„Gib deine Seele und schütte sie aus!“ Christof Loys Inszenierung der „Francesca da Rimini“ von Riccardo Zandonai unter Iván López-Reynosos Leitung an der Deutschen Oper Berlin.


[Gesehen wurde die – seit der online-Premiere 2021 –
achte Vorstellung, nämlich am Freitag,
den 24. Oktober 2025. Sie ist hier besprochen.]

Fotografien ©
Ekaterina Sannikova: Alexander Kagantsev
Szenenbilder: Monika Rittershaus
Applaus: ANH

 

             Dies war, was wir „eine Sternstunde“ nennen, eine, die nicht nur eine, sondern zweieinhalb Stunden währte. Wie aber sollte es anders sein, als daß sie sich aus Not erhob? Die Primadonna nämlich, ausgerechnet Sara Jakubiak, die Sängerin der Titelrolle, war unversehens erkrankt – und woher so schnell die Ersetzung nehmen? – bei einem Stück, das, wie erklärt werden mußte, „alle zehn Jahre einmal“ aufgeführt werde? Wer hat da die sanglich überdies extrem anspruchsvolle Partie denn einfach so drauf? Nà, „einfach so“… schon mal das ..!
Also ging die Sucherei los – weltweit, wohlgemerkt. Und siehe, Polyhymnia wollte … – ja, wahrscheinlich sie selbst … Polyhymnia (Euterpe eher nicht) wollte, daß die Aufführung auf keinen Fall ins Wasser fiel, gerade die nicht | eines solchen tiefen Stückes. Vorausschauend also hatte die Muse es eingerichtet, daß Riccardo Zandonais fast vergessene Oper zugleich in Torino (wo sie 1914 uraufgeführt worden ist – … Sie glauben noch immer, daß es Zufälle gibt???) … wo sie nicht nur auf dem Spielplan stand, nein, sondern über die Bühne direkt am Vorabend ging, und zwar mit einer Francesca, die nicht nur den Mut hatte, sondern vor allem auch genügend sängerische Kraft hat, sich nächstmorgens in den Flieger zu setzen, um abends mit dieser mörderischen Partie nun auch in Berlin auf der Bühne zu stehen: Ekaterina Sannikova.
Nun haben Ukrainerinnen und Ukrainer solchen Mut; wir wissen’s aus anderen, → aus furchtbaren Geschehen, gegen die sie sich mit ganzem Körper und vollster Seele wehren. Und hier, in der Oper, wehrt sich eine Frau gegen den schlimmsten Betrug und ist aber doch selbst von der Gewalt der Zeitläuft’ geprägt: Bei Dante zwar, von dem die Urgeschichte stammt, scheint Francesca noch ein sanftes Mädchen zu sein, das die politischen Hintergründe nicht begreift; bei D’Annunzio hingegen, der die dramatische Vorlage für das Libretto dieser Oper schrieb, ist sie eine selbstbewußte, ja fordernde – ecco! – F r a u – was es eben ist, das in den Augen ihrer Familie sie zu täuschen erst notwendig macht.
Nämlich wird als Brautwerber der schöne Bruder des ausgewählten, aber mißgestalteten Bräutigams gesendet, damit Francesca ihn für den Bräutigem hält … und D’Annunzio hätte der großen Eleonora Duse, der er sein Stück auf den Leib schrieb, tatsächlich „ein Mädchen“ nicht zumuten können. So mußte sie sich denn, die wider Wissen vom schönen Anblick getäuschte Francesca, wenngleich sie das Unheil längst vorausgeahnt hat – … mußte sie sich an den Männern rächen … ihrerseits in Intrigen wie verknotet, die der wirklich Geliebte zerschlagen nicht konnte. Der zwar schöne, aber schwache Mann weiß ja selbst nicht recht, wohin. Erst flieht er, dann kommt er wieder, Manns noch immer nicht und erst am bitteren Schluß dann genug. Was es eben notwendig machte, Dantes Deutung denn doch … nein, nicht zu wiederholen, sondern: zu bestätigen – auch wenn das eigentlich nicht nötig und sogar, ja, widerlegt ist. So bleibt am Ende nur die (mit lange vorher der Erwähnung von Tristan und Isolde schon angeschnibbelte) Vereinigung der Liebenden im Tod – hier aber, wenn wir mythisch argumentieren, als Strafe für die Illoyalität ihrer Familien. Denn die sich hier verbunden hatten, waren Francesca da Polentas papsttreues, also guelfisches Haus und ihres Mannes Giovanni (sowie des Geliebten, Paolos, und seines Bruders Malatestino) kaisertreues ghibellinisches. Schon das mithin ein Verrat. – Bei Dante finden wir die Geschichte in seiner Divina Commedia fünftem Gesang, hier in der rhythmisch wunderbaren Nachdichtung von Otto Gildemeister in meiner Ausgabe von 1916 des Askanischen Verlages, Berlin:

