich angesehen werden, wo denn das Private unterdessen Fetisch ist (also Tabucharakter hat) und wo es tatsächlich dem Schutz – und wovor – dient. In der vorangetriebenen Warengesellschaft ist es seit der Industrialisieung eine Absatzbedingung; nur d a s meine ich. Und daß man sich schon deshalb davor in Acht nehmen sollte, es zu ideologisieren. Eine flüssige Behandlung, die jeweilig ist, wäre angebracht; nur eignet sich so etwas nicht für normatives Recht. Daß das Private juristisch normiert worden ist, leitet sich, wie Sie richtig schreiben, aus dem Schutzbedürfnis gegenüber doktrinären Regierungen her. Unter einer solchen Regierungsform leiden wir aber nicht mehr, und wir müssen uns auch nur noch in seltensten Fällen gegen erneut sich bildende Spuren von Tyrrannei wehren. Wichtiger scheint mir deshalb die Notwendigkeit zu sein, die Mechanismen zu untersuchen, in denen das Private als ein Kapo des Verdrängens auftritt. Und für dieses gilt in jedem Fall die Wi(e)derkehr an verschobenem und dann auf seine wirklichen Gründe (Ursachen) kaum noch entschlüsselbarem Ort.

      Bitte verstehen Sie mich recht: Ich folge bloß einer Spur und bin in meinen Schlüssen durchaus nicht endgültig. Deshalb wird hier diskutiert. Diese Diskussion gäbe es aber nicht, und vor allem nicht s o, ginge nicht Die Dschungel solchen Spuren nach – bei vollem Bewußtsein der Breitseiten, deren nicht ungefährlichem Aufkrachen sie sich dabei aussetzt. Jedenfalls danke ich Ihnen sehr für die weitere “genetische Spur”, auf die ich in diesem Zusammenhang noch gar nicht gekommen war und vielleicht auch nicht gekommen wäre.

    13. PRIVAT sagte: > Ich meine, dass Privatsphäre eben dieser Rückzugsraum, dieser Sichtschutz ist, den die Menschen n a t u r b e d i n g t, also durchaus genetisch gesteuert, brauchen. Da hilft keine noch so kluge Philosophie weiter. Keine Utopie wird dieses System aufbrechen, so lange kein evolutionärer, also genetischer Schritt dazu führt, diese Instinkte aufzubrechen und zu verändern.

      Das ist auch mein Eindruck. Und vermutlich deshalb prallen die Fronten häufig so unversöhnlich aufeinander. Rationale Argumente vs. Rückenmark. Unsere so genannte Zivilisation ist menschheitsgeschichtlich betrachtet noch sehr jung, und man liest bisweilen von dem “dünnen zivilisatorischen Firnis”, welcher irgendwo mal wieder aufgebrochen ist zu Gunsten von, wie es dann gerne heißt, “archaischen” Handlungsweisen. Bis es soweit ist, dass man von einem harten zivilisatorischen Kern (evtl. mit steinzeitlichen Spurenelementen) des Menschen sprechen kann, wird, wenn dies überhaupt eintreffen sollte, noch so mancher Gletscher abschmelzen müssen.

      Welches “Interesse” könnte die Evolution daran haben, Instinkte, die für Privatheit sorgen, einzuebnen? Wenn man sich anguckt, welche Gesellschaften derzeit weltweit die meisten Kinder kriegen, so sind es vor allem solche mit vielen Tabus und strengem Familiensinn.

      Manchmal erinnern Sie, geschätzter ANH, mich an Leute mit leicht autistischen Zügen, die Schwierigkeiten damit haben, die ungeschriebenen Gesetze des sozialen Miteinanders instinktiv zu erfassen, und die sich, wollen sie nicht ausgegrenzt werden, all dies mühsam über den Verstand erarbeiten müssen. Zum Glück funktioniert dieser meist exzellent, nur wirken die erlernten Verhaltensweisen dennoch in erster Linie antrainiert und nicht intuitiv wie bei mehr oder weniger “normalen” Zeitgenossen. Autisten in der leichten Asperger-Variante sind die klassischen Tabu-Verletzer, wobei das Tragische ist, dass sie dies ohne böse Absicht tun, ihnen aber von Unwissenden eine solche unterstellt wird (daher in der Schule oft extremes Mobbing). Ihre Passage vorne im Tagebuch: ” ‘Etwas nur für uns beide, etwas nur für das Paar, d a r u m geht es’ ist mir allenfalls logisch nachvollziehbar, aber ich fühle es nicht” passt hierzu.

