Das letzte Arbeitsjournal. Am Donnerstag, dem 26. September 2013. Ein Abschied. Vielleicht. Vielleicht eine Ankunft. Aber das geht Sie nichts mehr an.

[Für meine Löwin.]

Draußen, die ganze Nacht hindurch, rauschte der Regen. Hier aber fielen die Bücher aus der Bücherwand, in die noch, wie einst, der Plattenspieler integiert war, den nun die Bücher, die von ganz oben knapp unter der Decke, zerschmetterten. Die nächsten Bücher fielen schon, wir sprangen auf, die Löwin und ich, schon, um uns selbst zu schützen, denn die Schlafcouch steht direkt unter ihnen, und selbst die Bretter der Regale schoben sich vor aus der Wand und kippten. Sie hielten aber, einige, n o c h, doch bogen sich schräg, einzig gehalten – aber für wie lange? – von den massiven, bereits abgeknickten Schrauben. Ich konnte durch die entstandenen Löcher blicken, sah einen engen Gang, eine Art Zwischengang vor einer durchgezogenen Wand aus Glas dahinter, hinter der wiederum getanzt wurde, und Stroboskoplicht flatterte; seltsamerweise hörte ich keinerlei Discosound: Der Techno hätte brüllen müssen. Aber er war stumm. Doch die Menschen tanzten, alles junge Menschen, auf eine fast utopische Weise gechict, wie gut bekleidete Replikanten mit scharf gegeltem Haar, so glatt und schimmernd aller Frisuren.
Von diesen Leuten standen auch einige in dem Zwischengang, lehnten sich an die Wand, an die Bücherwand von der anderen Seite. Eben dieses durchlöcherte sie, doch tat ihr eigentlich niemand Gewalt an. Nur dieser Druck war, der von drüben auf die Dübel drückte, sie zu uns herausdrückte und alles zum Einsturz brachte, was mir das Herz meines Daheims ist. Ich versuchte zu rufen, durch die Löcher, die größer wurden, zu rufen, ein Reflex vielleicht auf den Mann, der >>>> bei Shakespeare die Wand spielt. Träume sind logisch. Sie stellen Zusammenhänge bildlicher her, als je ein Dichter könnte:


Die Löwin lief hinaus, lief ins Treppenhaus, um nebenan zu klingeln. Aber da gab es keine Tür mehr zu der Wohnung, da war nur noch Wand vor der Treppe. Vorhin noch, als wir heimgekommen waren, war die Tür dort gewesen. „Da ist keine Tür mehr!“ rief sie, die Löwin, als sie zurück in die Arbeitswohnung kam, und sah mit mir zu, wie immer weitere Bücher fielen. Ich rief den Vermieter an, erreichte ihn auch. Er wolle sich drum kümmern: Weitere Auskunft erhielt ich nicht.
Ich würde alles aufgeben müssen, mein Heim aufgeben müssen, es gibt nirgends anders Platz für die Bücher. Wir waren vom Schicksal ausgebombt worden.

Vom Schicksal? Nein. Von mir selbst:

Das Projekt dieses Arbeitsjournals ist gescheitert. Es war ein künstlerisches Projekt, das es ernstmachen wollte mit der Ehrlichkeit: offen leben, >>>> sich zugeben wollen, verwundbar machen. Doch dieses verwundet auch andere Menschen. Wir leben in einer Matrix. Die Löwin ist nicht mehr da. „Wie soll ich das aushalten können?“ Und sie erinnerte mich daran, wie Αναδυομένη noch wochenlang tief verletzt war, weil sie >>>> erstmals in Der Dschungel von ihr, der Löwin, erfuhr, aber nicht ahnte, wie tief sie schon in mich gepflanzt war. Nun hatte ich mit ihr sprechen wollen, der Löwin, >>>> und schrieb es ihr auch; sie wollte an diesem Wochenende kommen. Ich habe das Telefon nicht gewollt ohne Geste und Blick und eine Umfangung, die leiblich ohne Trennung wäre zwischen hier und dem Wien. Nun i s t Trennung. Mein Traum interpretiert sie schon richtig.
„Bitten Sie mich niemals darum, mich zu entscheiden“, hat sie zu Anfang unserer Liebe gesagt: „Ich bin schneller weg, als Sie denken.“ Denn sie ist in Wien nicht allein, hat einen anderen Partner, schon lange, viel länger, als es mich für sie gab, jemanden, ohne den sie nicht, sagte sie, leben wolle, noch könne. Ich habe das akzeptiert, wirklich nie eine Entscheidung gefordert, noch gewollt, lebte damals zumal in einer eigenen wie auch immer schweren Beziehung. Als diese, für mich unter Schmerzen, gelöst ward – Schmerzen, weil meine Kinderhoffnung auf eine Familie wie endgültig zugrundeging – , geriet die gesamte Balance ins Wanken; dennoch stellte ich auch da die Entscheidungsfrage nicht, sondern richtete es mir ein als freier Mann und begann zu genießen, es zu sein, besaß die sich, zu der Löwin, zunehmend fester verwachsene Bindung und konnte dennoch tun, wie ich mochte, ja die räumliche Entfernung schloß jeden Alltag aus, unter dessen schleichend perfiden Attacken auf Sexualität alle meine Partnerschaften zuvor hatten so zu leiden bekommen, daß ich noch jedesmal fremdging, und jedesmal ging es dadurch zuende. Die Löwin aber und ich – wie ideal! Bis sich, heute vor fünf Tagen, Cupido anschlich, und er nicht allein. Sondern er brachte Gefolge mit, eigentlich war er selbst nur Gefolge, nämlich seiner Mutter; und dazu war sogar die alte Widersacherin, Hera, getreten, die das Heim schützt und für das Heim wacht – oder war es Demeter, die Höchste von allen? Ich weiß es nicht, hab ja keine und keinen gesehen als eben Αἰαιαη. Außerdem war es dunkel im Saal, nur die Bühne erleuchtet.

Es hat immer wieder Frauen gegeben, die in Die Dschungel traten, zum Beispiel, eine wunderschöne Geschichte, >>>> Artemis Lyon, ihr schmaler silberner Ohrreif liegt immer noch hier; doch selbstverständlich >>>> verschlüssele ich; dennoch, die Nahsten verstehen. Sie nur, aber, können verwundet werden. Allen anderen Leser:innen ist Fiktion hier Realität und Realität Fiktion. Deshalb, meiner Nahsten wegen, gab es bereits früher den Impuls, >>>> die Vorhänge herunterzulassen, und eine unbedingte Notwendigkeit, es zu tun – was ich nachher aber stets unterlief. Nicht selten schlug ich mich mit dem Gedanken herum, Die Dschungel gänzlich aufzugeben. Aber zugleich wußte ich, sie ist eine Schlagader meiner literarischen Existenz, und meine Art Offenheit gehört als ihr Kernstück dazu. Es gibt niemanden außer mir, der sie so wagt.

Gewagt hat.
Ich möchte nie wieder derart verletzen.