Und zwar erzählt er, Dante also, die historischen Zusammenhänge nicht, aber seine Zeitgenossen wußten sofort, was gemeint war; allein die Nennung der Städte Ravenna und Rimini genügte. Wobei Francesca da Rimini noch bis heute Lehrstoff an den italienischen Schulen ist, alle kennten die Geschichte– so erzählt es der Regisseur, Christof Loy, in einem ausgesprochen lesenswerten, im Programmheft abgedrucken Gespräch.

              Was D’Annunzio symbolistisch hinzufügt und worin ihm Tito Ricordi, Zandonais Librettist, trotz seiner Streichungen unbedingt folgt – erst dies nämlich macht dem Komponisten seine zugleich kräftige, bisweilen auch brutale wie hochkomplexe Musik möglich, die schon deshalb für ihre Entstehungszeit ausgesprochen modern ist – , ist die, ich nenne es mal „Tragik des Wissens“. Genau sie verlangt eine stolze, denkende Frau, die schließlich nicht nur ein Verhältnis mit Paolo, dem einen Bruder ihres Ehemannes, sondern auch mit dem sadistischen zweiten hat; alle macht sie abhängig von sich, wobei nicht ganz klar ist, ob nicht seinerseits er, der brutale Malatestino, seine Schwägerin einfach nur erpreßt. Denn als sie sich ihm endlich verweigert, verrät er ihre und Paolos Liebe dem gehörnten Ehemann – und da kann dann (wir sind halt im Mittelalter) nur noch der Tod die Folge sein. Der bei D’Annunzio und Ricordi also mehrfach – damit tatsächlich schicksalhaft – vorauscodiert ist: Es gibt so wenig ein Entkommen, daß selbst, was noch bei Dante der Grund für die unerlaubte Liebe war, bei D’Annunzio und Ricordi aber nicht (da ist es eben der Betrug) … – daß eben dies, ich deutete es schon an, geradezu ritualisiert werden muß, und zwar völlig bewußt: nämlich durch die gemeinsame Lektüre der Liebesgeschichte von Guinevere und Lancelot. Und wie bei Dante können die beiden nun nicht mehr anders, als ihrem Begehren nachzugeben. Schuld habe der Dichter, der die Geschichte erzählt. So „entschulden“ sie nunmehr sich selbst und brauchen keinen Dante mehr dazu. Ziemlich abgefeimt, wenn wir es psychologisch betrachten – und mythisch sowieso. Wir müssen dazu über die Bühne hinweg auch nur aus dem riesigen Terrassenfenster schauen. Als ich dieses enorme Bild das erste Mal sah, dachte ich, ich schaue in eine Landschaft aus Spielbergs Jurassic Parc 1, derart archetypisch ist es und prägt imgrunde alles. Genau deshalb braucht die eigentliche Bühne auch keine weitere Ausstattung, jedenfalls kaum.

Kompositorisch freilich ist dergleichen nicht mehr plan zu erzählen, der Verismo (Zandonais Lehrer war Pietro Mascagni) reicht da nicht ran; selbst der späte Verdi wäre dabei überfordert gewesen. (Allerdings hätte ihn das Sujet wohl auch kaum interessiert; er war kein Allegoriker). Sondern Zandonai – postmodern gesprochen – collagiert die von Ricordi übernommenen allegorischen Raffinessen D’Annunzios mit den kompositorischen Claude Debussys, ja sogar Ravels sowie mit Richard Straussens Instrumentierungsgenie und streut dazu einige harte Dissonanzen hinein, sogar schon ganz zu Beginn; allerdings müssen wir da noch von „zarten Dissonanzen“ spechen, Störkörperchen, freien Radikale sozusagen, in den Harmonien – ohne aber, daß die Musik wirklich atonal würde. Sie schwingt vielmehr im ungefähren Raum, und nur, wenn sie katastrophal wird, aufschreiend gleichsam …

