Heidelberger Vorlesungen III (1). Kybernetischer Realismus.

Sehr verehrte Damen, sehr geehrte Herren,

was ich einen Kybernetischen Realismus nenne, löst die postmodernen Ästhetiken ab, indem er ihre poetischen Ergebnisse bündelt und mit (über)lebensfähigen Theoremen der Moderne vereinigt; zumindest ist dies das Ziel, auf das er bewußt zu­steuert: aus der Bewußtheit ergibt sich der Steuer-, eigentlich Steuerm a n n sbegriff und bezieht sich dabei als Poetik unter anderem auf einen Satz Ernst Haeckels>>>> 1, der die Evolution erstmals begrifflich als einen ökologischen Prozeß aufgefaßt hat; poe­tisch entscheidend ist dabei >>>> der Satz:

Keine Bewegung in dem einen Bereich ohne Spiegelung in anderen (Berei­chen).

Kybernetischer Realismus erzählt ökologisch, nicht ökonomisch; es handelt sich um eine Poetologie der Spiegelungen und Wechselwirkung. Das bedeutet, daß in jederlei denkbare Richtung erzählt wird, auch in der Vertikalen und nicht nur horizontal, also nicht-linear. Seine Werke sind prinzipiell unabgeschlossen und, wenn man von dem pessimistischen und menschenfernen Zustand der Entropie absieht, unabschließbar. Seine Grundstruktur sind >>>> Regelkreise, daher tendiert eine Erzählung des Kyberneti­schen Realismus zu Zyklen; diese aber, im Verhältnis zueinander, springen: Dabei führt der Erzählzyklus nicht, wie bei den aus der Science Fiction bekannten Zeitschlaufen, in seinen tatsächlichen Anfang zurück, sondern in etwas, das dem Erzählanfang oft zwar täuschend gleichsieht, aber doch etwas anderes ist: es ist immer ein neuer Anfang, der die Erfahrung des bislang durchlaufenen zyklischen Weges in sich trägt.

Nun schleppt schon der Begriff „Regelkreis“ Täuschendes mit sich; treffender ist es, von Regelspiralen zu sprechen. Der sich über sie herstellende Ein­druck ist genau der von >>>> Sprüngen – etwas das wir, zum Beispiel bei Mutationen, aus der Naturgeschichte und in der Atomphysik ken­nen. Der Kybernetische Realismus untergräbt die Linearität, als er nicht ste­tig ist: zwischen dem scheinbaren Wiederanfang und dem tatsächlichen Neuanfang klafft eine Lücke: Es findet eben gerade nicht eine Ewige Wiederkehr des Gleichen statt, sondern die Erzählung bildet geschichtliche Strukturen ab, die nach Mustern organisiert sind, welche sich zugleich irreversibel über fortlaufende Metaebenen auf dem Zeitstrahl voranbewegen. Hat man den Eindruck, ein Erzählzyklus sei wieder an seinem Anfang angekommen, so haben sich doch sämtliche Beteiligten und hat sich auch das grundle­gende Setting verändert. Es ist ungemein wichtig, sich das vor Augen zu halten.
Man kann sich das durch ein Gedankenspiel klarmachen, das die Spirale selbst sich in einer Vierten Dimension, nämlich der Zeit, auffalten läßt. Was wir sehen, ist gemeinhin d a s, weil wir aus unserer subjektiven Zeit, unserer, nennte Whitehead das, Epoche, und n u r aus ihr, auf die Prozesse sehen: Das ist die Draufsicht auf die Erzählung oder auch auf die „Erfahrung, daß alles wie­derkehre“ im zyklischen Naturdenken oder eben auch der Regelkreis-Gedanke, der über die Selbstrepräsentation zur ästhetischen Redundanz führte, sofern wir nicht das Gebilde in die Zeit kippen. Tun wir das, sehen wir den Strom der Erzählungen: Nun setzt sich die scheinbare Stetigkeit dieses Stromes der Erzählungen (in Somade­vas um das Jahr 1000 herum entstandenen >>>> Kathasaritsagara war ein O z e a n, also Stetigkeit der Ströme der Erzählungen; vorgestellt) aus zahllosen, letztlich un­endlich vielen Erzählungen zusammen; das, addiert, ergibt dieses stetige Bild. Neh­men wir aber eine einzige Erzählung heraus, läßt sich die Spirale und lassen sich des­halb die Sprünge erkennen, die die „Anfänge“ und „Enden=Wiederanfänge“ der Re­gelspiralen vollziehen; man sieht jetzt deutlich, daß es sich n i c h t um Redun­danzen handelt. Dazu noch einmal der erste Graph: Diese Kippleistung vollbringt die poetische Inspiration. Letztlich ist ein Roman der Schatten, den ein vier- bzw. mehrdimensionaler Erzählkörper – d.h. die ihm zugrun­deliegende, aus seinen Gründen herauswirkende Wirklichkeit – auf die Buchseite wirft. Sie setzt die Muster in Bewegung. Dazu faßt sie sie allegorisch auf. Zwar kommt die Erzählung nun immer wieder auf ihre leitenden Motive zurück, aber, eben!, wenn sie zurückkommt, sind diese Motive längst verschoben.
Sie können sich das als einen Perspektivwechsel klarmachen. Sie können es sich aber auch musikalisch klar­machen: Ein Thema wird zwar wiederholt, aber als organische Entwicklung aus den vorhergegangenen Variationen. Doch selbst, würde es wörtlich/klanglich g e n a u wie­derholt, hörte der Hörer das Vorhergegangene als unmittelbare oder mittelbare neue Erfahrung, unter deren Wirkung er die Wiederholung nun a l s Wiederholung wahr­nimmt. Das ist etwas prinzipiell anderes, als wenn ein Thema/Motiv zum ersten Mal zu Gehör gebracht wird und gilt selbstverständlich erst recht, wenn wir ein- und das­selbe Musikstück-als-ganzes zum zweiten, dritten, n-ten Mal hören: Jedes Mal schaf­fen die Erfahrungen vormaligen Hörens eine neue, gewandelte Erfahrung, auch wenn wir erst einmal den Eindruck haben, dasselbe wiederzuhören>>>> 2. Es ist aber unmöglich, zum zweiten Mal einen ersten Eindruck zu machen: Dieses Axiom jeder sozialen Kommunikation gilt für die Poetik ganz genauso; im Kybernetischen Realismus wird es, um sein Bewußtsein angereichert, als Stilmittel eingesetzt.
Die scheinbaren Anfänge und scheinbaren Enden einer Erzählung sind also niemals identisch, aber, und das ist wichtig, ähnlich. Identität ist geschlossen, Ähnlichkeit hingegen offen, ohne daß sie chaotisch-inpraktikabel wäre. Aufgrund von Ähn­lichkeiten erlauben sich sogar Schlüsse, die etwas von Wahrheit haben: Analogien. Es sind aber keine festen Wahrheiten, sondern ihrerseits wie Allegorien flüssige, wandelbare. Dennoch kann man mit ihnen umgehen und kann mit ihnen Geschichten erzählen, moderne, zeitgenössische Geschichten, zum Beispiel diese, die mich, seit ich sie zum ersten Mal sah, nie wieder verlassen hat. Daß es sich dabei um phantastische Literatur handelt, ist, denke ich, deutlich. In diesem Fall sehen Sie die Ausdehnung der Eiszeit und diejenige, die das menschliche Gehirn in dieser Zeit annahm.: Dazu zitieren Negt & Kluge, deren epochalem >>>> „Geschichte und Eigensinn“ die Ab­bildung entnommen ist, wie folgt Gartmann:

