Berlin (1994, I)

Berlin: als Stadt sehr sehr groß, mit einem Traumfeld inmitten, die entsetzliche, doch eigenartig engelhafte Siegessäule aus Kanonenrohren, den Sternalleen, hin zum Brandenburger Tor, wo dann wieder Berlin anfängt. Stets hört die Stadt irgendwo auf, stets fängt sie seltsam wieder an, weite Trichter aus Bäumen und Nichts dazwischen.
Der jugendliche Westmensch ist irgendwie zurückgeblieben, ich habe das permanente Gefühl, eine Zeitreise rückwärts angetreten zu sein, – anders als in Sizilien, wo die Rückständigkeit nicht den Eindruck des Ungleichzeitigen auf mich machte. Man gibt sich hier noch immer wie zu Zeiten der Studentenrevolte: ein allenfalls auf 1978 vorgedrungenes 68.

Jetzt Staatsoper vor Walküre/Barenboim/Kupfer. Schönes kleines Haus, hochrenoviert. Spannung und Vorfreude.

7.3. Nun wird die Berlin-Tour doch zu einer Art Spießrutenlaufen: Bei der 2.Lesung wollte der Veranstalter das Honorar nicht zahlen, die 3. war vom Veranstalter vergessen. Zudem wenig bis kein Publikum. Die Presse reagiert seltsam: sehr freundlich, hinterher schlägt sie zu (TAGESSPIEGEL). Vieles ist sehr unverständlich. Das trübt mir jetzt ein bißchen das Stadtbild; Dielmann, der spürt, wie prekär die Lage ist, hat seinen Aufenthalt hier um einen Tag verlängert.
Andererseits bleibt die Stadt seltsam normal und seltsam aggressiv und seltsam frei. Es gibt hier tatsächlich “Szenen”. Nichts ist chic, alles eher rückwärtsgewandt. Gleichwohl voller Chancen.
Ich verliere zur Zeit meine Strukturen, die Finanzmisere komt dazu. Ständig die Überlegung, ob ganz nach Berlin gehen. Das bedeutete aber nun wirklich ein Ende mit D. Auch Sabine wäre vergessen.

Das, was ich in Berlin sehe, in eine Geschichte packen.
Außerdem hilft die Stadt Berlin bei Anderswelt. Diesmal nicht, wie in den Orgelpfeifen, die Stadt abbilden, sondern sehr sehr frei übersetzen. Die Stimmung nehmen. Wobei die Stimmung des Zentrums schon eher Frankfurt am Main entspricht (Dienstleistung). Mal sehen.

Gerade Tagesspiegel vom 5. gelesen: Da hat Mme Staudinger aber voll in die Scheiße gegriffen. Mir Beliebigkeit vorzuwerfen… Das ist in der Tat dumm.

Gestern nach der Lesung sagte ein Antiquitätenhändler, er sei seit 23 Jahren in Berlin; es gebe immer noch Ecken, die er nicht kenne.
Andererseits: Etwas über Berlin zu machen, wäre nachgeahmt. Das liegt auch zu nah. Eigentlich dürfte kein Text in Berlin spielen; Berlin gäbe lediglich die Grundierung ab: was zu übersetzen ist. Alles Ausdruck, nur Stimmung. Die Form muß anderswoher kommen.
Man kann sich hier bei den vielen Frei- und Ödflächen, die die verschiedenen Stadtgebiete miteinander verbinden, ganz gut vorstellen, wie Deters durch die Zentralstadt spaziert. Natürlich dürfen im Romen keine Leerstellen sein. Die sozusagen mit Frankfurt füllen.
Assoziation: Gefährlicher Gedanke, in die Berliner Ödnisse die anderen europäischen Städte zu kombinieren. * Aus Berlin wird sentimental der neue Nationalgedanke verständlich. Irgend etwas muß diese Stadt beieinanderhalten. Der Westen war eh schon regressiv; der Osten liegt noch weiter in der Ungleichzeitigkeit hinten. Das gibt einen Rückstoß, der für den Osten bereits ein Voran ist. Es braucht hier also den Westen, -den nicht-Berliner. Das ist wohl der Sinn dessen, was Peter Zimmermann meinte, als er sagte, die Stadt brauche Leute wie mich. Ähnlich gestern der Antiquitätenhändler: Wer eine Mission habe, komme um Berlin nicht herum.

Problematisch, besonders für einen wie mich: Dies ist der allerschärfste Konkurrenzkampf, da braucht man Rückendeckung, sonst geht man nicht nur unter, sondern zerstückelt sich. Ich kann das im einzelnen ja schon merken. Und darum, nur in “Kreisen/Zirkeln” sich aufzuhalten, kann es eben nicht gehen; da könnte einer auch in anderen Städten bleiben. Sondern: Durch Kraft integrieren und aufsaugen und formen. Wer -außer mir – hat derzeit die Kraft? Und ist ein Abenteuer nicht umso reizvoller, je aussichtsloser die vorgefertigte Position ist?
Ich sollte meine Hybris zähmen. Taco hat damals bezüglich Paris gewarnt; die Warnung dürfte hier ebenfalls gelten. Zumal es schwierig ist, mich hier zu tragen, wie ich bin. Berlin hat keine Ästhetik, anders als Frankfurt; die Stadt ist amorph, zersplittert und klumpt doch immer wieder. Die Klumpungen begründen mein Interesse, schrecken mich aber auch. Man muß hier viel spazierengehen und die Ödflächen in Kauf nehmen, ja vielleicht besonders sie beobachten, sich ihnen aussetzen mit Willen. Die Stadt hält, was sie gewesen ist und hätte werden können, in ihrer Ungleichzeitigkeit fest: Urteile, wohin man blickt. Wie bei einem ehemaligen Gefängnisinsassen, dem das Gefängnis auch lange nach seiner Resozialisierung anhängt: So hängt dieser Stadt der Krieg an und damit der Hitlerfaschismus, stärker als in irgend einer Stadt sonst. Frankfurt ist mit Fassadenglanz hinübergegangen, Berlin ist eine Anhäufung konservierter Wunden. So oft auch die Menschen: Wenige gehen hier aufrecht, alle sind leicht vornübergebeugt. Es wird recht wenig gelächelt; es schwelt eine subversive Aggression, die aus der Vergeblichkeit herauflangt.