(das ist mir nach einer Opernaufführung lange nicht mehr
passiert, daß meine Ohren noch Minuten wie zugestopft waren)

… nur dann wird sie – aber grausam eben – konkret. Von allen Einspielungen und Aufzeichnungen, die ich mir zur Vorbereitung auf diese mir bis dahin unbekannte Oper angehört und angesehen habe, ist die an diesem Haus, der Deutschen Oper Berlins, die mit Abstand einprägsamste, auch und gerade musikalisch. Hinreißend, was unter der Leitung Iván López-Reynosos (der wie der geniale René Jacobs auch noch ein Altus ist) das Orchester hier vollbringt.

             Aber noch einmal zu Frau Sannikova zurück, die, als sie angekommen in Berlin, gewiß noch Zeit für eine Gesangsprobe brauchte – für die Inszenierung konnte es keine mehr geben. So kam das Haus auf eine gewagte Idee. Das Schauspielerische übernahm eine der beiden Spielleiterinnen des Abends, nämlich Eva-Maria Abelein, die ja jede Bewegung der Figur innigst kennen muß und überdies der „eigentlichen“ Sängerin, Frau Jakubiak, durchaus ähnlich sieht. Ihrerseits die eingesprungene Sängerin steht links am Bühnenrand und singt, schaut nur zuweilen her, in die Szene her, und wenn Francesca schweigt, geht sie, die Sängerin, unmerklich ab, um bei neuem Einsatz wiederzu- – ja!: -erscheinen ist das richtige Wort. Und singen tut sie herzbeklemmend: arrogant, fordernd (: wie schon gesagt), auffahrend, verletzend und verletzt und wissend verzweifelt verloren.
Das ist alles faszinierend und – bedrückend. Denn damit wurde, aber szenisch, ein noch weiterer Schicksalspflock uns ins Bewußtsein gestoßen: daß diese Liebenden zusammenkommen nicht können und – mehr noch – auch nie kamen. Daß die eine Frau dunkelhaarig ist und die gespielte Francesca blond, unterstreicht dies noch besonders, So ging der Abend über Libretto und Musik noch hinaus, ward zur Unmöglichkeit als Bild. Obwohl – bisweilen – der von der Schauspielerin als Mundbewegung gemimte und tatsächlich, von Ekaterina Sannikova, gesungene Gesang komplett amalgamierten, wir ständig aber doch beide Frauen zugleich vor unsren Augen hatten. – Genau dieses ist es, was ich als Sternstunde empfand und wofür ich gleichsam doppelt dankbar bin. Was mich noch immer und sicher weiterhin bewegt.