If you turn the ice cap around like a mirror image you get the shape of the hu­man brain.
Tatsächlich hat sich die menschliche Intelligenz in den Nöten der Eiszeit sprunghaft entwickelt.

Analogien verschaffen wie die Allegorie, deren logischer Ausdruck sie sind, den Eindruck eines je schon Bekannten, ja oft Vertrauten, ohne daß doch tatsächliche Identität vorläge. Es gibt keine deduktive, monokausal notwendige und monokausal hinreichende Schließkette von der Eiszeit zum Gehirn, aber es gibt eine unmittelbare Evidenz. Sie ist etwas, derer sich Dichtung immer besinnt: sie wird in Form von In­spiration empfunden. Dabei wird der Identität – der Verführung, etwas als identisch auszugeben – sogar bewußt widerstanden und an ihre Stelle die Täuschung gesetzt. Der späte Louis Aragon hat dafür den Begriff des mentir vrai geprägt und >>>> eine Er­zählsammlung nach ihm benannt.

In der poetischen Täuschung und ihren Analogien liegt im übrigen auch die Chance eines Widerstands gegen das Tautologische des Marktes (also gegen die auf dem Satz vom Ausgeschlossenen Dritten konstruierte Äquivalenzform, die notwendiger­weise verdinglicht und deshalb Sprünge nicht wahrhaben kann). Zugleich braucht sie, die Dichtung, nicht auf wichtige Errungenschaften erzählerischer Empathie zu verzichtet. Sondern die erzählten Personen bleiben immer ganze; es sind tatsächlich Personen, die weiterhin im Leser Mitfreude und Mitleid auslösen können; doch wird nie vergessen, daß persona auch „Maske“ bedeutet. Anders als der herkömmli­che Realismus geht ein kybernetischer Realismus darum so wenig wie von linear-kausalem Geschehen von dem Konzept der autonomen Persönlichkeit aus. Daß ein von solcher Grundlage her schreibender auktorialer Erzähler ein zunehmend gebro­chener ist, scheint mir unmittelbar klarzusein. Die Grundbewegung des Kyber­netischen Realismus ist die Bewegung der Verwandlung und zugleich die sinnliche Repräsentanz der Nähe (der Ähnlichkeit) ineinander verwandelter Gestalten. Hiermit bereits schließt der Kybernetische Realismus, wie auch mit dem Tragik- und Schicksalsbegriff, an die antike Klassik an. Auch der moderne Bezug aufs Mythische findet hier einen Grund: an der Bewegung ganz verschiedener Mythen ineinander läßt sich sehr gut erleben, wie Metamophosen funktionieren und daß ein- und derselbe Mythos in völ­lig verschiedenen, einander logisch widersprechenden Erscheinungen auftreten kann, ohne daß auch nur eine dieser verschiedenen Erscheinungen in sich an evidenter Be­deutung verlöre. Ja, die Herleitung eines neuen Mythos aus einem alten nimmt weder dem neuen noch dem alten die Dignität und Identität-je-für-sich. Um dies erzähle­risch zu gestalten, habe ich immer wieder mit Überblendungen gearbeitet. So, wie auch hier Wissenschaft mit Dichtung, Dichtung mit Wissenschaft überblendet wird: Sie nehmen ebenso an einer akademischen Vorlesung teil, wie Sie zugleich eine Phantastische Erzählung hören. Daß beide einander, streng methodisch betrachtet, ausschließen, gehört zum poetologischen Verfahren.

