Aus einem Totenhaus
Dorothea Dieckmanns grandioser, beklemmender, leuchtender Roman „Guantánamo“

[Geschrieben für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
und dort ungekürzt am 5. September 2004 erschienen.]

Es gibt nicht viele Bücher, die mich benommen entlassen. Eben nicht entlassen. Die mich bescheiden machen. Mich beschämen. Dieser Roman gehört dazu.
Aber das ist es nicht eigentlich.
Auch nicht die Geschichte selbst. Der 20jährige indischstämmige Deutsche Rashid besucht das Land seines Vaters, setzt die Reise zum Himalayah fort, wird nach Peshawar eingeladen, war is over, don’t be afraid. Er reist mit und wird während einer Demonstration verhaftet und nach Guantánamo verbracht – dem bis heute keinem Völkerrecht zugänglichen Gelände auf Kuba, das der US-Regierung für Beugung und Auslöschung von mit Terroristen vermeintlich in Kontakt stehenden Personen dient.
Nein, auch das ist es nicht.
Rashid wird Verhören und der Folter unterzogen. Rashid hat mit allem nichts zu tun. Das sagt er. Wird dafür mißhandelt. Er gibt eine Verbindung zu. Wird deshalb gefoltert. Er streitet die Verbindung ab. Neuerlich foltert man ihn. Um ihn herum Selbstmorde, Verkrüppelungen. Man lebt in einem Käfig, trinkt Wasser aus Fäkalienbehältern. Um den Nicht-Gläubigen beten fünfmal täglich die Gefangenen.
Auch das ist es nicht.
Auch nicht, wie Rashid beginnt, sich den Koran zueigen zu machen, das einzige Licht, das ihm jetzt irgendwie leuchtet. Wie er Utopien entwickelt von einer freien arabischen Welt. Wie er als Symbol dafür einen orangeroten kleinen Plastikkämpfer hat, orangerot wie die Häftlingskluft, einen Talisman (arabisches Wort!) von McDonald’s, vom Stützpunkt auf Guantánamo, nicht etwa aus Peshawar.
Auch das ist es nicht, wie sich Rashid allmählich entpersönlicht. Wach jetzt, hellwach, erkennt Rashid zuerst sich selbst, ein Bündel in weißen Stoff gewickelter, an den Rand gescharrter Knochen, in die ein frischer Schmerz einsickert. Wie ihn die Folter zugleich aufweicht und verhärtet. Wie sich das mit den Schreien der Experten in Menschenhaltung mischt, don’t move, don’t move, go-go-go, mit ihrem furchtbar hilflosen Zynismus, denn es sind Menschen, darin ist Rashid sich sicher; unter ihnen gibt es Frauen. Es tut weh, sie zu sehen, sie zu hören, von ihnen angefaßt zu werden.
Bisweilen glimmt kurz die den Wächtern sonst wegexerzierte Humanität. Etwa bei einem notturnohaft gefüsterten Zwiegespräch des Mitgefangenen Tarik und einer Soldatin:

Rashid hörte sie seufzen: „I won’t blame your Allah“, sagte sie. „Sleep now.“ Und ihre Schritte knirschten an Rashids Käfig vorbei.“