    14. @ a. Daran ist vieles. Nur bin ich alles andere als autistisch, da ich ganz im Gegenteil auf Kommunikation a us bin. Ich kommuniziere nämlich offenbar auch das, was nicht kommunziert werden s o l l. Daher mein unbedingter Wille zur Publizierung. Der Autist will (darf) gerade das n i c ht. Demzufolge sind die Sachverhalte noch viel komplizierter. Für einen Autisten wäre gerade Die Dschungel unerträglich: Er wollte ja eben nicht über Sachverhalte spechen. – Nehmen Sie’s mir nicht übel: aber d i e s e s Argument spiegel ich auf Sie zurück. Und um das weiterzutreiben, weil mich die Konsequenzen interessieren: Gerade der Autist ist der radikalste Vertreter der Privatheit.

  2. empfindungen ganz interessant,was hier geschrieben wurde…und ich verstehe auch ihre these…dennoch …eine these ist eine these..keine empfindung…die grenzen sind fliessend und das,soweit ich hier gelesen habe,ist das,womit sie konfrontiert sind… es gibt menschen ,die das so anders empfinden als sie selbst…geht es dabei um richtig oder falsch?…ich weiss,es ist eine wichtige frage in bezug auf ihr erlebtes…dennoch ein künstler kann und muss es so bearbeiten können,dass es fiktion werden lässt…und damit lässt sich in meinen augen ihr problem eigentlich lösen…
    zu frau drews kleiderschrank und sonstigen medienereignissen wie big brother (was ich als unglaublich uninteressant empfinde)wäre noch zu bemerken,dass man nicht mit zweierlei mass messen kann…denn wo fängt es an und hört es auf?was ist noch kunst und wann wird es banal …und gelten dann andere thesen?
    zu den dschungeln wäre noch hinzuzufügen,natürlich gibt hier jeder preis,was er preis geben möchte..auch sie,herr herbst..sie schreiben zwar oft aus welcher kaffeemaschine ihr kaffee kam,aber über ihre gesundheitlichen dispositionen wissen wir wenig…lächelt..auch sie selektieren…und gut,dass sie das tun..denn sonst kämen sie nicht zu argo,hätten keine zeit für ihren sohn und ihre freunde…

    1. Oh, Frau china-blue, meine gesundheitlichen Dipositionen… Ich bin geradezu erschreckend gesund. “Ihre Lunge möchte ich haben”, sagte mein Arzt vor zwei Wochen, und ich betreibe nun wirklich derzeit Nikotin-Mißbrauch. Also, auch darüber zu sprechen, habe ich gar kein Problem: Ich habe wenn ich s e h r viel Leistungssport, inbesondere Kraft-Spot, betreibe, Schwierigkeiten mit den Sehnen… tendiere zu Sehnenscheidentzündungen, weil ich dem Körper angeblich zu viel abfordere (aber es gibt kein Zuviel, es gibt nur, was man will und darum durchsetzt). Ich schlafe zwischen vier und fünf Stunden täglich, selten mehr. Ich trinke Erkleckliches, ich habe einen sehr gesunden Rücken… verzeihen Sie schon, aber Sie dürfen das gern überprüfen.. es geht mir um L e b e n, nicht um Sicherheit – und wenn es mich dann treffen sollte, dann wäre es völlig okay. Was den Tod anbelangt, m e i n e n: ich habe nicht die Spur von Angst. Wenn er kommt, dann ist er genau zur rechten Zeit da. Vielleicht kapieren Sie ein bißchen von der Sicherheit, aus der heraus ich das sage. ABER: Ich habe eine furchtbare Angst davor, bei all dem allein zu sein. Und dieses “allein” ist sehr spezifiziert: Ich möchte nicht ohne meine Frau sein. Und ich möchte sie nicht überleben. Vielleicht ist es drum gut, daß sie so sehr viel jünger ist, als ich es bin. Und schon gar nicht möchte ich mein Kind überleben: das wäre mir das Furchtbarste. – Sie haben ehrlich gefragt, ich habe ehrlich geantwortet.)