Eine erste Verwandlung findet statt, wenn jemand zum ersten Mal sein Spiegelbild erkennt. Es ist die Ur-Szene des narzisstischen, poetologisch gesprochen: autopoieti­schen Ichs, das sich nun ebenfalls nicht als ein redundantes erweist. Es ist nicht-tau­tologisch, sondern entäußert und als Entäußertes vervielfacht<>>>> 3. Nach Lacan ist der erste erkennende Blick in den Spiegel genau der Moment, in dem die Ich-Selbst­bewußtheit beginnt; bezeichnenderweise in einem enormen Moment der Trennung, nämlich des betrachtenden Ichs von dem betrachteten Ich (des Signifikanten vom Si­gnifikat), wobei dieses – das g a n z e Ich – immer nur ein Bild und i m Bild bleibt, also ein Imaginäres ist; jenes hingegen nimmt sich stets nur partial wahr; es wird erst durch seine Selbstbetrachtung ein ganzes Selbst und – weil d a s eben nur ein Bild ist oder, ausgedrückt in seiner herkömmlichen Kultursublimante: „das Wort“ – durch einen Mangel.
Im Kybernetische Realismus setzt sich diese erste Spaltung permanent fort; er reflek­tiert erzählerisch die Spaltungen, bzw. Verwandlungen, denen die er­zählten Personen im Laufe der Romanhandlung ebenso ausgesetzt sind wie Realper­sonen in den Bezügen ihrer jeweiligen Sozialsysteme. Es wird dabei keine homogene Einheit mehr hergestellt, das Imaginäre i s t nicht homogen, sondern Identität wird in der Wandlung gesucht: durch eben die prozessualen Allegorien, die den erzählten Wand­lungen gemeinsam sind. Um in der verwendeten grafischen Darstellung zu bleiben: ich spiele poetisch mit den Regelkreisen, führe immer wieder das Bild des Kreises vor; zugleich bewege ich aber die Erzählhandlung als Spirale deutlich voran. Das führt zu zwei einander widersprechenden Leseerfahrungen: die eine hat etwas von Redundanz („jetzt erzählt er ja s c h o n wieder von der Trennungsnacht“), die andere ergibt den Eindruck der Digression, wie >>>> Barthes sowie >>>> Deleuze und Guattari das genannt haben, der ständigen Abschweifung und De-Konzentration. Wenn zugleich auf der Zeitachse immer Neues geschieht, bricht einem Leser, der die Arbeit einer vorübergehenden, selber fließenden Vereinheitlichung nicht erbringt, die Ein­heitlichkeit der Romanerfahrung grundsätzlich auseinander. Um Leselust zu erfah­ren, muß man sich deshalb selber in den Roman hineinbegeben und selber die Leerstellen der Sprünge imaginativ füllen. Man kann für einen Roman des kybernetischen Realismus’ nicht in der konsumierenden Haltung verbleiben. Um das zu mitzuteilen, habe ich den Leser als einen Angesprochenen, ganz ebenso wie mich selbst als den An­sprechenden, immer wieder in die Bücher mit hineingenommen und uns Rollen darin zugeschrieben. Das ist k e i n e iro­nische Anspielung auf die Leseransprachen der klassischen und romantischen Litera­tur, oder es ist n u r eine ironische Anspielung in Hinsicht auf ihren Zitatcharacter und in Hinsicht auf bereits vorhergegangenes Angesprochen-worden-sein.
Damit ich die Erzählhandlung noch voranführen kann und nicht narzisstisch bei der bloßen Spiegelung steckenbleibe, muß auf die Einheitlichkeit der Perspektive zugunsten des Prozesses verzichtet werden. Es wird auch hier gesprungen. Deshalb kann weder ein moderner Subjektivismus, also die ungebrochene Ich-Erzäh­lung, der Erzählung Grundlage sein, noch eben der auktoriale Erzähler, und zwar der auch und ganz besonders da nicht, wo er als imaginierter Ich-Erzähler getarnt ist. Indem ich eine Person erfinde und sie in einem Roman „ich“ sagen lasse, sage ja doch letztlich immer noch ich „ich“ – das hat Kühlmann in seiner kritischen Betrachtung des WOLPERTINGER-Romanes völlig richtig festgestellt. Er schreibt >>>> darin:

Auch das sich in erzählten Figuren multiplizierende, spiegelnde und kommentie­rende Ich ist jenseits des Textes angewiesen auf seinen schreibenden Regisseur, der zwar die freien Schaltungen seiner Werke simulieren kann, gleichwohl aber nur in der Logik der Fiktion, nicht als schreibender, lesender, auswählender und komponierender Autor mit seiner imaginären Textwirklichkeit verschmilzt. Das immer wieder bemerkte ,Sich-Einschreiben` des Autors in den Zusammenhang seiner Schriftwelt ist ein manieristischer Kunstgriff, etwas Unerwünschtes zum Verschwinden zu bringen, und sollte nicht unkritisch in wissenschaftliche Dia­gnosen übernommen werden. Die Frage nach dem Autor und dem Autorbewußt­sein des primären Kommunikationszusammenhangs, nach seinen Intentionen, Beeinflußungen, Strategien, Finten, bleibt legitim.

Nun ist das Ich des multisperspektivischen Erzählens etwas ganz anderes, als das Ich eines einzigen Romanhelden und als meines, des Autors, sowieso. Es tritt nämlich das Faktum hinzu, welches ich in der ersten Vorlesung „ausgraben“ genannt habe: sich auf etwas einzulassen, das aus einem aufsteigt, und es auch dann zu publizieren und mitzuformen, wenn es der eigenen bewußten Intenti­on zuwiderläuft. Erinnern Sie sich in diesem Zusammenhang der experimentel­len Traumanfälle, denen sich der Kreis um René Crevel und André Breton gewidmet hat. Dies ist vielleicht sogar das hauptsächliche Argument, daß wir eben k e i n e au­tonomen, sondern durch und durch bestimmte Individuen sind und daß das, was da aufsteigt, Spuren anderer Individuen sind, oftmals geradezu unterhäutige Tattoos, die möglicherweise mehr über diese anderen als über uns selbst aussagen, die wir sie mit meist begründeter Furcht hinunter- und weggedrückt haben. Es ist kaum verwun­derlich, daß genau das ein enormes Konfliktpotential entfaltet, indem unsere Arbeit sich derart un-autark über unsere Körpergrenzen hinaus bis in die völ­lig anderer Personen erstreckt, die das durchaus nicht immer schätzen. Es erklärt auch die oft sehr auffällige Abwehr traditioneller Leser, wenn sie mit solchen für sie unvermuteten Übergriffen konfrontiert werden.
Außerdem übersieht Kühlmanns Einwand die Tatsache, daß aufgrund der zeitlichen objektiven Geschehen im Leben des Autors, die zu einem miterzählten Erzählgegen­stand des Romanes werden, eine weitere ausgesprochene Unsicherheit das narrative Geschen nicht nur beeinflußt, sondern sogar nachdrücklich bestimmt – wobei es für den Autor selbst ganz offen ist, bis zu welchem Maß das geschieht und weitergeschehen wird. Er übernimmt die traditionelle, redigierende Arbeit des Autors erst dann wie­der, ist der Roman fertiggeworden und muß überarbeitet werden. Erst dann auch ist dieser, in Relation zum Romantyposkript, in dessen Entsstehungszeit er sich ja mitver­wandelt hat, sozusagen fertig. Aber auch dann noch bleiben die Türen zur Wirklich­keit offen, und was während dieses neuen Prozesses, der Überarbeitungsprozesses, geschieht, findet neuerlich Eingang in den Roman… was wiederum Folgen für das „eigentliche“ – das imaginäre – Romangeschehen hat. Aber auch das poetologische Geschehen wird mit Abschluß einer Arbeit oft bewußt und wird dann, als Reflektion über sie, die wiederum zu neuen erzählerischen Volten führt, in den Roman mit übernommen. Abermals sind wir, hierbei in der gewissermaßen Vertikalen, mit der prinzipiellen Unabschließbarkeit des kybernetisch kreativen Prozesses konfrontiert.

