Joachim Zilts’ Verirrungen, 8. Fortsetzung.

,,Wanderer? Ich versteh Sie wirklich nicht.“
,,Ach, das sind die… ja nun… also Wanderer, die irren hier herum. Denen ist der feste Wille abhanden gekommen, die sind gottlos sozusagen… nein nein, ich bin nicht gläubig. Aber ich hab auch ein Zuhaus.“
„Auch ich…“
„… schon schon!“ fiel er mir mit angehobener Stimme ins Wort. „Aber Sie werden es nicht wiederfinden. Nicht sicher sein können, es wiedergefunden zu haben… selbst wenn etwas sehr danach ausschaut. Sehen Sie“, er zeigte mit weiter Geste zur Decke, zu den Nebengängen, zu den Öffnungen im Boden. „Jeder Weg führt in eine Welt. Und manche wird der Ihren fast gleichen. Es wird nur kleine… Verschiebungen geben, die Küchenuhr hängt woanders… sowas. Wissen Sie noch, ob in Ihrer Wohnung die Lichtschalter rechts oder links der Türen angebracht sind? Es gibt doch Lichtschalter bei Ihnen unterdessen?“
„Ja sicher gibt es die.“
„Das dachte ich mir. Die Elektrizität muß alles übernommen haben bis 1990, daran hatte ich nie einen Zweifel.“
„Rechts.“
„Rechts?“
„Ja, sie sind rechts angebracht.“
„Sie sind sich sicher?“
Ich zögerte. Noch während ich das Wort so bestimmt ausgesprochen hatte, waren mir Zweifel gekommen… – wobei…: „Zweifel“? Nein. Es war bloß ein ungefähres, aber kein gutes Gefühl, das sich hinter dem Wort jetzt verbirgt.
„Ich seh Ihnen an, was Sie fühlen. Das ist normal, das ginge mir ganz genau so. Deshalb habe ich niemals eine andere Welt betreten, deshalb hüte ich mich bis heute davor, deshalb trete ich selbst hier noch, wo ich jeden Winkel kenne, ausgesprochen vorsichtig auf. Um nicht doch noch versehentlich hinunterzustürzen. Man muß sich bescheiden. Und Sie sehen ja, welches Glück ich habe… nach so langem Aufenthalt noch: Da spaziert mir jemand in meine Arbeitsstube und kann, prall von authentischer Erfahrung, erzählen! Das mir so ein unwahrscheinlicher Glücksfall geschieht!“ Er strahlte, merkte, wie unpassend das war, entschuldigte sich. „Sehen Sie einmal meine Situation“, sagte er.
„Ich habe keine Chance?“
„Finden Sie es verwunderlich, daß diese Leute an ihren Erlebnissen irre, daß sie halt Wanderer werden? Was bleibt ihnen denn? Sie finden nicht zurück, können aber die Heimat nicht vergessen und sterben hier nicht einmal.“ Er hielt unvermittelt inne, räusperte sich, nahm wieder ein Schlückchen und sprach schluckend über den Becherrand hinweg: „Wissen Sie, Herr Zilts, was vernünftig wäre?“
Ich schwieg.
„Das Beste wäre, sie nähmen jetzt irgend einen Schacht hinaus und arrangierten sich mit der dahinterliegenden Welt. Völlig egal, wie sie aussieht. Akzeptieren Sie sie und spielen Sie Ihre dortige Rolle.“
„Auf gar keinen Fall!“
„Hören Sie, ich bin mir fast sicher, daß es nicht wenige gibt, die diesen Ausweg begriffen haben, diesen einzigen Ausweg, Herr Zilts. Vielleicht heilt sogar d a s da dann wieder.“
Ich wußte, er meinte meine Augen.
„Weshalb wohl fühlen sich viele in ihrer Welt so fremd?“ fragte er leise. „Bis 1914 jedenfalls. Ich weiß selbstverständlich nicht, ob sich das bis 1990 geändert haben wird. Geändert hat.“
Ich schwieg.
„Aber ich will nicht in Sie dringen. Sie müssen das selbst entscheiden. Nur vergessen Sie nicht: Dort können Sie sterben. Hier nicht.“
„Und diese Prozessionen? Das sind alles Wanderer?“