  3. privates autonom bei der illusion des autonomen ichs spiegelt sich immer bindung. very simple: lädt jemand eine meute betrunkener skinheads in das schlafzimmer eines anderen ein, in dem vielleicht noch dessen kind zur nacht liegt, dann greift die autonomie, so illusionär sie sei. das ist hausrecht, oft benannt auch hier und selbstredend legitim. des anderen schlafzimmer ist nicht meins und dort meuten einzulassen (so wird es wohl empfunden) übergriff. zugegeben, mein beispiel ist plakativ aber um diese grenzen handelt es sich bei privatsphäre. um intimes, n´est ce pas? alles andere kann – und sollte! – benannt werden. aber: jede maske, die heruntergerissene auch, hat z w e i seiten, immer auch eine innere. bekanntlich sieht diese seite vollkommen anders aus, als wir denken.

    1. Hausrecht Es ist ja nicht von der Hand zu weisen, dass Ihre Argumentation stimmig ist, Herr bvl. Bitte gestatten Sie mir, ergänzend darauf hinzuweisen, dass der Kunst der Autonomiebegriff schnuppe ist, außer vielleicht der ihrer eigenen Autonomie. Zweischneidig, ja – wie Kunst es doch immer ist. Zwangläufig führt sie damit in den diskutierten Konflikt. Wie man damit nun umgehen mag steht auf einem anderen Blatt.

    2. unbestritten stimme da zu. die historie ist ja voll von beispielen die das untermauern.
      wenn ich bei meinem beispiel oben bleibe ist aber der autonomie (illusionär, egal) der kunstbegriff auch schnuppe wie sie sagen. darin verschärft sich der konflikt: aufeinanderprall von welten. wenn man nun den wert(mass-stab) auf kunst legt, muss man diesen konflikt evozieren, das ist mir klar.

    3. Einverstanden, bvl. Nur sind offenbar die Schlafzimmer jeweils verschieden ausgedehnt, und manch ein Schlafzimmer reicht auf die Straße hinaus… in der Empfindung, wohlgemerkt. Und ich meine, was ich hier in ein und I h r Bild fasse, nicht polemisch. Sowohl den Wissenschaften als vor allem den auf Konkretion angewiesenen Künsten bereitet genau das ein Problem, das eines ihrer Existenz ist. Die Grenzen sind, das ist e i n Punkt, fließend. “Wo hört Ich auf, wo fängt es an?” fragte mich die hochgebildete indische Tante einer von mir geliebten Frau: und verstand das Konzept der europäischen Identität nicht. Sie berührte meine Schulter, während sie fragte, um zu zeigen (und ich fühlte das), daß sie mein Ich schon berührt hatte, als ihre Hand gerade eben die sozusagen Aura ihres eigenen Körpers ‘verließ’, um in die des meinen zu dringen: meine Schulter wurde berührt, da lag die Hand noch lange nicht daran.
      Jede Handlung ist Übergriff, wenn man es s o sieht; weshalb Kunst fragt: w i e wird berührt? Hier kommen Sachverhalte ins “Spiel”, die etwas mit “ästhetischer Gerechtigkeit” und vor allem mit Schönheit zu tun haben. Gäbe es den Übergriff aber n i c h t, wäre auch die Schönheit nicht möglich. Beispiele dafür finden sich durch die gesamte künstlerische Weltgeschichte. Es waren auffälligerweise auch immer diese Werke, die schließlich überlebten, und zwar auch dann, wenn sie zu Lebzeiten ihres Verfassers verboten gewesen sind. Spätere Generationen entsinnen sich der Wahrheit, sie ist in der kulturellen Generationenfolge erhalten geblieben, und die Sehnsucht nach ihr brachte das Werk nun für, möchte ich sagen, a l l e Zeit ins öffentliche Licht.
      Hinzu kommt, daß j e d e künstlerische Äußerung, auch als verschlüsselte, decodierbar ist. Deshalb kann sie auch g l e i c h ihren eigentlichen Gegenstand zeigen: verfremdet nun nach den Notwendigkeiten von Text & Musik, nicht abr nach ‘privaten’ oder gar nach rechtlichen, die ohnedies in d i e s e Bereiche nicht vordringen, ihnen ihre Usancen nicht vorschreiben können.