Für die „reine“ Form auktorialen Erzählens bleibt eigentlich nur die v ö l l i g e Täu­schung: wenn ich mir vornehme, eines Fremden Autobiografie zu schreiben, und zwar die einer realen Person, die ich zugleich Ich sagen lasse. Dann käme der Kyber­netische Realismus auch so in die Welt, aber im Verhältnis der Welt zur Fiktion. Also ich setze mich hin und schreibe, ohne das abzusprechen oder mir anderweitig irgend­wie in den Text reden zu lassen, die Autobiografie Gerhard, sagen wir:, Schröders. Diese Autobiografie gebe ich auch unter seinem Namen heraus. Nun schreibt er aber selbst ebenfalls eine Autobiografie (oder läßt sie nach seinen Anweisungen schrei­ben). Dann hätte der Leser am Markt zwei Autobiografien und wäre in seiner Ent­scheidung, welche richtig sei, auf seinen Glauben angewiesen. Ein solches >>>> re­alfiktionales Konstrukt entspräche der Perspektivenauffassung des Kybernetischen Realismus komplett, trüge aber die Perspektivsprünge nicht immanent aus; zu einem Roman des Kybernetischen Realismus wird ein Buch vielmehr erst in seiner Immanenz. Es spiegelt die Außensprünge in sich hinein.

Indem das Autoren-Ich in einer adäquaten nachpostmodernen Dichtung notwendiger­weise selber zum Gegenstand des Romanes wird, zu einer Figur, die sich von den an­deren Figuren nicht mehr strukturell unterscheidet, wird an eine der Grundforderungen der Mo­derne wieder angeschlossen, nämlich daß die Entstehung, bzw. die Entstehungspro­zesse des Romans selbst Teil des Kunstwerks sein müssen: Ich wird in actu zu einem narrativen historischen Prozeß, der das Gegenteil einer Historisierung, also einer ver­dinglichenden Festsetzung, darstellt. Indem ich einen Roman schreibe, schreibe ich, daß ich ihn schreibe, immer mit. Das betrifft auch „meine“ Intentionen. Ich setze „meine“ in Häkchen, weil ich mir ihrer fremdbestimmten Ursachen bewußt bin, seien sie sozialisiert und/oder vererbt worden, bzw. der Ausdruck reaktiver elektroche­mischer Prozesse in meinem Gehirn. Sozusagen gebiert sich ein Roman aus dem Mo­ment seines ersten Satzes selber und setzt mehrwertig gebundene Kausalketten – spä­ter werde ich sagen: die Wechselwirkung der Komponenten – in Gang, unter anderen:
-die traditionelle, eigentliche Romanhandlung
-die Beobachtung ihres Beschreibenden
-die Mithineinnahme dessen, was dem Autor während des Schreibens geschieht
-den Leser.

Die Selbstorganisation als wechselwirkendes Zusammenspiel begründet den Romanprozeß als zeitgenössisches Geschehen, und zwar, so­wieso, stärker als die Romanhandlung selbst: es vergeht in dem Roman die objektive Geschichtszeit des Autors – und des Lesers – m i t, nicht nur die imaginäre (subjektive) der Romanhand­lung. Solch einen Focus auf faktische Objektivität zu legen, garantiert das Herein­strömen von Gegenwart in den Romanraum. Insofern ist das autorenideale Konzept des Kybernetischen Realismus alles andere als eines des Rückzugs und der meditati­ven Zusammenschau, sondern eines des Mitströmens-selbst. Werke des Kyberneti­schen Realismus’ sind deshalb vital und nicht kontemplativ. Statt der Konzentration auf ein Objekt-allein bedürfen sie des multi-taskings: Es kann nicht auf e i n Ende, wahrscheinlich auf Enden-überhaupt nicht hinauslaufen. Abermals: prinzipielle Un­abschließbarkeit. Musils Mann ohne Eigenschaften ist hier ein deutlicher Vorläufer, Hans Henny Jahnns Fluß ohne Ufer ebenfalls. Nur daß sich der Kybernetische Rea­lismus auch nicht als Fragment verdinglichen lassen will; einigen unter Ihnen wird die zeitweilige Fetischisierung des Fragments durch die moderne Germanistik nicht unbekannt sein. Sondern hier ist abermals eine eigentliche Unmöglichkeit zu avisieren: zugleich Fragment und abgeschlossen zu sein. Es geht wider den Satz vom Ausgeschlossenen Dritten.
Die ganze Tragweite dieser Kriegserklärung mag Ihnen deutlich werden, wenn Sie sich vor die Augen halten, daß meine ganze Grundhaltung empirisch-positivistisch gesonnen ist und ich alles andere als ein spiritueller Mensch bin; ich spüre ein instinktives und geradezu körperliches Unbehagen gegen jederlei Esoterik.

Als ich die Romanreihe begann, die von DIE VERWIRRUNG DES GEMÜTS über WOLPERTINGER zum ANDERSWELT-Projekt führte und von den letzten beiden noch nichts wußte, hatte ich vor, sie DIE KONSTRUKTION DES WIDERSINNS zu nennen. Der „Widersinn“ spielte bereits auf das Kalkül des Logischen Schließens an, hatte Adornos NichtIdentisches im Gepäck, wollte sich aber nicht dem Verstummen und dem pessimistischen Rückzug ergeben; die kreative Bewegung war vielmehr durch und durch „positiv“, war bejahend, wenn nicht lebenslüstern. Und das ist sie bis heu­te, hoff ich, geblieben.
Nämlich aus dieser Lüsternheit aufs Leben speist sich das barocke Element, stammt die F ü l l e. Auch ergibt sie sich daraus, daß ästhetisch aus der Mitbewegung gesteuert wird, im vollen Bewußtsein, selbst einer unausgesetzten Wandlung zu unterliegen und ihr auch unterliegen zu wollen und dabei die wirkenden Ursachen nicht in ihrer Gesamtheit erkennen zu können. Wir sind Teil der Matrix und übersehen sie deshalb nicht. Darum ist Auswahl an sich gar nicht möglich – oder erst im Nachhinein, wenn ein Roman fertiggeworden ist und einzelne Erzählfäden unangeknüpft herausstehen. Während der Arbeit – oder überhaupt – eine Stoffmasse auszudünnen, re­animiert den auktorialen Erzähler, dessen Form nach wie vor die des Sängers ist, der bei Hofe vorträgt.

