Die Reise zum Mittelpunkt des Internets. Zilts’ Labyrinth.

Mir kommt eben aufgrund des Kommentars Tilkowskis und meiner Antwort darauf ein Gedanke: Ist nicht Zilts’ Reise eigentliche eine, die das Netz vorweg- und damals bereits körperlich nahm? Das konnte ich, als ich die ersten Fassungen der Geschichte schrieb (zuerst um 1975, dann im August 1983), allerdings nicht wissen, ich war damals noch computer- und sowieso netzlos. Dennoch kommt mir der Text nun wie eine neoromantische Vorwegnahme vor.
Was aber folgt poetologisch daraus? Soll ich die laufende Umarbeitung auf Romanform radikalisieren und „Eine Reise zum Mittelpunkt des Internets“ nennen? Vielleicht der Form nach Alexander von Humboldt oder besser noch Hubert Fichte geschuldet? Eine poetische Ethnologie verschiedenster Netz-Kulturen schreiben, zu denen auch die pornographischen und gewaltverherrlichenden gehören müßten? Denn gerade für sie ist das Internet erhellend, weil sie Fantasien und Obsessionen von Menschen als offenkundige und ständig wirkende präsentieren. Weil aber ein solcher Reisebericht unvoreingenommen geschildert werden müßte, und zwar überall mit der gleichen treibenden Neugier, käme der Roman ziemlich umgehend mit dem Gesetz in Konflikt, das ja nicht erlaubt, was dennoch, und zwar in den seltensten Fällen durch Paßwörter geschützt, allüberall zugänglich ist (Zilts muß nur in die hinführenden Gänge gelangen) und vor allem die Umsetzung früher geheimer Lüste durch ständig neue Koloniebildung ganz ähnlich ausgerichteter Ethnien befördert und realisiert. Man müßte Chats als tribal organisierte communities begreifen, ihre Regeln aufzeichnen, ihren Veränderungen nachspüren, desgleichen viele Weblogs, zudem die verschlungenen Wege verfolgen, auf denen sich gewerbliche Websites durch die Dschungel ziehen, Fährtensucher werden und versuchen, all das ohne zu denunzieren in poetische Formen zu gießen.
Zilts betritt über einen der Gänge die Räume der Houyhnhnms, erreicht später Glubbdubdrib und meinethalben Käsänien, ist wie Rimbaud eine Zeit lang mit allerdings modernem Sklavenhandel (Asylantenhandel etwa) beschäftigt, wird in einen Völkermord verwickelt, handelt später mit Taucherflossen. Und all das ohne auch nur ironische Absicht. Nämlich um dem, was geschieht, nahezukommen, was von einer moralischen Voreingenommenheit gerade verhindert würde, die, was sie sieht, immer als Objekt sieht und als von sich selbst getrennt.
Ein solches Unternehmen wäre aber ein R o m a n, nicht länger Erzählung, und es verlöre den neoromantischen Charme, den sie einst herstellen wollte. Darüberhinaus gibt es diese Erkenntnisse und Erfahrungen und Sachverhalte, die niemand offenlegen s o l l. Man muß sich das sehr bewußt machen, um zu wissen, welche Sprengkraft das Internet besitzt und ein solcher Roman gleichfalls besäße. Denn es gibt kein Universum sonst, das so genau und so umfassend über den Menschen berichtet wie dieses vermaledeite Netz, das die anthropologische Kehre zugleich zeigt wie vorantreibt. Es macht Unschuld völlig unmöglich. Man muß nur eintreten.
Der zu schreibende Roman wäre einer der umfassend verlorenen Unschuld. Wäre Argo. – Anderswelt.

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