    4. das WIE unterliegt eben auch der autonomie, der kohärenz von dem, was man als ich empfindet bzw. definiert. die gleiche berührung kann für einen wohltuend für nächsten schmerzvoll sein, der hat da eine wunde oder ist a n d e r s und so weiter. die frage wirft sich auf, was das w i e dann will. geht man nicht automatisch sanfter heran oder ist auch das der kunst sozusagen schnuppe wie frau the source oben richtig sagt. dass es selbsterhalt der kunst ist, den konflikt auszulösen damit eine berührung erfolgen kann ist vollkommen klar. das w i e wird aber ebenfalls von autonomieempfinden bemessen und beurteilt. auch dem einer nachwelt.

      p.s. zu ihrem nachtrag: das decodieren macht aber spass. ehrlich, man braucht keine romane mehr zu schreiben wenn man den plot gleich in drei sätzen hinlegen kann. ich bin begeisterter anhänger des decodierens

    5. Das “wie” liegt nicht in der Hand des Künstlers, als welcher eine(r) ja selbst autnom “ist” (also sich als so empfindet). Sondern dieses Wie wird von der F o r m und von der Art des Kunstwerks bestimmt. Die kann nicht gewählt werden, sondern ist, wenn es denn gelingt, immer notwendig. Diese Eigensetzlichkeit, die bei der Betrachtung des fertigen Werkes solch einen Eindruck von Evidenz macht, ist einem Naturgesetz gleich (bitte nicht mißverstehen: nicht:: “ist” ein Naturgesetz).

    6. Unter pragmatischem Gesichtspunkt ist das völlig richtig argumentiert. Und unter normaitivem, also juristischem, sowieso. Es geht aber an Kunstgrundlagen völlig vorbei und würde auch – was mein verbotenes Buch anbelangt, das für diese Diskussion allenfalls ein indirekter Auslöser war -in anderen Ländern teilweise grundsätzlich anders behandelt werden – je nachdem, was die jeweiligen Rechtssysteme vorsehen. In den USA etwa, die “freedom of speech” kennen, wäre das Buch vielleicht wegen der erotischen Inhalte indiziert worden; es hätte aber nicht im Rahmen eines Privatverfahrens verboten werden können. In Frankreich wäre es sehr wahrscheinlich insgesamt unangetastet geblieben. Das ist das eine.
      Zum anderen geht Ihre auch mir durchaus nachvollziehbare Argumentation an wichtigen Kulturgütern vorbei. Etwa läßt Dante völlig durchsichtig seine persönlichen Intimgegner im Inferno der Göttlichen Komödie schmoren – und bei Wagner war bereits zu seiner Zeit durchschaubar, wer die Vorlage für Beckmesser ist, dessen Name überdies als Bezeichnung für einen ganz bestimmten Inhalt ins Sprachgut einging. D a ß das Rechtssystem so reagiert, wie es reagiert hat, war mir niemals verwunderlich – zugleich gibt es ein ungeschriebenes (und nicht schreibbares) KunstRecht, das nach völlig anderen Kriterien Werke entstehen läßt – zumal es in meinem Fall in überhaupt keiner Weise darum ging, jemandem zu schaden, und es hätte dem Kläger auch nicht geschadet – sondern es wurden Geschehnisse erzählt und Fragen gestellt, die von allgemein-menschlichem Interesse sind und nahezu jeden von uns betreffen. Damit griff ich eine Anthropologie an, die sich als ‘naturgegeben’ darstellen möchte, wenngleich sie längst zerfällt. Dem Zerfall – also seiner Darstellung – will das Urteil entgegenwirken. Das Interesse des Klägers war aber ganz sicher ein anderes, ein tatsächlich-persönliches – wie auch immer man dieses ‘persönlich’ faßt. Im Fall meines verbotenen Buches kamen jedenfalls wenigstens zwei Interessen zueinander, die schließlich das Verbot ermöglicht haben. Wobei – und das nun ist die Kunstseite und ihre Beharrungskraft – das Buch zwar verboten ist, aber offensichtlich immer noch irgendwo aufgetrieben und gelesen wird – möglicherweise signifikant mehr als meine anderen Bücher. Daß ich davon existentiell nichts habe, ja persönlich-beruflichen Schaden und Mißachtung aushalten muß, mag bedauerlich sein; das wiederum ist aber dem, sagen wir, Kunstprozeß egal. Und ich wußte und weiß das.
      Die tatsächlichen Unter-Gründe beschreiben aber nun erst Die Dschungel: indem sie durch ihr Tagebuch ein allgemeines agreement kündigen. Es ist nicht heraus, wie lange dem Gegendruck standgehalten werden kann.