Nun ist – außerhalb des Fragmentarischen – für prinzipielle Unabschließbarkeit zwi­schen abschließenden Buchdeckeln kein Platz; die Seiten eines Buches können ihr al­lenfalls metaphorisch – auf sie verweisend – gerecht werden, etwa so, wie Borges Un­endlichkeit in kleine Erzählungen überführt hat – also vermittels der Verfahren Phan­tastischer Literatur. Konkret, das bedeutet: als Realismus, ist der neuen Ästhetik die Buchform nicht mehr angemessen. Meine Zuneigung für die neuen Technologien hat hier ihren Grund und nicht etwa im technophilen Steckenpferd; sie ist struktu­rell erzwungen. Was mir überhaupt nicht recht ist und weshalb speziell m e i n e Arbeit immer nach einem Weg gesucht hat, die neuen ästhetischen Erfordernisse mit den al­ten Techniken zu vermitteln. Ich will erklären, warum:

Buchdruck i s t eine Technik, auch wenn wir sie unterdessen quasireligiös fetischisie­ren. Sie ist faktisch überhaupt nichts darüber hinaus, ihre Mythologien täuschen, denn sie finden ganz außerhalb der Bücher-selbst statt: Das Buch der Bücher, das Geheime Buch, das Buch des Lebens usw. sind alles verschlossene Bundesladen, für die Wittgensteins Käfer in der Schachtel gilt<>>>> 4. Solche Mythologien selber sind meist ihrerseits Wandlungen älterer, die den Stein, den Gral usw. im Blick hatten. Das waren Dinge, die wie „das Buch“, mit Seele besetzt wurden. Es waren Körper.
Körper sind die neuen Medien nicht mehr. Und hier setzt mein Beharren auf dem Buch an; es ist ein heidnisches Beharren. Denn ein entscheidender, lebenabgewand­ter, also unvitaler und letztlich pessimistischer Nachteil der neuen Medien i s t genau diese Körper- und Materiallosigkeit. Da l ä ß t sich nichts mehr besetzen, sondern son­dern kommt schon als Seele-selbst – als Geist – daher, wo doch imgrunde die reine Äquiva­lenzform herrscht, die reine Identität, die von der Verschiedenheit auf ein Einziges al­les hinabreduziert: jene Ideologie, die das Wort dem Leib vorzieht.
Es gibt seit Ari­stoteles eine abendländische Bewegung ins Körperlose, historisch bald flankiert von der monotheistischen Präferenz eines Geistes, der letztlich auf die Herstellung eines körperlosen Endzustandes ausgerichtet ist, welche vorgibt, Erlösung zu sein; Paralle­len finden sich dazu in vielen anderen Religionen, etwa im Buddhismus; unter Abse­hung davon, daß Körper Träger erfahrener Lust und vor allem von Entwicklung sind, werden sie nahezu ausschließlich als Träger von Leiden betrachtet; jede Krankheit zählt hier mehr als ein Orgasmus, dem überdies etwas „Unsittliches“ anhängt und dem man sehr übelnimmt, daß er der Menschwerdung notwendig vorausgehen muß. Letzten Endes ist diese Perspektive nur lebensfeindlich; sie wird von einer Technolo­gie bestätigt, die die Artenvielfalt monotheistisch-anthropomorph zunehmend redu­ziert, man kann auch sagen: ausrottet und die schließlich das Öksystem selber – es ist eine Ökomatrix – permanent attackiert. Schon der juridische Umstand, daß Tiere als Sachen behandelt wer­den, ist hierfür mehr als ein Indiz. Wer sich als Dichter in die neuen Technologien begibt, muß sich darüber klarsein, daß sie genau daran mittragen.
Das tat aber auch, weil es eben Technik i s t, das Buch, und zwar, weil es als Träger des Wortes davon zu abstrahieren verführt, daß es Millionen Bücher gibt. Das Buch als Ideologie hat das Buch als technischen Gegenstand längst so sehr abgelöst, daß wir seinen parallel schon stattgehabten Wertverfall gar nicht richtig realisie­ren. Dabei würde es reichen, sich nur einen Tag lang bewußt bei WELTBILD und WOHLTAT’s umzusehen: wie verschleudet Bücher dort werden, deren Inhalte zu­sammengenommen die Inhalte Hunderter Menschenleben, ja ganzer Kulturen und ih­rer Erfahrungen und Künste sind. Es kann dort den, der drüber nachdenkt, ein Schau­der überkommen, der finster metaphysisch ist. So sehr ist zu fühlen, wie das Wort verkommt. Es ist aber notwendig verkommen, weil das Wort selber die Wörter durch­gestrichen hat, weil es das Leben desavouiert und festgesetzt hat in der Unterstellung, es gebe ein Wesentliches, und alles andere sei akzidentiell. Wie sehr eine solche Zen­tralperspektive ökologisch-vernetzten Systemen feindlich ist, wird immer dann spür­bar, wenn sie praktisch eingreift und mit der Veränderung, bzw. Kultivierung einer einzigen Komponente zahllose andere mitbestimmt, über deren Wirkkraft sie sich zuvor nicht bewußt sein konnte. Auch deshalb, in seiner Gegenbewegung zu einem Sub­stantiellen, setzt der Kybernetische Realismus auf Fülle und damit auf Auflösung. Und a u c h deshalb, nicht: nur deshalb, setzt er auf die neuen Technologien, und hält doch zugleich an den Körpern der Bücher fest, weil die Publikationsmodi der Neuen Medien die Doktrin literarischer Ausdünnung unterlaufen können – können, nicht müssen -, die als Forderung auf Konzentration auf ein vorgeblich Wesentliches ge­tarnt ist. Man kann etwas locker sagen, daß hinter dem Buch immer ein einziger Gott steckt, hinter den Neuen Medien aber stecken die Götter. Um mit einer weiteren Ana­logie zu spielen, sind die neuheidnischen Bewegungen, ob nun in ihrer unangenehm rechten oder ihrer naiv-esoterisch linken und oft rührend sentimentalen, emanzipa­tiven Ausprägung, nicht grundlos parallel zur Entwicklung der neuen Technologien in Gang gekommen. Völlig zu recht weist >>>> Dery darauf hin, daß Hacker ihre Com­puterviren gern nach alten Dämonen benamsen. Auch diese Bewegung werden sie in meinen und den Romanen anderer wiederfinden, die ich ins Umfeld eines Kybernetischen Realismus’ stelle.