„Aber nein! Ich nenne sie Halbtote, doch trifft das den Sachverhalt nicht. Oder eben nur halb. Hab ich davon nicht schon gesprochen? Die lagen alle im Sterben, hatten Unfälle, fielen von Häusern, Leitern… sowas. Aber bevor sie aufschlugen oder bevor sie einschliefen in ihren Betten, sahen sie die Eingänge, nahmen mit letzter Kraft Anlauf… Die nun wollen nicht mehr zurück, denn sie wissen genau, da draußen erwartet sie ihr Sterben… eines, das durchaus schmerzhaft, lange, voller Qualen sein kann. Deshalb haben sie sich für ihr jetziges stumpfes Dasein entschieden. Sie wollen einfach nur herumgehen. Nie hab ich einen schlafen gesehen. Vor dem Schlaf haben sie offenbar eine ganz besondere Angst. Vielleicht erinnert er sie an das, wovor sie geflohen sind. Immerhin sind sie, anders als Wanderer, harmlos. Während die nicht vergessen können, vergessen die Halbtoten so schnell, daß ihre Persönlichkeit verweht. Sie haben, glaube ich, nicht einmal mehr Schmerzempfinden. In gewissem Sinn sind es Maschinen ohne Bewußtsein und Hunger.“
„Das ist keine gute Wahl“, sagte ich.
„Man hat die Wahl nicht“, sagte er.
„Man hat sie!“
„Na dann viel Glück.“
„Immerhin kann man doch auch sein wie Sie.“
Er kicherte. „Vielleicht“, sagte er. „Darüber hab ich auch schon nachgedacht. Es wäre höchst unwahrscheinlich, daß ich einzigartig bin. Das stimmt. Dennoch bin ich eine… Monade. Und andere, die mir ähnelten, wären das auch. Denn keiner verließe jemals seinen eigenen Raum, außer um in seine angestammte Welt zurückzukehren, die Vorräte aufzufrischen, mal wieder ein paar kurze Gespräche mit Menschen zu führen, sei es auch nur, um von jemandem ein frisches ‚Guten Morgen, Herr Moosbach’ zu hören. Ein einziger Schritt in einen fremden Gang hingegen würde uns ebenfalls zu Wanderern machen. Sofern das richtig ist, überhaupt von einem ‚uns’ zu sprechen. Sofern ich hier nicht d o c h allein bin.“
„Das ist nun aber auch keine lebbare Alternative!“
„Finden Sie? Ich rieche so gern!“ Wieder kicherte er. „Erinnern Sie sich noch an den Strohduft junger Achselhöhlen? An das stumme Bauschen von Röcken, unter die eine Bö fährt? Ah, gehen Sie mir! So lange, Herr Zilts, ein Mensch bewundern, solange er schwärmen kann, so lange ist er nicht boshaft. Und man w i r d boshaft, wenn man immer nur sucht und sucht und niemals findet, niemals bleiben kann, Herr Zilts. Ich bleibe, Herr Zilts. Und gehe nur in eine einzige aller möglichen Welten zurück und komme nur aus ihr wieder her. Selbstbegrenzung ist die Grundlage von Glück.“
„Die anderen Welten locken Sie nicht? Das nehme ich Ihnen nicht ab… Sie sind Forscher, behaupten Sie.“
„Oh und wie! Was gäbe ich drum, sie sehen zu können! Aber eben nicht alles, nicht, daß ich nicht wieder ein Lächeln, irgendeines, ein frisches, fremdes, in meinen Augen spürte…“ Er verstummte, nahm abermals einen Schluck. „Schauen Sie, Ihr Kaffee wird ganz kalt.“
Auch ich trank, aber es schmeckte mir nicht, ich wollte weiter, wollte nach Hause.
„Sehen Sie“, sagte er endlich, „es g a b hier ein paar Monate lang so einen Plagegeist. Er hat alles Erdenkliche getan, um mich aus meinem kleinen Saal hinauszulocken, nutzte meine Abwesenheit, um das Schränkchen umzuwerfen, klaute Bücher, schmierte in meinen Aufzeichnungen rum, alles sinnloses Zeug, das nichts wollte, als die Notate unleserlich zu machen, einmal hatte er sogar einen Kaffeerest über meine Bücher gegossen, das war eine schlimme Schweinerei. Ich hatte vor diesem Kobold richtige Angst. Was muß in so einem Geschöpf vorgehen! Und jetzt sehen Sie mich an: Würde mir so etwas stehen? – Der Bursche hat sich übrigens seit über einem halben Jahr nicht mehr blicken lassen. Ich hatte, wie für Ratten, Fallen gegen ihn aufgestellt. Wahrscheinlich ist er irgendwo in einen Schacht gestürzt und durch einen anderen wieder rein und irrt nun in einem unendlich weit entfernten Quadranten dieses Universums herum, um jemanden anderes zu finden, den er trietzen kann.“

[Revidiert: 17. 8. 2004]

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