      Übrigens sind im engeren Freundes- und Bekanntenkreis Gemeinte i m m e r kenntlich; da nützt es auch nichts, sie “umzuschreiben”. Wenn da nicht kenntlich sein darf, muß sich Literatur grundsätzlich von der Realität verabschieden. (In der Tat könnte sich – sozilogisch/psychologisch – in dieser Bewegung der Erfolg von Harry Potter erklären: als einem Buch, das E r w a c h s e n e lesen. Gleiches gilt für den Historischen Roman.)

    7. @ Martin Pätzold Die Komplexität, die Sie anreißen und der ich zustimme, ist letztlich in jeder Sache gegeben, an der Menschen beteiligt sind, so pauschal sich das jetzt anhören mag. Beim Lesen fiel mir dann ein, dass die Unterscheidung, wenn denn überhaupt, erfolgreich an der Quelle getroffen werden kann, weniger bei den dynamisierten Auswirkungen. Sic: Bei der Intention. Ob eine Neo-Nazi-Veranstaltung als Performance deklariert wird, ist d a n n unwichtig: Die Intention ist nicht gegeben. Eine zur Kunst versteht sich.
      Kunst will berühren und im Moment der Berührung wird sie zu etwas Privatem. Nicht im juristischen Sinne. Sehr wohl aber im Empfinden des Betrachters, Lesers, Zuhörers usw. Diese fließenden und ständig metamorphenden Grenzen sind schwerlich in eine Struktur zu bringen, die eine exakte Einordnung erlaubt. Die juristische Welt, möchte man sagen, ist eine vollkommen andere als die der Kunst. Und in beiden gilt, dass ein Messer erst einmal ein Messer ist. Man kann damit Brot schneiden, kann damit wunderbare Figuren schnitzen, man kann damit Schaschlikspieße im Wald aus Zweigen zaubern, man kann damit töten. Das Messer aber als solches zu verbieten ist, gelinde gesagt, absurd. Oder führt, wie auch Ihr Beispiel bez. der Stasi-Funktionäre verdeutlicht, in eine pseudo-ethische Rechtfertigung von Zäsur und Zensur. Somit i s t Intention der Schlüsselpunkt.

      Kurze Anmerkung zur literarischen Arbeit: Ganz persönlich, das ist Teil meiner Selbstdefinition bzw. Autonomie, verschlüssele ich bei meinen Figuren immer. Herbst und ich haben da vollkommen verschiedene Zugänge. Ich kann nicht beurteilen, wessen durchdachter sind oder ob sich diese Frage überhaupt stellen sollte. Mir ist das, ehrlich gesagt, zu müßig. Dahingehend nehme ich selbst in vollem Bewußtsein an der sog. Illusion der Autonomie teil; es ist ein instinktives Behüten des Intimen von Menschen, die immer, ich betone: immer, Inspiration für die Kunst sind. Tatsächlich empfinde ich es zuweilen als große Herausforderung, prägnante Charakteristika so zu integrieren, dass niemand erkennt, wer mich zu einer Figur, einer Erzählung usw. inspirierte und wessen Charakter dort dann hervorblitzt.