            Trotzdem noch ein Wort zu den andren; anders wär es ungerecht:
Wunderbar baritonal Dean Murphys fahrender Spielmann, auch und gerade sanglich. Rodrigo Garulis Paolo il Bello hat einen klasse so dramatischen wie, ohne je ins Jammerige zu kommen, lyrischen Tenor. Wenn sie zu greinen beginnen, halte ich italienische Tenöre nur sehr schwer aus – und hier, gerade bei dieser Rolle, liegt die Gefahr sehr nahe. Aber Garuli blieb ständig hoch fokussiert und warf schon gar nicht mit Speckseiten um sich, kurz: vermied jegliche Rührseligkeit. Sehr einfühlsam (so, wie sie eben auch heißt, und gesungen von Maria Vasilevskaya) Francescas Schwester Samaritana; mies triumphierend, quasi ständig, der sadistische Malatestino dall’Occhio Thomas Cillufos – und fast mitleiderrregend Giovanni lo Scianato in Ivan Inverardis Interpretation. Wobei hier aber dann doch eine leise Kritik angemerkt werden muß (für die der Sänger aber nichts kann): Im Vergleich mit seinen beiden Brüdern wirkt er (in dieser Rolle) leider so alt, daß es – jedenfalls anfangs – zu Verwirrungen kommt. Sogar ich selbst, egal, wie vorbereitet, habe ihn, einfach aufgrund seiner physischen Erscheinung, erst einmal für den Vater seiner Brüder gehalten – und zwar auch deshalb, weil er, der in der Oper auch Gianciotto genannt wird (also „der Lahmende“), was so auch im Libretto steht, überhaupt nicht lahm oder sonstwie behindert ist. Das soll er aber gerade so sehr sein, daß er diesen fiesen Spitznamen kriegte. Der hätte sonst gar keinen Sinn. Hat hier also mal wieder „Wokeness“ die Streichhand geführt, um nicht tatsächlich behinderte Menschen zu verletzen, die vielleicht im Publikum sitzen? Es wäre nachvollziehbar, aber würde dieser Oper schaden, insofern etwas, das Francesca ganz sicher eigen ist, ideologisch weggeschwiegen wird. Denn nein! Diese Frau ist nicht gütig. Mit jemandem, der eine physische Einschränkung hat, würde sie sich niemals verbinden. Das genau ist ja der Grund, sie mit der Erscheinung des Brautwerbers, Paolo il Bellos also, zu täuschen – was gelingt, obwohl sie Schlimmstes vorahnt. Doch verfällt sie eben dem Anblick komplett und wird damit in einen der wichtigsten Gründe für diese Tragödie verstrickt. Streiche ich dieses Motiv, dann stürzt die gesamte Dramaturgie dieser Oper zusammen: Zandonai hat doch nicht grundlos so präzise Stein mit Stein verfugt! Also wäre ein – im übertragenen Sinn – „Blackfacing“ sogar nötig gewesen. Daß wir uns Giovanni als behindert nun leise, in unserm Inneren geheim, vorstellen müssen, führt die vermeintliche Wokeness sogar ins Absurde, ja Bizarre. Zwar, daß wir saufen, ist okay, aber wir sollen um die Flasche braunes Packpapier wickeln. Die purste Heuchelei und ein Diktat: zu verdrängen. Ich empfehle, Freud dagegen anzulesen. Wie sagte mir mal, fast erbost, eine Frau? „Ich laß doch kein schwaches Spermium an mein Ei!“ Da sind wir nah an Francesca … – jemandes Schwäche, gar eines Liebsten, läßt sie verwelken:

 

E la reina vede il cavaliere
che non ardisce di fare di più:

(„Baciami gli occhi, baciami le tempie
e le guance e la gola…
tieni, e i polsi e le dita…
così… prendimi l’anima e riversala.“)

 

„Che non ardisce di fare di più …“ Es ist einfach nur zum Heulen. Und aber dennoch: Nimm meine Seele und schütte sie aus.

 

 

___________
ANH
Oktober 2025

 

Nur noch zwei Vorstellungen.
Unbedingt hineingehen!

Jeweils um 19. 30 Uhr:
Fr., 31. Oktober 2025 Karten
Fr., 14. November 2025 → Karten

Riccardo Zandonai
Francesca da Rimini
Tragedia in vier Akten und fünf Bildern
Libretto von Tito Ricordi nach Gabriele D’Annunzios gleichnamiger Verstragödie
Uraufführung am 19. Februar 1914 im Teatro Regio in Turin
Digitale Premiere im Stream an der Deutschen Oper Berlin am 14. März 2021
Publikumspremiere am 19. Mai 2023
In italienischer Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln

Inszenierung Christof Loy Bühne Johannes Leiacker Kostüme Klaus Bruns Licht Olaf Winter Chöre Jeremy Bines Chor der Deutschen Oper Berlin Dramaturgie Dorothea Hartmann Francesca (Musikalische Gestaltung der Partie) Ekaterina Sannikova Francesca (Szenische Darstellung) Eva-Maria Abelein Samaritana Maria Vasilevskaya Ostasio Philipp Jekal Giovanni lo Sciancato, genannt Gianciotto Ivan Inverardi Paolo il Bello Rodrigo Garull Malatestino dall’Occhio Thomas Cilluffo Biancofiore Meechot Marrero Garsenda Hye-Young Moon Altichiara Arianna Manganello Adonella Martina Baroni Smaragdi Lucy Bakermer Toldo Berardengo Kangyoon Shine Lee Il Giullare Dean Murphy Il Balestriere Michael Dimovski Il Torrigiano Artur Garbas Il Prigioniero Michael Dimovski Schauspieler: Jan Gerrit Brüggemann, Farouk El-Khalili, Hanno Jusek, Marcus Mundus, Andrea Spartà, Koray Tuna, Benjamin Werth, Maximilian Reisinger, Kay Bretschneider, Niall Fallon, Eric Naumann und Pablo Nina Toculescu.

Orchester der Deutschen Oper Berlin, Musikalische Leitung Iván López-Reynoso








 

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