Daß der Schrecken so unbegrenzt ist, daß ihm internationale Intervention nicht in den Arm fahren kann, daß sich genau das in den Gesichtern der folternden Kapos spiegelt, macht einen der Schrecken dieses Romans aus. – Aber alles das, nein, ist es nicht.
Sondern neben dem poetischen Mut, den Dorothea Dieckmann hatte – neben der suchenden Verbissenheit, die sich keine Frage verbieten läßt, aber den Menschenrechtsskandal nicht objektivierend, also von außen her, schildert, vielmehr in die Haut und die Seele eines der Mißhandelten will und auch wirklich hineingelangt, – hierneben ist es die stupende Verfügung über die Mittel literarischer Introjektion, die diesen Roman zu einem der großen, vielleicht d e m ersten großen deutschen seit der Jahrtausendwende macht.
Dieckmanns Fähigkeit, die Sprachen miteinander zu verschleifen, aufeinander zu spiegeln, den Koran direkt aus dem Notwehrhaß der MP’s heraustönen zu lassen, und zwar den Koran auf englisch, arabisch und deutsch (was die Autorin selbstverständlich in die Handlung rückbindet), ist von furchterregender Schönheit. Genau da dringt der Roman in das Herz des Islams ein, in das eines toleranten, wohlgemerkt, eines unterdessen utopisch gewordenen, eines, den „el`όrence“ auf den Lippen hatte, der verzweifelt Mißbrauchte. Ein Islam, der über Sizilien die Wissenschaft nach Europa brachte, bis die spanisch-katholische Shoa begann, die Araber und Juden, gleichviel, ausrotten wollte. Eines Islams mithin, für den Gott immer schön war und im Klang ist.
Nicht der Islam der Talibans, darüber läßt das Buch keinen Zweifel. Aber es erzählt, wie dieser Klang in die fundamentalistische Umklammerung getrieben wird… und zwar im Herzen Rashids, des ungläubigen, säkularen Deutschen. In seiner Fantasie, das ist zu betonen. Denn keiner kam je frei aus Guantánamo heraus. Aber auch das ist wieder rein äußerlich gesprochen und berührt nicht Dieckmanns Roman-Poetik.
Näher rückt ihr schon die Betrachtung der Sätze, die oft kurz wirken, ohne das zu sein. Der Eindruck stellt sich wegen der weitgespannten syntaktischen Perioden her. Unerbittlich sind sie wie ein strenges Spiel nach Metronom. Nicht grundlos stellt Dieckmann dem Roman als Motto einen Text von Kafka voran. Noch näher kommt ihr ein Blick auf die Leitmotive, Seife, Shampoo, Gebetsöl, Gebetskette, Zahnpasta, Zahnbürste und der Trinkbecher aus Hartplastik, die sich im Totenhaus zu stehenden Symbolen einer aus ihm heraushalluzinierten Zukunft verwandeln. Andere werden in mehrdeutigen semantischen (politischen) Höfen realisiert:

Mitten auf den Pommes frites, wie ein ausgesetztes Kind, lag der kleine orangerote Kämpfer, kein Spielzeug, sondern einer wie er selbst, Rashid, ein Ebenbild, derselbe Anzug, eine Maske mit Flammenzacken und schwarzen Augenklappen und ein silberner Gürtel, an dem die Handschellen hätten hängen können.

McDonalds also, ausgerechnet, läßt die Haftkluft in den zerschundenen Seelen zu Uniformen der Befreiungsarmee werden.
Dann die Bilder, die sich aus meinem Kopf nicht verlieren: Die Sonne hat ihn geweckt und die Schmerzen angezündet. Und davor: Erinnerungen sind gefährlich. Sie bringen die Zeit in den Käfig, und dafür ist der Käfig zu klein. Zahllose solcher Formulierungen durchziehen den Roman, dessen erstes Kapitel von einer soghaften, atemlos eng verzahnten, ja più-stretto-haften Rhythmik angetrieben ist. Allein schon diese 20seitige Prosa wäre in jedes Schulbuch für die Oberstufe aufzunehmen, um zu zeigen: Das ist Dichtung, so hat Literatur zu sein.
Es gibt auch – wenige – Inseln der Ruhe. Eine davon ist seit Gottfried Keller (von Othmar Schoeck für alle Zeiten unanfechtbar vertont) die Eidechse: Symbol des fremden, fernen Lebens zugleich wie der ruhigen Schönheit, nach der ein lebendiger Toter sich sehnt:

Ob sie mein blaues Auge niederzog?
Sie ließ vom Zweig sich auf die Stirn mir nieder,
Schritt abwärts, bis sie um den Hals mir bog,
Ein fein Geschmeide, ruhend, ihre Glieder.

Ich hielt mich reglos und mit lindem Druck
Fühlt ich den leisen Puls am Halse schlagen;
Das war der einzige und schönste Schmuck,
Den ich in meinem Leben je getragen.