Wir finden nun auch hier einen Regelzirkel, kommen auch hier scheinbar, aber eben auf höherem Niveau, das heißt: auf einer mit historischer Erfahrung angefüllter Me­taebene, wieder am Anfang an – diesmal am Anfang der bestimmenden abendländi­schen Bewegung, die, Aristoteles und der Monotheismus schulterschlüssig, das Wort favorisiert hat.
Im Monotheismus ist das Wort von Anfang an als entkörperter Fetisch gedacht; nur blieb das Buch als Ding sein Leib. Man kann sagen, daß sich das Buch selbst abschafft, weil die Konzentration von den Dingen weg auf das Wort ging, weil das Wort G e i s t sein soll und das Buch es daran hindert, es also am Material festhält und seine Himmelfahrt nicht erlaubt. Genau deshalb halte ich, neben meiner Netzarbeit, an dem Buch fest. Überhaupt jetzt erst, da er zu zerfallen droht, wird dieser Leib deutlich. Denn das Wort selbst erfüllt sich ja viel mehr im Netz als im Buch, auch wenn das Buch symbolisch fürs Wort nach wie vor mehr als das Netz zu stehen scheint. Denn noch hat das Netz kein Ideologem, das sich für einen Tempel eignete. Es ist eine wohltuende naive Schwäche des Wortes, daß es sich lieber noch am Vertrauten festhält, als in die ihm viel mehr entsprechende Sphä­re einzugehen, und daß deshalb Leute wie ich eine Chance haben, sie vorher mit den Dämonen anzufüllen, die der Monotheismus längst besiegt zu haben glaubte. „Dich­ter und Hackers sind Komplizen“, heißt es in BUENOS AIRES. ANDERSWELT. Doch gibt es auch schon Entwicklungen in der Cybersphäre, die >>>> eine deutlich andere Sprache sprechen.

Am Anfang stand das Wort. Es will keinen Körper. Deshalb das Bilderverbot. Inso­fern ein Buch als Körper Bild ist, steht es dem Wort entgegen und bewahrt etwas von Heiligen Steinen und Bäumen, die von Naturgeistern belebt sind. Nimmt man den Wort-Gedanken ernst, stimmt das auch für die kalligraphischen Künste des Islams, der im übrigen mit einigem Recht genau deshalb den Klangcharacter des Wortes favorisiert. Nahezu alle Bekehrungsgeschichten des Islams sind solche des Hö­rens. Das Wort-selber „Quran“ heißt sogar „Rezitation“, das ist seine Übersetzung. Sie entspricht auffällig dem, was in der griechischen Rhetorik unter λόγος verstan­den wurde: Inhalt der gesprochenen Rede. Allerdings, anders als ein Bild, trägt der Klang etwas in sich, das ebenfalls der kontinuierlichen, d.h. „ewigen“ Auffassung des Einzigen widerstrebt: Zeitlichkeit nämlich. Klänge vergehen. Hingegen wurde das Buch von den Naiven lange etwas Bleibendes genannt.
Am Anfang war der Logos. Der abendländischen Bewegung zur Konzentration auf ein Wesentliches, hinter dem letztlich immer der Gottesgedanke steht (auch hinter der Physikersuche nach der großen Vereinheitlichenden Theorie steht er; Stephen Hawkin spricht, wenn auch ironisch, davon, „die Sprache Gottes“ verstehen zu wol­len), hat das Wort immer als deutlicher Vorschub gedient. „D a s Wort“ sagt Luthers Bibel. Im Netz wird es heißen: >>>> „Am Anfang war die Information“. Übersetzt wurde aus dem Griechischen: λόγος , ein Begriff, der über „Vernunft“ zu „Sinn“ ein weites Bedeutungsfeld und Goethe sogar dazu geführt hat, es tautologisch mit „Tat“ zu übersetzen>>>> 5. Womit man, anders als bei „Information“, nun wirklich keinen Schritt weiter ist. Viel spannender wäre, „das Wort“ als ein vorgegebenes Regelwerk aufzu­fassen, so, wie Hawkin das anscheinend tut, und eben so, wie das menschliche Ge­hirn bereits, wenn es wahrzunehmen, also zu arbeiten, anfängt, physische Axiome verwendet, die es nicht gelernt haben kann, sondern es wurde von ihnen genetisch ge­prägt; bei Kant wären das die Grundkategorien der Anschauung. Tatsächlich faßt das Wort „Information“, besser als jede Tat, geschweige als „das Wort“, die Polymorphie sehr viel besser zusammen, die polyphormen Einträge, bzw. Komponenten der matri­schen Termen, bzw. d e s matrischen Terms, der „am Anfang“ stand. Am Anfang stand die Matrix.

Sehen Sie mir diesen kleinen religionstheoretischen Ausflug nicht nach, nein, genie­ßen Sie ihn. Wir betreiben noch immer Poetologie: Cyberrealism. Denn tatsächlich, sofern ein einziger Autor einen Roman schreibt, bleibt, wie Kühlmann angemerkt hat, die Tür zum auktorialen Erzähler immer noch wenigstens spaltbreit geöffnet; das aber liegt am Medium Buch. In dem Moment, in dem ich meine Erfindungen öffne und andere an ihnen mitschreiben lasse, ändert sich das. In meiner Netzpräsenz DIE DSCHUNGEL. ANDERSWELT habe ich mit einer solchen Öffnung begonnen. Ob also Kühlmanns Meinung, der auktoriale Erzähler werde prinzipiell immer einer bleiben, ebenso prinzipiell recht behalten wird, steht deshalb auf einem Blatt, das die Zukunft, es zu beschreiben, gerade erst dabeiist.