Nein, hätte ich die Αἰαιαη-Erzählungen nicht geschrieben, sehr wahrscheinlich hätte sich die Löwin auch dann getrennt. „Wie stellen Sie sich das vor?! Ich reise an, und Sie erzählen, und ich reise dann wieder ab? Wie soll ich bei Ihnen liegen, wenn sich Ihr ganzes Sehnen auf eine andere richtet?“ Denn selbstverständlich h ä t t e ich erzählt, endlich erzählt, wovon mir das Telefon den Mund noch verschloß, weil es eben nur Telefon ist und nicht die geschriebenen Küsse auf ihrem Weg von den Gespenstern ausgetrunken werden, sondern – Kafka irrte – eben jene, die fernmündlichen, weil deren Aggregatzustand den Gespenstern sehr viel näher ist, als wenn sie Tinte oder ein Laserdrucker fixiert hat. Ich will nicht lügen und täuschen, habe es einige Jahre lang getan (es gelingt bei Frauen nie, sie spüren es immer, oft schneller als man selbst) oder zumindest hab ich’s – um zu schützen, wie ich mir vorgab – versucht, aber nie war das gut. Sondern ich will offen sein, auch wenn ich den Verlust riskiere. Wenn jedoch eine weite räumliche Entfernung zu bewältigen ist, dann kommt die Nachricht früher beim Empfänger an als das nahe gesprochene Wort; ausgedrückt muß sie in einem Konzept wie Der Dschungel aber sein. Es nicht, was geschah, zu erzählen, wäre ein Verrat an meiner Poetik gewesen. Aber es zu tun, wie immer auch literarisiert, ist Verrat an den Menschen. Darum kann ich sie nun nur beiseitelegen, nunmehr, nach knappen zehn Jahren Arbeit an ihr und ihrem Durchleben, kann nur sagen: Ich habe mich geirrt, es i s t nicht durchzuhalten – nicht durchzuhalten meiner Lieben wegen; ich selbst hielte es schon aus. Die warnenden Freunde, alle, hatten recht. Wir sind nicht nur wir selbst, sondern sind immer auch andre, für die wir eine Sorgfaltspflicht haben.

Ich bin in Der Dschungel sehr weit gegangen und mußte das auch, schon, um dem Prozeß um >>>> Meere etwas entgegenzustemmen, der meine ganze Existenz mehr als jemals sonst ein Geschehen gefährdet hatte – etwas entgegenzustemmen, das sich ästhetisch begründet so, wie auch Meere ästhetisch begründet war; es ging da nie um, wie man mir in den Feuilletons vorwarf, „Abrechnung“ oder gar um einen Schutt, den ich aus, so Iris Radisch in DIE ZEIT, Rachegelüst auf eine Geliebte kippte, als sie ging. Sondern es ging darum, auf eine literarische Weise Belange zu gestalten, Obsessionen, Verzweiflungen, Höhen, die uns alle angehen, aber durchweg verschwiegen werden, damit sich ein Menschenbild erhält, das bis in die Wurzeln gefäscht ist. Da wollte ich jäten und etwas Neues pflanzen. Das setzte ich in Der Dschungel fort, begann noch, auch wenn das riskant war, während des laufenden Gerichtsprozesses. Und baute eine neue Ästhetik ins Netz. Ich tat es nicht allein. Besonders Frauen, heute berühmte Frauen, in den Bildenden Künsten, taten es mit, taten es teils mir voraus. Die Dschungel strömte da nur in einem anderen Feld, und mit Erfolg. Aber ich habe verletzt und bitte um Entschuldigung. Alles Weitere, fortan, wird sich in Der Dschungel nur noch in radikal verfremdend literarisierter Form finden, als eine Erzählung, als ein Gedicht, als Auszüge aus entstehenden Romanen oder als theoretische Prosa. Und nur auf der Hauptsite. Das Arbeitsjournal hingegen werde ich auf sachliche Arbeitsberichte herunterfahren, vielleicht am Ende eines jeden Tages geschrieben, vielleicht mal am Anfang, und je mit Links auf die neuen Texte der Hauptsite. Keine persönlichen Überlegungen mehr, keine Erregungen, keine Trauer und kein Glück. Nichts mehr von Frauen, nichts mehr von Kindern, nichts von den Freunden. Und ohne Latte macchiato. Es waren davon auch Gläser genug. Ich habe sehr viel verloren. Das Innigste, was ich außer meinem Sohn hatte. Ob ich nun etwas gewinnen werde, das, liebe Leserin, lieber Leser, ich schrieb es oben schon: geht Sie nichts mehr an. Vielleicht werde ich zu einer noch neuen Freiheit finden, weil der Druck der Journale wegfällt, die sehr viel von meiner poetischen Intensität Tag für Tag in sich aufgesaugt haben. Aber wir enden mit dem Verlust.

ANH, 13.11 Uhr.
Arbeitswohnung, Berlin.