DTs. (30. Oktober 2004).

6 Uhr:

Ich schlief, sturzartig, mit einem Bild meines träumenden Jungen ein. Denn als ich mich neben ihn legte, draußen hatte es zu regnen begonnen, und die Autopneus rauschten übern Asphalt der Allee, und als ich mich über den Kleinen beugte, um ihm einen leichten Kuß auf die Wange zu geben, sagte er mit geschlossenen Augen: „Dieses ganze Schiff, Papa, dieses ganze Schiff!“ Ich fragte nach, zweimal, aber er rollte offenbar ganz tief in hohen Wogen eines Traummeers. „Mein Sohn träumt“, ich weiß noch, sagte ich, zweimal, dann war ich selber hinein.
Um 5.50 Uhr auf, anstandslos, um halb vier drückte sich der Kleine an mich, „Papa, kuscheln“, schlief aber, mir den Rücken gegen Brust und Bauch geschmiegt und seine kleinen Fußsohlen erneut an meinen Oberschenkeln, sofort wieder ein, ich dann auch. Seltsam, wie oft man beisammen wach wird, als gingen innere Uhren von Eltern und Kindern simultan zueinander. (Ich schreibe hier davon auch deshalb, damit ich diese Jahre mit ihm niemals vergesse, denn es wird der Tag kommen, an dem er mich aus diesem Hochbett verbannen wird und ich daraus auch verbannt werden m u ß.)
Dann hatte ich selbst einen schweren Traum, nicht ungut, aber fiebrig; aber ich weiß nur, daß, nicht was. Der Wecker zog mich heraus.

Also der Tag:


6.30 Uhr bis ca. 8 Uhr (also bis auch der Junge wach sein wird):

Internetverbot
ARGO.
Internetverbot

ca. 8 Uhr bis 11 Uhr:

DIE DSCHUNGEL.
ARGO. (Die Druckfassung lesen. Letzte Korrektur.)
DIE UNHEIL. (dito).

ab 11 Uhr:

Kinderzeit.

ca. 14.30 Uhr bis 15.30 Uhr (Mittagsschlaf des Jungen):

DIE DSCHUNGEL.
KETTE.

ab 15.30 Uhr:

Kinderzeit. (Abends um sechs wird des Kleinen Freund Johannes gebracht, der über Nacht bleibt.)

ab 21/22 Uhr:

Anschreiben wegen des Insel-Stipendiums, Anlagen usw. Alles per email raus.
DIE DSCHUNGEL.





7.30 Uhr:
[Internet Radio Klara, Saint-Saens, Violinkonzert.]

Und WUMM, ich fahre zusammen, saß grad noch, auf Goltzens geheimdienstliche Spekulationen konzentriert, im Silberstein… da steht mein nackter Junge neben mir und freut sich, mich einmal mehr erschreckt zu haben (wenn ich mit Kopfhörern höre, bekomm ich ja sein Tappsen nicht mit). Und wie der Lümmel grinst!
„He, du bist ja schon wach…“
„Müsli…“
„Hast du geträumt?“
„Ich hab von meinen Pinguinen geträumt.“
„Du hast Pinguine? Wo? Bei der Mama?“
„Nur im Traum. Und der eine hat sich fast verlaufen.“ Jetzt in die Traumlogik gewechselt: „Weil er seinen Stift verloren hat.“
„Welchen Stift?“
„Na den, mit dem er zeichnen wollte. Aber das war eben k e i n e so gute Idee.“
„Möchtest du wieder Papas dicken Pullover?“
Der Junge sitzt schon, an mich gekuschelt, auf meinem Schoß. Ich heb ihn herunter, zieh ihm den dicken Pullover an.
„Wart, ich hol dir eine Strumpfhose.“
Ich geh ins Kinderzimmer, hol eine aus dem Schubfach, komme zurück. Der Kleine sitzt schon in dem Korbstuhl. „Und dann”, sagt er, “hat er den Stift eben v e r l o r e n auf seinem Weg. Und deshalb hat er sich verlaufen.“
Wundervoll, wie bereits der Vierjährige trotz der eingeschobene Realitätsebene seine Erzählbögen zu schließen weiß. (Jetzt, da ich dies tippe, grinst er mich an über seine Müslischüssel hinweg.)










[Große Aufregung im Radio wegen Bin Ladens neuer Ansprache, die ich vorhin bereits aus dem Netz kopiert und in die Apparat-Dateien zu ARGO kopiert habe. Bemerkenswert der Satz: “Ihr solltet die gleichen bitteren Früchte schmecken wie wir”. Den wird im Wortlaut Odysseus sagen.]