In einer >>>> Matrix entsteht, was wird; sie zeichnet sich dabei durch mehrwertig gebun­dene Komponenten aus, und genau das und diese werden im Kybernetischen Realis­mus erzählerisch gestaltet. Mit übrigens durchaus traditionellen Mitteln; das ist gera­de das Spannende an einer solchen Konzeption, daß sie das Erzählerische nicht auf­geben muß, um der modernen Wirklichkeit entsprechen zu können. Aber sie braucht das Buch nicht mehr oder braucht es nur noch aus Gründen beharrender flankierender Maß­nahmen. Machen wir uns einfach klar, daß das Buch ursprünglich lediglich als ein Medium der Vervielfältigung gedacht war. Der Moment seiner drucktechnischen Re­produzierbarkeit war also ein profanierender; deshalb steht das Buch, etwa mit den Enzyklopädisten, neben seinen religiösen Implikationen auch für die ganz gegenposi­tionierte Aufklärung, die später freilich ihrerseits einer mythischen Dialektik unter­lag>>>> 6.
Wenn nun „das Wort“ die Information ist und sie ganz in ihm ist, ist das Medium sei­ner Vermittlung um so angemessener, je schneller und allgemeiner auf es zugegriffen werden kann und je variabler und direkter es das Rezeptionszentrum erreicht, also das lesende Gehirn. Die Erfahrungen, die jederman in Chats machen kann, zeigen, wie direkt das Wort hier wirkt und wie unnötig seine und sogar des Gesprächspart­ners materiale Erscheinung ist. Auch aus diesem Grund halte ich mit einer Hand das Buch noch fest. Es endgültig loszulassen, bedeutete, die Vergeistigung des Körperlichen mitzuspielen, der schließlich nur noch als Empfänger von Konsumnachrichten bzw. von Befehlen dient, nicht aber mehr Wirklichkeit in ihrem ganzen Ausmaß erfassen will noch kann, das eben auch sinnliche Komponenten hat. Diese verstehe ich selber als Komponenten der Matrix und halte genau deshalb wie am Buch so auch mit Nachdruck an Sexualität als einer erkenntnistheoretischen Wirkursache fest; das begründet die Rolle der mir oft als Pornographie angekreideten erotischen Passagen in meinem Werk. Die im übrigen, selbstverständlich, gelebte sind.

Dennoch muß ich erkennen, daß das eigentliche Spielfeld nachpostmoderner Dich­tung das Buch nicht mehr sein kann. Möglicherweise muß man, um den Komponen­ten der Wirklichkeit weitgehend zu entsprechen, mit Hybriden arbeiten aus Buch und Netz. Nicht von ungefähr habe ich meiner meistfrequentierten Netzpräsenz den Mit­titel ANDERSWELT ganz ebenso beigegeben, wie den drei Romanen, die das AN­DERSWELT-Projekt als Bücher materialisieren.

Wirklichkeit meint im Kybernetischen Realismus den lebenswirkenden Prozeß sämt­licher wechselwirkender äußerer und innerer Einflüsse, die während des Schreibpro­zesses mitlaufen: das, zusammengenommen mit der gestalteten Imaginationswelt, ist im Kybernetischen Realismus der ästhetische Raum. Ich bin darauf in meiner ersten Vorlesung eingegangen. Wirklichkeit ist im Wortsinn ein Fluß ohne Ufer. Die von der bisherigen vermeintlich realistischen Literatur ge­staltete Realität ist dagegen vergleichsweise schmal, in jedem Fall begradigt, und karg ist sie sowieso, insofern sie sich – meist unter Ausklammerung, ja furchtsamer Meidung der Naturwissenschaften – auf die Wahrnehmung von Erscheinungen als Zi­vilsationsprodukten beschränkt; letztlich ist sie vollumfänglich als Ware darstellbar. Sie hat nahezu immer ein definiertes Ziel, wird weder in ihren Phänomenen mehr­fach gebunden, noch spielen solche Mehrfachbindungen überhaupt eine Rolle; im Gegenteil: erscheinen solche, wird von „überdeterminiert“ gesprochen, was in Wahr­heit ü b e r h a u p t determiniert meint. Ich komme etwas später darauf noch zu spre­chen. Tatsächlich steht hinter der sog. realistischen Literatur nichts anderes als nach wie vor eine teleologische Vorstellung, – nämlich die eines objektiven Geschichts- und Evolutionszieles, das moralischen Präpositionen entstammt. Sie spiegelt uns dieses Ziel als ein verläßliches dar, und zwar gleich, ob in gutem oder schlechtem Sinn, optimistisch oder pessimistisch; der realistische Pessimismus trägt den Optimismus seiner Verläßlichkeit in sich. Verläßlichkeit ist aber eine reine Erfahrung der kulturellen Zurichtung; tatsächlich gibt es für ihre Annahme keinen Grund. Jede Familiengeschichte zeigt das, und unsere Doppelleben, die in Wirklichkeit simultan geführte Mehrleben sind, zeigen es erst recht.
Trotz aller zivilisatorischen Absicherung sind unsere Leben prinzipiell offen, offen als erlebter Prozeß, nicht möglicherweise de facto. Aber die wirkenden Determinan­ten sind derart unüberschaubar, daß sich der Eindruck von Freiheit herstellt – ihre /i>Empfindung. Au­ßerdem läßt sich, bei einer gegen unendlich gehenden Zahl möglicher Wirkgrößen zwar von Ursachen auf Folgen, nicht jedoch umgekehrt von den Folgen auf ihre Ur­sachen hinreichend zurückschließen. Genau das ist wiederum einer der Gründe für die stupende Modernität des antiken Schicksalsbegriffes, den ich für eine nach-post­moderne Literatur wieder herbeiziehe. Wir sind aufgrund der Unüberschau­barkeit erneut bei ihm angekommen, aber, siehe Regelspirale, auf einem anderen als dem früheren Niveau. Daß der Umstand-an-sich der Grundlage jeder Demokratie, dem autonomen Ich, ebenso deutlich Hohn spricht wie es die Ergebnisse der moder­nen Hirnforschung tun, hat mich bei der Betrachtung phnatastischer Literaturen in meiner letzten Vorlesung sagen lassen, die Phantastische Literatur nehme die Aufklä­rung zurück. Sie ist der Narr, der dem siegreichen Feldherrn im Triumphzug vorher­läuft und ihn verspottet. Insofern bislang keine andere Literatur so sehr Sprache der Seele war wie die phantastische, steht sie neben den Naturwissenschaften als eine der Säulen zeitgenössischer Ästhetik da; sie prägt ja auch deutlich den Beginn dessen, was dann moderne Literatur geworden ist. In Teilen kann selbst eine der Grundfesten der poetischen Moderne, der Ulisses, als phantastisch, nämlich auf der Folie eines wiederwirkenden Mythos geschrie­ben, angesehen werden; nachdrücklich belebte auch er schon die Allegorie und damit die Vorstellung, es gebe währende Muster, die sich durch die Individuen hindurch im Wortsinn realisieren. Darüber gibt es keine Freiheit, man wird von dem Muster als Träger erkannt und verwendet. Nur daß der Kybernetische Realismus sich des Um­stands bewußt ist, daß es sich bei solchen Mustern nie um identische, sondern eben immer nur um ähnliche handelt, die sich in ihrer individuellen Ausprägung von Träger zu Träger wandeln.

