[BWV 536]
SKAMANDER. Aus dem 1. Kapitel:
„Und wie geht es dir?“ (fragte Hella).
„Ich schreibe wieder… wieder an Anderswelt. Darum bin ich hier.“
„Ah ja?“
Sie hatte schon seinerzeit einen immer etwas skeptischen Zug um die Mundwinkel bekommen – und Spott in die Augen -, wenn es um meine poetische Fokussierung auf ihre Gaststätte ging. Nie hat sie das richtig ernst genommen. Was ich ihr allerdings kaum verübeln kann, denn als ich damals Thetiskapitel für Thetiskapitel hier einen Monat lang allabendlich vorlas, waren bisweilen kaum drei Leute anwesend gewesen. Zu denen auch meine heute verlorene Liebe gerechnet werden muß. Weil das Interesse also ziemlich gering gewesen und vorn der Gastbetrieb weitergegangen war, um den sich Hella hatte kümmern müssen, mochte das Eigentliche an ihr wirkungslos vorübergegangen sein.
„Eines Tages bringt ihr draußen eine Plakette an“, sagte ich.
„Meinst du?“
„HIER IST DAS ZENTRUM DER ANDERSWELT.“
„Soso“, sagte sie.
„Nix soso.“ Ich lächelte.
Sie ging zur Kasse, nahm von dem schmalen Clipboard ihre Zigaretten, zog eine heraus, zündete sie sich an und notierte irgend etwas in die Liste hinein. Derweil sah ich mich um. Es war klar, daß sich Goltz nach dem furchtbaren Attentat mit der Tranteau treffen mußte, allein um sie zur Rede zu stellen. Sicher, er hatte ihr Informationen zugespielt, das Bündnis – zumindest eines des Waffenstillstandes – war besiegelt gewesen, doch ganz gewiß nicht, um einen derart barbarischen Terroranschlag zu decken. Soweit einer wie er das vermochte, war er wütend. Die Katastrophe hatte ja nicht die datische Welt getroffen, gegen die er sich koalieren wollte, sondern die materielle, auf deren Seite er sich mit dem denkwürdigen Treffen im Shakaden geschlagen hatte. Es war den erschreckend weiblichen Kampfdrohnen nämlich nicht gelungen, die Generatoren auszuschalten, geschweige zu zerstören; also waren bloß die Holomorphen unbeschädigt geblieben, unter Menschen hingegen waren nahezu 6000 Tote gezählt, darunter über 300 Kinder. Die Gegend selbst war auf Jahre wie kontaminiert. Noch brodelte der Boden, bisweilen schossen sogar neue Geysire hoch. Das Militär hatte die Maschinen innerhalb von Minuten teils abgeschossen, teils in die Flucht geschlagen. Nun war die Suche nach ihrer Herkunft losgegangen: Ganze Bataillone durchstreiften die wenigen weiterexitierenden Westbrachen und die Oststadt bis zu den Karpaten. Was sich den Truppen entgegenstellte, wurde erbarmungslos niedergemäht. Dennoch kam es auch in gesichertem Gebiet ständig zu Anschlägen, die Verluste waren nicht gering. Der Feind war zu massiven Selbstmordattentaten übergangen. Und Goltz beunruhigte die Ahnung, es werde über kurz oder lang mit diesen Selbstmordanschlägen auch in Buenos Aires losgehen. Allerdings hatte der Gegner für seinen Anschlag nur Biomechanoiden eingesetzt, das wenigstens ließ hoffen. Auch, daß man unterdessen die Leitfigur kannte, einen Mann, der sich Odysseus nannte und offenbar tief in den Bergen verschanzt war. Es ließ sich, auch wenn es bis dato keinen Bekennerbrief gab, nicht von der Hand weisen, daß dieser Führer maßgeblich an dem Anschlag beteiligt war, vielleicht liefen sogar sämtliche Fäden in seinen Händen zusammen. Das von ihm wohl über Jahre höchst geschickt geknüpfte Terrornetz machte als Al Quaida von sich reden und schien im Osten derart einflußreich zu sein, daß sich selbst die Schänder dem revolutionären Orden angeschlossen hatten.
Hierüber jedenfalls war mit Aissa der Wölfin nicht nur zu sprechen, sondern es mußte verhandelt werden, wenn ihr am Bestehen ihrer beider Allianz gelegen war. Welcher Ort also hätte sich für ein solches geheimes Treffen besser geeignet als ein Szenecafé in einer selbst für Pontarlier gänzlich belanglosen, weil längst auf das perfekteste durchgedateten Welt? So hatte Goltz der Rebellin verschüsselt gewebbt und wollte sie heute, jetzt, hier erwarten. Allein aus diesem Grund hatte ich mich ins SILBERSTEIN aufgemacht, das ich sonst aus mancherlei Motiven mied.
Ich wußte, daß eine Lappenschleuse hinter der Sushia mündet; Goltz käme also wahrscheinlich von da. Oder Deidameia. Sie konnten das Lokal freilich auch unauffällig durch die Tür betreten, also eine andere Schleuse, irgendwo draußen, benutzen. Deshalb behielt ich beides im Blick. Lange. Bestimmt eine Stunde hockte ich an der Bar, trank ein nächstes Bier, skizzierte, beobachtete, bekam Zweifel, ob ich mich im Datum geirrt hatte. Eigentlich m u ß t e es, aller Logik zufolge, dieser erste November sein. Sofern mir nicht im vorigen Buch ein Fehler unterlaufen war. Immerhin hatte ich mich schon in einem Firmennamen geirrt: Die AWG hieß in Wirklichkeit EWG, den Widerspruch zwischen „Thetis“ und „Buenos Aires“ hatte sogar das sorgsame Lektorat Delf Schmidts nicht bemerkt. Das nahm dem Unternehmen selbst freilich nichts, Vorgänge sind von ihrer Bezeichnung (fast) völlig unabhängig.