Rückblicke. Das 69., nämlich ein Krisen-PP am 22. Dezember 2013: Sonntag. Das Leben nicht mehr als einen Roman betrachten.

(Jasper van‘t Hof, Meditation.
8.09 Uhr.)

Die Löwin hat recht: Mit den Geschehnissen um Αἰαιαη, die ich eine Erleuchtung genannt habe, die aber mehr eine Erschütterung gewesen ist, ist etwas in mir gerissen, zumindest angerissen; sie hat mir die Zuversicht genommen, die mich über alle Unbilden hinaus immer doch getragen hat. Dazu gehört, daß ich das Arbeitjournal, wie >>>> dort ausgeführt, nicht mehr weiterschreibe und also das Leben nicht länger als einen Roman betrachten kann, bzw. darf, der erzählt werden will und kann. Es ist mein zweites Buchverbot, diesmal indes verhängt von mir selbst. Damit geht ein großer Machtverlust einher, Verlust einer Macht über mich selbst, die Macht der Selbstbestimmung. Eine Verlorenheit umfließt mich seither, die einen deutlichen Geschmack von Resignation hat und damit von Alter. Auf der einen Seite gibt mir das eine Art von Weisheit, die ich doch immer abgelehnt habe, die ich niemals haben wollte, weil sie in ihrem Wesen eine Abgeschlossenheit repräsentiert, die mir ebenfalls zuwider war, jahrelang, denn sie läßt den Weiterfluß nicht zu, ist lebensfeindlich also; vor allem jedoch ist sie unbegeistert. Deshalb finde ich den hymnischen Ton nicht mehr, den ich zur Fortsetzung und Fertigstellung der letztbegonnenen Lyrik-Zyklen brauche, besonders für Die Brüste der Béart. Ich kann ihn nicht theoretisch herstellen, weil ich alles, was ich schreibe, tatsächlich fühlen können muß. Nie bin ich ein abstrakter, sondern immer ein konkreter Mensch, einer der unmittelbaren Sinne, nämlich des wirklichen Erlebens gewesen. Nie war ich skeptisch. Jetzt bin ich es, und das nimmt mir Kraft. So daß ich, was mir begegnet, ob Angenehmes, ob Unangenehmes, nicht mehr in Dichtung herumdrehen kann. Das ist für einen Dichter schlimm.
Darüber hinaus habe ich, fühle ich, einen Freund verloren. Ich hätte ihn dringend an meiner Seite gebraucht, aber anstatt zu sehen, was mir mit den drei großen Liebestexten gelungen ist, die ich in Der Dschungel publiziert hatte, machte er mir moralische Vorwürfe noch über meinen Entschluß, das Arbeitsjournal einzustellen in der alten Form, hinaus. Das habe ich als Freundschaftsbruch empfunden, als einen Verrat, und seither haben wir keinen Kontakt mehr miteinander. Dies schmerzt zudem, aber ich schaffe den Sprung nicht über meine Verletztheit, kann nicht mehr offen die Hand ausstecken. Ausgerechnet die Löwin aber, die allen Grund gehabt hätte und weiterhätte, verletzt zu sein, dringt in mich, das Arbeitsjournal wieder aufzunehmen. „Es tut dir nicht gut, dich nicht mehr zu äußern, es war ein für deine Seele fundamentaler Schutz, daß du es schriebst – ob mir nun, was du drin schriebst, gefiel oder nicht. Mir gefiel aber immer, daß du es schriebst, mir gefiel die Radikalität des künstlerischen Projekts und Prozesses und darum eben a u c h, daß du keine Rücksicht nahmst. Bitte, nimm es wieder auf!“
Nein. Ich kann nicht.
Aber.
Wenn ich zwar dachte, das Arbeitsjournal einzustellen, bedeute vielleicht eine neue Freiheit für mich, bedeute, nicht mehr verpflichtet zu sein, dem Projekt und der Öffentlichkeit, so geht mit dem Verzicht tatsächlich eine Ohnmacht einher, die mich immer wieder mal von unten her durchdringt und hinabzieht. Das kann ganz unvorhergesehen geschehen. Ich wache morgens auf und bin gelähmt. Ich wälze mich von einer Seite auf die andere, kann nicht mehr schlafen, vermag es aber ebenso wenig, aufzustehen und, zum Beispiel, zum Sport zu gehen. Es ist eine halbwache Antriebsschwäche, wie nicht wirklich erwacht, aber