Nach der Bar: Radikalisieren!

[Matthäus-Passion]

Langes Gespräch wieder mit G., der zum ersten Mal dem Weblog-Projekt nicht mehr skeptisch gegenübersteht, sondern sinnlich zu erfassen scheint, was ich hier angefangen habe: einen Einspruch künstlerischer Arbeit gegen ihre auch juristische Normierung. Vorher in der Humbold-Uni Vortrag von Christoph Wulf über „Freies Spiel“. Dazu dann später in dem, worüber ich hier jetzt reflektiere. „Privates“. „Öffentliches“. Also NOTATE.
Den Ansatz dieses – eben!: – literarischen Weblogs radikalisieren, also auch die verstreuten Notate hineinnehmen, ganz bewußt ungefiltert: Beobachtungen, Aufzeichnungen, Exzerpte aus Büchern, die sich in meinen Arbeiten niederschlagen – oder eben auch nicht. Keine Überarbeitung, sondern eine Art Dokumentation. Steinbruch für Germanisten, Suchfeld für Gegner und Freunde, denen allen der Zugriff ermöglicht wird. Ich bin mir bewußt, daß dies auch Reflex auf das verbotene Buch ist, aber eben nicht n u r darauf, sondern zugleich Spiegel einer medialen Privatisierung und ihrer medienangetriebenen Vermarktung in „events“ wie BIG BROTHER und ähnlichem – und der Versuch, dem eine künstlerische Form zu geben. Wobei nicht gänzlich ohne zynischen Witz ist, daß gerade ich derjenige war, autobiografische Ansätze über Jahre zu befehden. Was mich zur Autobiografität und also dem mainstream in schroffen Widerstreit brachte. Nun stellt sich mir die Frage, inwieweit das Autobiografische nicht Motor g e r a d e der imaginativen, scheinbar „reinen“ Fiktionsdynamiken ist, als Verstellung, als Schimäre, als Bluff. Aber eben Motor (movens) und nicht die Form selbst, die einer Radikalität bedarf, wie etwa Günter Steffens sie in seiner grandiosen Annäherung an das Glück ein- für allemal festgeschrieben hat (neben den confessiones selbstverständlich).
Also ein Kapitel NOTATE einfügen, in welches ich meine Aufzeichnungen aus den letzten Jahren stelle, soweit sie sich in den verstreuten Skizzenbüchern wiederaufffinden lassen. Und in den von nun an folgenden. Letztlich geht es um Intensität: der Poetik wie des subjektiven Lebens. Nicht mehr diese Kleinbürgerangst vor der sogenannten Peinlichkeit haben, sondern das Innerste f o r m e n …auch wenn die Jungs von der ironischen Fraktion Gewehr bei Fuß stehen und es sofort anlegen, wenn ihre Willkür Gelegenheit findet oder, schlimmer, man ihnen abzudrücken aufträgt.
Eine Ästhetik, die zugleich Vermächtnis sein könnte, mit all dem Größenwahn und all dem Selbstzweifel, die sie tragen, dem Pathos, dem Witz, den Irrtümern, den Spielen und Täuschungen, Projektionen, Leidenschaften, Perversionen, den „falsch“ und „wahr“ erinnerten Erinnerungen, die die Grundlage jeder künstlerischen Anstrengung sind. Verfallensein. Keine Lust mehr auf Show, sondern Lust auf Darstellung Formung. Exakte Fantasie hieß das bei Adorno, der mir immer und überall Wegmarke ist, aber zugleich der Vater, den es zu töten gilt. Und das zu gleichen Teilen.

Ich widme dieses Weblog meinem Sohn, der es eines Tages lesen wird: in dieser oder einer anderen, dann zeitgemäßen Form, von der ich momentan noch nichts weiß und vielleicht niemals etwas wissen werde: für Adrian.

[Missa Solemnis; DAT-Schwarzmitschnitt aus der Cathedral St. John the Devine, 31. Mai 1999. Im Monat davor wurde mein Sohn, in New York City, gezeugt.]

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