9.3. morgens, Frühstück im Kempinski:
Italien neben Schottland; letztres nicht im Geist, aber wollige Farbkaro-Hose, passende Weste, vornübergebeugt wie Rückenschaden, leicht blasiert, sehr sehr kurzes Haar und hübsche Frau (nicht mehr weit vom Klimakterium). – Der “Italiener”: Sinopoli-Typ, ganz in Büschen von Haaren verschwunden. Weichen Schal im Schlaufenknoten lose umgebunden.
Die schreckliche amerikanische Slang-Spache. Größer kann der Unterschied kaum sein als der des US-amerikanischen ITB-Geschäftsmannes zu dem Schotten neben ihm. Jener sehr grob, only business in mind. Dieser kultiviert, auch skeptisch und doch verschroben. Wahrscheinlich ist der Amerikaner gesund. Vornehmheit trotz dieser britischen Neigung zu nicht zueinander passenden, auch noch großen Textilmustern. Der Italiener daneben: die sehr-südliche Spielart des dunklen, wohl auch heftigen Intellektuellen (leicht Godard-Typ). ***: Drei Typen, die die ganze Spannweite des Wohllebens repräsentieren. Zwei in der Kultur und in Kunst, einer im Bauch; exakt (der Ami sagt “ixäkt”) die Narbe zwischen den USA und Europa. Seltsam: Wie ich das beobachte, wird mir deutlich, daß es ein Vereintes Europa nicht geben kan, daß sich darin eine Ungleichzeitigkeit materialisieren würde, die zur Nivellierung von Differenzen führen muß. Jene aber gerade machen Europa so beachtlich: Die Heterogenität.

Aus dem Gespräch mit Thomas Hettche gestern abend: Wie diese Stadt verbinden zu einem Bild? Er: Vielleicht sei eine Einheit gar nicht mehr zeitgemäß, sondern das Zerfallen in Einzelismen der Gegenwart adäquat.
Das ist ähnlich Preißendörfers Kommentar zum Wolpertinger: Es interessiere ihn, P., gar nicht, ob ich die Bögen im Roman noch schlösse. Sondern die Disparatheit des Textes, das Auseinanderfallen der Elemente interessiere ihn so.
Dagegen Diana: Es spreche im Wolpertinger eigentlich immer nur eine Figur.
Das heißt: Bei mir die Neigung zur Vereinnahmung, zum Verbinden (also doch: Europa), zur Geschlossenheit. Dort die Neigung zur affirmierten Zersplitterung. Paßt wieder zu Berlin in seinen disparaten Szenen.

13.3. – Die Kalemba-Lesung ging fast in Schlägerei aus. Gießler von Mora erzählt mir jetzt, Kalemba habe hinterher herumtelefoniert, jedoch insgesamt keinen guten Stand. Hier also offenbar kein Problem. Bleibt in jedem Fall Stephan für Merrill Lynch. Muß ich mich melden (will aber nicht). – Kurzes Gespräch gestern mit Martin Dean, der eine Lesung im Literaturhaus hatte. Auch bei ihm nur 10 Leute (im Literaturhaus!), auch er hinterher Krach mit den Veranstaltern.
Bei Frauen, die einem nahesitzen, immer auf die Ohren achten!
Jetzt im Mora vor der Kapielski-Lesung. Ganz offenbar Szene-Treff. Die 33er sprechen sich nun also bis Reemtsma herum. Sehr schön. Rauschenbach habe gegrinst, als Gießler ihm eröffnete, ich läse im Mora.
Heute endlich wieder an Anderswelt gearbeitet. Eine halbe Seite Handschrift. Sehr zäh wieder. Poseidon trauert begriffslos. Aufbruch, will jetzt auch nach Sizilien, entscheidet sich um. Irgend ein ihm noch selbst nicht klarer Entschluß zur Subversion in der Fabrik. Hier holpert die Handlung. Auch fällt mir das mit-der-Hand-schreiben schwer. Dazu Isang Yun.
Berliner Szene, gerade im Anarcho-Bereich: tatsächlich mindestens zehn Jahre zurück (oder ein eigenartiges “voraus”?).

2 thoughts on “Berlin (1994, I)

  1. Kapielski. Tja. Puck, die bei der MORA-Veranstaltung vor zehn Jahren zugegen war, ruft mich eben an und erzählt, nach meiner Lesung habe Thomas Kapielski damals unwillig bemerkt: “Der schreibt ja gar nicht lustig!”
    Tja. Kapielski.

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