    8. Privates – Öffentliches – Künstlerisches. Um meine ästhetische Intention, die derjenigen Source’s in der Tat in dieser Hinsicht nicht gleicht, etwas weiter zu verdeutlichen, hören Sie folgendes:
      Die Verschlüsselung derjenigen Wirklichkeitspartikel, die aus der Realität in den Text hineingenommen werden, führen zu einem K u n s t r a u m, der mehr oder weniger abgelöst von der Wirklichkeit, quasi als Neben-Wirklichkeit, erscheint. Das ist für sich genommen völlig in Ordnung, nimmt aber dem Kunstraum politische Kraft. Statt dessen ist die Gefahr groß, daß er ideologisch wird: also verdenkmalt. Im Gegensatz dazu habe ich seit DIE VERWIRRUNG DES GEMÜTS von 1983 in nahezu jeden meiner Romane, teils auch in die Erzählungen, wirkliche Personen a l s solche integriert, entweder nur über die Nennung eines Klarnamens (das können sowohl Personen des allgemeinen öffentlichen Interesses – Stars, Politiker usw. – als auch Personen des private Umkreises gewesen sein und weiterhin sein) oder über tatsächliche Character-Beschreibungen; das betrifft auch O r t e. Auf diese Weise e r d e ich Texte. Es geht nicht nur um eine Ästhetisierung von Wirklichkeit, sondern eben auch um Verwirklichung der Ästhetik. Dahinter stand und steht unter anderem der Gedanke, daß es für die Wahrnehmung eines Rezipienten keinen prinzipiellen Unterschied zwischen der einst wirklich existierenden Figur (!) Bonapartes und, sagen wir, Sherlock Holmes’ mehr gibt: Beide haben durch historischen Abstand rein dieselbe Wirklichkeitsvalenz. Napoleon Bonaparte ist eine Erfindung der Geschichte, denn er wird geglaubt (niemand Heutiges hat ihn je gesehen; man akzeptiert die Überlieferung als Schilderung realer Umstände). Die Geschichte Napoleons ist für uns eben eine Geschichte.
      Diese Dynamik habe ich, seit zu ich schreiben begann, aufnehmen und in die Romane hineinspiegeln wollen. Und zwar: um den Kunstraum für die Wirklichkeit zu öffnen. Man kann sagen: so, wie ich erfundene Figuren, etwa verstärkt im Netz, so agieren lasse, als wären es wirkliche (meine Figuren sind in vielen Chats unterwegs und unterhalten sich mit ‘realen’ Gesprächspartnern, woraus dann wieder Dialoge in den Romanen entstehen – f r e m dgesättigte Dialoge!), so lasse ich umgekehrt reale Personen zu literarischen werden. Ich hebe dadurch strukturell die Grenze zwischen Fiktion und Realität auf – und spiegele ein Verfahren, das eine der Grundlagen der gegenwärtigen, besonders börsenfundierten Marktwirtschaft ist. Meine Ästhetik entspricht dem, e r z ä h l t das. Ein etwaiges Überschreiten des Privaten Intimen ist also nie als ein Angriff auf etwas oder jemanden gemeint, sondern als eine Hereinnahme von Wirklichkeitsvalenz. Selbstverständlich unternehme und unternahm ich so etwas zu allererst einmal mit meiner eigenen Person – aber wenn ich das tue, bleibt es nicht aus, daß andere Personen mitverwendet werden – da ich keine Monade bin, sondern meinerseits in tätigem Austausch stehe.
      Dies ist einer der Grundpfeiler meiner Poetologie, und zwar in wirklich nahezu jedem Buch. Fällt e r, dann fällt das poetologische Konzept, das nicht nur ein narratives, sondern auch erkenntnistheoretisches ist, insgesamt. “Fallen” bedeutet hier: wird es – wie mir nun in einem Fall geschehen – verboten. Ein solches Verbot bedeutet allerdings nicht, daß der Text unwahr würde; er bleibt erhalten und wird ggbf. erst dann seine auch öffentliche Bedeutung erringen, weil und wenn die Beteiligten verstorben sind. Dieses Risiko muß ich tragen, und dieses Risikos bin ich mir bewußt. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als darauf zu hoffen und/oder zu setzen, daß etwaige Beteiligte mich tun lassen, was der ästhetische Weg hier will. Erheben sie Einspruch, werde ich – persönlich, nicht ästhetisch – verlieren. Hätten die an Nan Goldins fotografischem und hochgepriesenem Werk Beteiligten – ihre allesamt sehr sehr privaten Modelle – Einspruch erhoben, gäbe es auch dieses ausgesprochen bedeutsame Werk nicht – für uns alle nicht. Und die Kunstgeschichte der Gegenwart wäre eine andere.

      [Poetologie.]

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