Bei Dieckmann liest sich die Kulminationsstelle so: Vor Rashids Augen wurde aus dem Meergrün ein helles Holzbraun. Die Eidechse verschmolz mit der Bretterwand. Sie rührte sich nicht. Es war ein Zauber, und er galt ihm.

Eine zweite Insel handelt vom Paradies, nämlich dem Jihad. Es ist eine Erzählung über die heutige Realität. Die der ewigen Stadt Damaskus. Die irgendeiner Stadt im Orient. Jeder, der ihn bereist hat, wird seine Sủks erkennen. Nach einem Selbstmordversuch deliriert sich Rashid in die Erzählung eines Propheten hinein, die manchen Gesichten seiner Reise von Alt-Delhi nach Peshawar aufs Haar genau gleicht:

Im Halbschatten blinkt es wie Glühlämpchen hinter den Scheiben von Spielautomaten. Von hier ist er aufgebrochen. Wo er gelegen hat, spielen Sonnenflecken auf farbigen Flächen: ein Mosaik aus Musikkassetten, ein Teppich bunter, an senkrechten Leinen nebeneinandergeklammerter Heftchen und lauter bewegliche Wände aus bedruckten Tüchern. Verstecke, Hinterhalte, Kulissen voller Rufe und Gelächter und stampfender Radiotrommelschläge, um die sich – denn selbstverständlich g i b t es die Huris des Paradieses – eine schmelzende Frauenstimme windet. Beine und Rümpfe bewegen sich zwischen den hängenden Bahnen, die sich erst im letzten Moment vor ihm teilen und die Köpfe freigeben, Stirnen unter gewickeltem Stoff, straff gespanntem Stoff, Augenschlitze, Bärte.

Das ist einer der schönsten Kunstgriffe Dieckmanns, daß das Paradies für den jungen Mann zur Gegenwart wird. Die selbstverständlich, nimmt einer sie jetzt noch an, in den Kampf leiten muß. Mit allen bitteren Konsequenzen, zu denen am Ende des Weges für Hunderte Menschen Guantánamo gehört.

Ich könnte noch seitenlang von diesem Buch berichten. Auch von dem Gedanken: Was wäre denn, hätte der Roman nicht von einem Unschuldigen, sondern von jemandem gesprochen, der tatsächlich terroristischen Aktivitäten zugearbeitet hat? – Der Befund, er ist völlig derselbe. Genau das leistet diese Kunst, nimmt auch dann Partei: Verbrechen sind nicht mit Verbrechen zu ahnden.
Nicht zuletzt deshalb wird dieses Buch bleiben. Es ist selbstverständlich Gesang, ja, denn das ist der Dichtung. Ein Gesang, der den Schmerz in Poesie verwandelt. Damit man sich ihm stellen kann. Damit man ihn nicht aus Notwehr vergißt. Nicht vergißt, was Menschen Menschen immer noch antun können. In diesem Jahrhundert tun es Menschen aus den USA, vertreten durch ihr Militär. Das wird, singt der Roman, das singt Rashid, auf dieser Nation liegen bleiben wie auf uns die nie verheilende Narbe des Völkermords.

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Dorothea Dieckmann

Guantánamo
Roman, geb., 158 S.
Klett Cotta
Stuttgart 2004
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3 thoughts on “
Aus einem Totenhaus
Dorothea Dieckmanns grandioser, beklemmender, leuchtender Roman „Guantánamo“

  1. lieber ANH, sie haben eine gewaltige überzeugungskraft. was von ihnen man liest, glaubt man ihnen. und muß sich nachher betäubt, wie sie es von dieckmanns roman waren, am kragen packen und nochmal drüber nachdenken. in jedem fall diesen roman lesen, den ich jetzt unwillkürlich in meine hinterkopf”das-buch-muß-her-liste” aufgenommen habe.
    diese schreibende überzeugungskraft ist eine fähigkeit, die die wenigsten haben, und die sie zum wirklich guten schriftsteller macht. ich denke, sie sind auch als verbales gegenüber nicht zu bremsen .. 🙂

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