auch nicht wirklich schlafend, etwas, das neben mir einherzieht und mich ungut dabei festhält und ungut mit sich zieht. Mich duckt. Mich beugt. Ich kann dann nicht mal Musik hören, was das wahrscheinlich alarmierendste Zeichen ist. Ich mag nicht mehr in die Oper gehen, und wenn ich doch gehe, dann aus Entscheidung, also nicht, weil Lust mich lockt und dort hinbringt. „Du hast dirigiert, als du hörtest…“ Nie bin ich offener, als wenn ich höre. Nie bin ich verwundbarer, wie wenn ich gehört habe. Ich mag die Wunde nicht wiederh‘olen, sie nicht w‘iederholen.
Heute h‘öre ich wieder. Nach einem 14-Kilometerlauf, zu dem ich mich spontan entschloß, als ich mich auf dem Laufband nur warmlaufen wollte. Ich bin meine bisherige Bestzeit gelaufen vorhin, das war eine durchgekämpfte Selbst-Ermächtigung. Darum, vielleicht nur darum, schreibe ich jetzt. Schreibe ich jetzt so. Und höre.
Also etwas wie Trennung, Trennung von dem Freund. Freundschaft war mir immer heilig, war mir fast das Heiligste, nur Liebe stand noch darüber. Weil sie nicht von uns selbst bestimmt wird: wohin sie fällt, wann sie erscheint. Weil ihr Sein sich der Ratio entzieht. Man muß sie aber zulassen können, doch braucht es dazu zwei. „Abschiede, dachte Deidameia“ (Argo, S. 231). Sie sind das mir schwerste. Nie habe ich wirklich mit ihnen umgehen können. Nie habe ich damit umgehen können, daß Wahrheit nicht auch wird. Muß es – spät, ich höre Ihren Einwand wohl – nun lernen. Das heißt: akzeptieren. Muß meine Machtlosigkeit akzeptieren.
So auch in den anderen Bereichen. Daß es, wie doch zu erwarten war, auch zu Argo keine Kritik im klassischen Feuilleton gab und auch nicht geben wird. Was man nicht will, aber nicht verreißen kann, weil man sich sonst lächerlich machte – vielleicht nicht gleich, aber vor der Nachwelt bald – , das wird halt verschwiegen. Warum sollte sich das, was nicht erst mit >>>> Meere begonnen, meinem neben >>>> den Elegien persönlich wichtigstem Buch, plötzlich ändern? Ja, es war vorauszusehen, und ich ahnte es ja auch, aber konnte dem lange mit dem mir eigenen Trotz und einer, sagen wir, Spekulation auf ein Später begegnen, mit der Gewißheit eben einer Nachwelt. Auch die hat, meiner latenten Resignation wegen, einen Sprung bekommen. Und alles dies strömt in das Vorhaben des Sterberomans mit ein, der – „naturgemäß“ muß ich schreiben – n i c h t mehr vorausschauen kann, sondern zurückschauen muß, weil es dieses Später eben nicht mehr geben wird, bald, s e h r bald nicht mehr geben wird –
Und daß ich nicht noch einmal Vater werden werde, auch diese zunehmende Gewißheit, seit Αἰαιαη, ist mir geworden. Ich realisiere mein Alter. Daß es keine Frau mehr geben wird, für mich, die ganz aus sich heraus ein Kind will und aber es, doch eben auch, von mir will. Sie müßte denn, notwendigerweise, sehr viel jünger sein als ich. Die Tür ist zugegangen. Sie ging noch einmal auf, doch schlug sich sofort wieder zu. Da hatte ich noch vier Finger in ihr. „Was machen Sie mit Ihrem Schmerz?“ fragte >>>> die Chromosomin in einer Email – und so die Löwin auch: „Du machst zu viel mit dir allein aus in letzter Zeit. Du sprichst nicht, du schreibst nicht über das, was in dir vorgeht. Das ist nicht gut.“ Wobei das nicht gänzlich stimmt. Ich spreche schon, und wenn ich in Gesellschaft bin, geht es mir gut, so auch gestern, bei der Familie. Da bin ich ganz einig, und auch und gerade im Beisein der Löwin. Kehre ich aber zu mir in meine Arbeitshöhle zurück, steigt unversehens das graue Gemüt.

(Das ist allerdings nicht ohne Komik. Denn eine Midlife-Crisis, die man mit knappen neunundfünfzig hat, sagt ja wohl aus, daß man hundertachtzehn werde.)

