Nun zeigt die Erfahrung, daß sich die radikale Öffnung nicht durchhalten läßt: Produktivitätstheorie, die auch die sentimentalen Gefühle, ja organischen, wo nicht erotischen Vorgänge einfangen will, welche die poetische Erfindung befeuern, wird dann unmöglich, wenn das Geschehen und der Gedanke auf andere hinübergreifen, die deshalb mit derselben Unbedingtheit zu behandeln wären, der sich der Künstler selber unterzieht1. Das DTs als richtunggebender, überprüfbarer Plan bleibt davon prinzipiell unbenommen, es ist aber auch bloß die Form; die Inhalte hingegen – von latte macchiato bis zu Liebesbelangen – bekommen entweder (also einmal ganz abgesehen von exhibitionistischen Anteilen) den Charakter einer Entschuldigung oder werden, weil naturgemäß davon andere Menschen mitbetroffen sind, indiskret; wobei letzteres nicht an s i c h das Problem wäre, sonden die ungewollte aber unumgehbare Verletzung von Gefühlen, die ein Tagebuch dann mit sich bringt, will einer tatsächlich radikal sein Befinden und Denken darstellen. Nur dann aber hat es einen produktivitätstheoretischen, nicht-exhibitionistischen Sinn; nur dann führt es zu Erkenntnis. Da das Tagebuch in diesem höchst moralischen Widerspruch gefangen ist, müssen erneut die Vorhänge fallen. Und für die poetologische Erkenntnis bleibt tatsächlich nur der >>>> Roman 2.
Dafür spricht auch, daß die im Tagebuch erzählende Person in dem Moment zu einer F i g u r wird, wenn sie von sich selbst inszeniert wird: Jede Streichung, jede Auslassung, jede Form der Dikretion i s t eine solche Inszenierung, für die man sich zum Autor seiner selbst macht. Die öffentlichen Tagebuchschreiber behandeln sich so, als wären sie Protagonisten eines romanhaften Geschehens (dem man nicht ganz zu Unrecht eine Planhaftigkeit unterstellt, die dem tatsächlichen Leben, jedenfalls allem Anschein nach, fehlt). Wenigstens in der Darstellung eines Weblogs wird man zu ihrem bzw.seinem eigenen Autor – und das Weblog, auch das den Chat ersetzende “Plauderblog”, zum Roman.
1) Man gewärtigt auch objektive Nachteile, etwa ist man in einem juristischen Streit befangen. Das öffentliche Tagebuch, das sich ernst nimmt, darf nicht zensieren. Behält es aber keine Informationen vor, bringt das Rechtsnachteile mit sich. Dasselbe gilt für das erotische Leben: Die Wahrheit zuzugeben, zieht die Gefahr an, Liebe zu verlieren.
2) Oder der Spielfilm. Der aber, da er sich nicht zuklappen und irgendwo und irgendwann wieder aufklappen läßt wie ein Buch und deshalb weniger Zeit zur Verfügung hat, muß aufgrund seiner größeren K ü r z e aussparen. Interessanterweise führt das, anders als zu erwarten, nicht zu einer dichteren Metaphorik. Jacques Rivettes 760 Minuten “Out one – Noli me tangere” führen das vor.
„dem man nicht ganz zu Unrecht eine Planhaftigkeit unterstellt, die dem tatsächlichen Leben, jedenfalls allem Anschein nach, fehlt“
Den Nagel auf den Kopf getroffen…..
Ich sehe mich – mehrfach schon erörtert – vor dem gleichen Problem. Die Vorhänge blieben vielleicht nur häufiger geschlossen. Noch kämpfe ich *lächelt