Schon hier, wenn Sie diesem Instinkt folgen, wird deutlich, worin sich die personale Konzeption einer kybernetischen Erzähl-Ästhetik von der dinglich-sachlichen Konzeption des herkömmlichen Realismus unterscheidet: nach-postmoderne Personen einer Er­zählung vereinen in sich den Widerspruch einer personalen und einer akausalen Ge­samtheit (letztere nennen wir Autonomie) mit dem Umstand, daß sie Träger von Informationen, der Muster nämlich, und als solche Hüllen sind. Hätten sie nicht Ge­fühle und überhaupt ein Innenleben, man müßte sie für leer halten. In einer Erzäh­lung des kybernetischen Realismus begründet sich ihre Existenz – das heißt die Tatsa­che, daß Leser solche Personen emphatisch mitleben können – nicht länger aus der Annahme von Autonomie, sondern aus den Konflikten, die diese Annahme austrägt, wird sie mit den gegenläufigen, wirkenden Mustern konfrontiert. Walter Benjamins im >>>> Ursprung des Deutschen Trauerspiels entwickeltes Allegorie-Konzept steht nicht grundlos eben­falls am Beginn der Literarischen Moderne, Seite an Seite mit der Entwicklung des Konzepts des Unbewußten, das von der Phantastischen Kunst sinnlich ausgestaltet wurde (und bisweilen immer noch wird). Dazu halten in nahezu derselben Epoche die ökologischen Konzepte Ernst Haeckels in die moderne Wissenschaft Einzug: Kon­zepte vernetzter Systeme. So alt ist der moderne Begriff der Kybernetik, der seiner­seits letztlich einer aus der Antike ist. Darauf hat >>>> in einem Dschungel-Kommentar einer meiner Leser völlig zu recht hingewiesen.
Führen Sie sich allein nur diese drei Momente der modernen theoretischen Erfassung von Wirklichkeit simultan vor Augen, wird Ihnen mit fühlbarer Evidenz klarwerden, was ich mit zirkulärem Erzählen meine: daß solche Zirkel eben keine ewigen Wie­derkünfte, sondern sich durch die Geschichtszeit weiterbewegende Spiralen sind, die nicht, wie es ein Zirkel täte, an ihrem tatsächlichen Ausgangspunkt wieder ankom­men, sondern an einem Ausgangspunkt, der sich immer schon verändert hat. Kein an­derer als der kybernetische ästhetische Ansatz trägt diesem Umstand Rechnung. Zu­gleich legt kein anderer ästhetischer Ansatz so entschieden sein Veto gegen den Satz ein, letztlich verändere sich nichts, und wir lebten, >>>> wie Kästner schrieb, imgrunde weiter auf den Bäumen. Gerade indem der Kybernetische Realismus auf antike Modelle wie etwa das eines Schicksals zurückgreift, dem es sich nicht entkommen läßt, gebe ich der Geschichtlichkeit ihren Stellenwert zurück. Dieses Schicksal ist nicht länger eines, das Götter bestimmen, sondern ein quasi selbstbewirktes Bewegtes: Autopoeisis – in ihr wechselwirken scheinautnomer, d.h. der als autonom wahrgenommene Autorenwille und die äußeren Komponenten der Matrix i n ein- und derselben Matrix. Wobei es von enormer Bedeutung ist, ob sich der Autor als autonom empfindet oder nicht; da dies selbst Komponente der Matrix ist, verändert, ob ja, ob nein das Ergebnis der poetischen, sagen wir, Rechenvorgänge: Es wirkt direkt und je verschieden auf die Inspiration. Die Frage, ob es eine persönliche Freiheit denn tatsächlich gebe, wird ästhetisch darüber nicht minder obsolet, als es die erkenntnistheoretische Frage geworden ist, wieviele Engel auf einer Messerspitze Platz fänden. Ihre Antwort spielt für das weitere ästhetische Geschehen absolut keine Rolle, wohl allerdings für die alltägliche und juridische Realität. Nur ist diese nicht Gegenstand meiner Vorlesung. Und daß ich von Rechenvorgängen spreche, hat etwas mit der Bescheidenheit vor der Inspiration zu tun. Solange ich nicht weiß, was sie tatsächlich ist, erzähle ich, w a s ich weiß und was mir als ausreichend begründet vorkommt, um damit theoretisch und poetisch arbeiten zu können. Sollte Inspiration, die ich persönlich gern einen poetischen Instinkt nenne, über die matrisch-kausale Wechselbeziehung nfach gebundener Komponenten hinausgehen, um so schöner. Das jedoch einfach so zu behaupten, bedeutete, einen Glauben als Wissen auszugeben; ein Wissen aber ohne Gründe gibt es nicht, und zwar einfach deshalb, weil Wissen als Erkenntnis ursächlich wirkender Zusammenhänge definiert ist, die hinreichend, notwendig und/oder hinreichend u n d notwendig sein können.

[Fortsetzung >>>> dort.]


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