Arbeitshöhle, Arbeitswohnung. Es hat auch etwas Symbolisches („Das Leben als einen Roman betrachten“), daß mein geliebter Kachelofen explodiert ist und ich nun in der Kälte hocke, die aber nicht das schlimmste, die sogar ganz gut auszuhalten ist; schlimmer ist, daß seither alles irgendwie verrottet, keine Ordnung mehr, auch nicht auf dem Schreibtisch, Flecken überall am Boden, Flusen, Staubmäuse in Rattengröße. Ich muß hier wirklich durchgreifen, endlich.

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Heute w o l l t e ich durchgreifen. Aber nun schreibe ich erst mal.

[Keith Jarrett, Napoli 1996.]

Weihnachten. Das mir seit jeher nahste Fest. Licht. Bin ich mit der Familie, freu ich mich auch drauf; bin ich wieder alleine, will ich am liebsten weg. Ganz weg. Aber nun liegt der Hase in der Marinade:

Und gestern, als mein Sohn hier war, haben wir den Teig für Heidesand bereitet, den wir heute backen werden. Und werden heute eine weitere Fuhre vorbereiten. Poetisch schreiben werde ich wohl nicht, vielleicht aber >>>> den Kjærstad „aus“lesen, die verbleibenden siebenundzwanzig Seiten, bevor ich mich an die Kritik setzen werde, wieder für >>>> Volltext. Und heute am späten Nachmittag, wenn es schon dunkel sein wird, werden mein Sohn und ich den Weihnachtsbaum kaufen gehen. Alle sonstigen Vorbereitungen sind abgeschlossen.

>>>> Braunschweig. Kindheit. Jugend. Der Aufenthalt hat mich noch eine Spur zerbrechlicher gemacht, wiewohl die Löwin, ausgerechnet wie typischerweise Blick in Blick mit Eulenspiegel, eines der gelöstesten Fotos von mir geschossen hat, die es, glaube ich, überhaupt gibt:


Es ist von inniger Größe, wie sie mit alledem umgeht, wie sie mit diesem gespaltenen Mann umgeht, der, ist er bei seiner Familie, ein wieder ganz anders tickender Herzgeist ist… – Wie so alles, was ich bin, von solch einer harten Ambivalenz durchzogen ist, einer, die sich nie zu einer harmonischen Einheit verbindet, sondern Gespaltetsein ganz und gar ist, für die, die ihn lieben, Zumutung und Zumutung auch ganz für sich selbst. Ohne die, nach wie vor, innere Sicherheit, die man von einem Menschen meines Alters mit Recht doch erwartet, vielmehr sicher allein gegenüber seinen Kindern und für sie; immerhin in dieser Hinsicht habe ich auch Selbstverläßlichkeit erreicht, ein unbedingtes Dasein, auch für die Zwillingskinder, deren genetischer Vater ich nicht bin, aber bin und bleibe es sozial, und will das.
Verläßlich für die Kinder. Ob noch verläßlich für meine Dichtung, das aber weiß ich nicht mehr. Ich habe momentan zwar Ideen, Ideen wie seit je, aber die Energie, sie auch zu heben, ist mir verloren gegangen. Dabei müßte ich mich freuen, ja glücklich sein: in etwas mehr als einer Woche flieg ich nach Neapel, fahre dann zu >>>> Parallalie, dem anderen Freund, und habe für April/Mai die Zusage für eine Seereise, die mich einmal um die halbe Welt tragen wird, und weitere anderthalb Monate später werde ich auf einem Windjammer fahren; ja, ich müßte mich freuen und ich freue mich auch, aber alles ist von einem Schleier überworfen, der ganz aus Traurigkeit gewebt ist, gewirkt von der Vergeblichkeit.

Es waren großartige Lesungen mit wundervoller Resonanz, ob in Jena, ob in Braunschweig. Menschen hörten zu, deren Zuspruch mir Mut machen sollte. Und macht. Und doch: bin ich dann wieder allein… –


Kannst Du ihn weinen hören?
Dann hörst Du, Vater, mich.

>>>> Bei Keith Jarrett, als er 1996
für alle Zeit in Neapel spielt.
Wie dankbar ich für diesen Mitschnitt bin! Aber meine Hände, hier im Ungeheizten, sind ganz kalt. Besser, ich ziehe mir n o c h einen Pullover über. Das wäre heute der bereits vierte.

(10.35 Uhr.)

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