22.33 Uhr:
[Mozart, Klavierkonzert d-moll. Internetradio.]

Jetzt schlafen beide Jungs – mein vielleicht wegen der elterlichen Katastrophe so robuster Adrian und sein zarter, empfindlicher Freund Johannes, der gewiß um ein Drittel weniger wiegt als mein Racker und über Nacht bei uns zu Gast ist. Er hat seine seine liebe Not, sich der dominanten Anwandlungen des andren zu erwehren. Was ihm vermittels Verweigerung letztlich ziemlich geschickt gelingt. Dennoch ist er deutlich über den „männlichen“ Umgang in diesem „Väterhaus“ irritiert; man darf hier einfach mehr. Zugleich hat man die Konsequenzen zu tragen und kann nicht mit Getüdel rechnen. Er faßt in eine Lampe, hat ein Brandbläschen, und ich nehme das nicht ernst. „Du weißt doch, daß man so etwas nicht tut.“ Damit ist für mich die Sache erledigt, aber er hält leidend-insistierend dauernd den Finger hoch. Bis ich eine Salbe hole. Irgend eine, selbstverständlich ein Placebo. „So, jetzt ist es weg.“ „Tut aber immer noch weh.“ Der Versuch zu klagen mißlingt bei mir. „Nimm den Finger runter und leg ihn mit der Hand auf die Decke.“ Prompt funktioniert’s. Adrian nahm die Sache sowieso nicht ernst. Und als Johannes vorm Abendbrot seine halbe Stunde Zeichentrickfilm einforderte und ich deutlich desinteressiert bemerkte, es gebe bei uns kein Fernsehgerät, war er geradezu hilflos. Nun wieder zieht m e i n Junge nach und will zur Nacht Helmut Kraussers Pompeji-Hunde vorgelesen bekommen. Jetzt hat e r das Nachsehen: „Johannes kennt die ersten 50 Seiten nicht, das wäre unfair.“ Man einigt sich auf ein Huhn, das keine Lust mehr hat, seine Eier in dem gewohnten Stall zu legen, und danach, nach drei Endlos-Gedichten, kann auch Johannes, der skeptische, nicht mehr anders und muß lachen. „So, jetzt aber Ruhe im Karton.“ Den Satz übernahm ich, nach einem Bericht meines Kleinen, von seiner Mama. Ich klettre vom Hochbett, begeb mich an den Abwasch. Als ich danach wieder nach den beiden schaue, schlafen sie innig und tief.







[ZWISCHENTRAG:

Nachmittags mit dem Jungen in “Genesis” gewesen, einem sehr schönen Kinofilm, der von Entstehung des Universums, der Erde und des Lebens erzählt und bisweilen an meine von Kiefer inspirierten “Ungeborenen”, eigentlich: Nicht-Geborenen erinnert, ich kann mir da nicht einig werden. Wunderschöne, innige Bilder, das Ganze erzählt von einem Schwarzafrikaner, dem die deutsche Synchronisation einen sehr ungewöhnlichen Christian Brückner schenkt. Er klingt überhaupt nicht nach de Niro. Die Aufmerksamkeit meines Jungen ist über eine Stunde gegenwärtig, erst dann beginnt er, unruhig zu werden. Liebesspiel und Befruchtung hat er gut verkraftet, aber die Frage, wieso so etwas nicht halte, läßt er nicht an sich hinein… also: wieso alles (nämlich auch sein Elternhaus) zerfalle… wieso es “das Leben” nicht schaffe, sich gegen das entropische Gesetz zu stellen. Es ist völlig erstaunlich, mit welchem Instinkt er Sachverhalten aus dem Weg zu gehen versucht, die ihn in seinem Selbstbild und seiner Liebe zu beiden Eltern gefährden. Und ich denk immer wieder: Er ist knappe 4 3/4 Jahre alt. Welch eine Kraft ist das da in ihm!]

Arbeitstechnisch war dieser Tag allerdings eher katastrophal. Eine halbe Seite ARGO, ein wenig Korrespondenz um „Die Unheil“. Immerhin hab ich mich entschieden, jetzt wirklich diese kleine Geschichte für das Stipendium einzureichen. Das Telefonat mit Ricarda Junge gab den Ausschlag, die meine Geschichte sehr mochte, sie zugleich „unheimlich“ fand und ziemlich sofort Bin Laden assoziierte – was mir zeigte, wie sehr sie begriff. Eine andere, ältere, Freundin riet wiederum ab, so daß ich nur noch meinem Instinkt vertrauen kann. Er sagt, übrigens, sowohl für „Nullgrund“ wie für „Die Unheil“ nein. Egal: Das Ding wird morgen früh geschickt.

Arbeitsfortschritt:
ARGO, TS 16 (1/2 Seite). Zusätzlich Notate. Immerhin paar Sätze und im System geblieben.
KETTE: TS 10 (also nix; nur gelesen.)