DTs. (27. Januar 2005). Stuttgart.

8.33 Uhr:
[Bach, Goldberg-Variationen; Jarrett am Cembalo.]

Ziemlich vom Schnupfen verquollen aufgewacht – und vom Alkohol wohl. Die Weine, die der griechische Betreiber des Literaturhaus-Restaurants ausgegeben hat, waren schwer und lagen wie Samt in den Adern. Trotz der starken Erkältung geduscht, dann von unten einen Kaffee heraufgeholt, um das DTs zu skizzieren, das von gestern abzuschließen und noch zweidrei kleine Notate aus dem Skizzenbuch zu übertragen.



Tagesplanung.

10.30 Uhr:

LEERE MITTE: LILITH. Probe 4. (T3).

15 Uhr:

Treffen mit Oliver Gassner wegen des Weblog-Projektes.

18.30 Uhr:

LEERE MITTE: LILITH. Probe 5 und Einrichten. (Saal).

20.30 Uhr:

LEERE MITTE: LILITH. Abbau.






Tageszusammenfassung:

Zwischen den Proben holte mich Gassner mit dem Wagen ab, und gemeinsam spazierten wir durch Stuttgart. Eigentlich hätte ich lieber geschlafen. Doch ich mußte für ARGO dringend Fotos des neuen Museums anfertigen, in dem seit THETIS der Sitz des Europäischen Zentralcomputers geplant ist. Ich habe zwei Optionen jetzt, der Glaskasten gefällt mir am besten, der Turmaufbau hat allerdings etwas Fantastischeres: . Da werd ich mich dann entscheiden müssen, wenn ich wieder an den Roman gegangen sein werde. Momentan ist er weit weg, sowieso ist mein Kopf von der Erkältung ganz dumpf und wie doppelt so groß: unsubstantiell aufgeblasen.
Gassner zeigt mir das Stuttgarter Schriftstellerhaus, worin man ein Wohnstipendium beantragen kann, um einige Zeit hier zu arbeiten. Es ist ein wirkliches Häusl e, die Einrichtung biedermeierlich-eng, ich hab sofort Atembeklemmung, das ginge wirklich nicht, da wär ich von morgens bis abends depressiv. Weshalb werden Dichtern immer solche Spitzweg-Interieurs zugemutet? Oder muten die sie sich selber zu, ist das ihr Gegenwarts-Verständnis? Es geht nicht darum, daß etwas einfach oder meinethalben auch ärmlich ist; damit kann man gut klarkommen. Aber daß sich Einrichtungen dieser Art so sehr an eine möglicherweise idealisierte Vergangenheit anlehnen, bereitet mir dieses Gefühl unmittelbarer architektonischer Verlogenheit. Ganz so wie die neuen historischen Altbauten auf Frankfurtmains Römer. Schauderhaft.

In dem Café, worin Gassner und ich über ein Weblog-Projekt herumüberlegen, sitzt eine untersetzte, sehr gepflegte Dame in Grau, um die fünfzig. Neben ihr auf der Polsterbank sitzt ihr Pudel. Er trägt – ja, trägt – einen roten, ausgesprochen edlen Umhang. Die Dame reicht ihm ein mit Wasser gefülltes Silberschälchen, läßt ihn sozusagen mit am Tisch trinken. Schließlich stellt sie dieses Schälchen neben ihre Teetasse auf den Tisch wie ein eigenes Gedeck. Und als er sich neben ihr auf der Bank zusammenrollt, legt sie beruhigend – wie man ein Kind in den Schlaf streichelt – die rechte Hand auf seinen Leib, indes ihre Linke eine schmale Illustrierte hält, in der die Dame nun liest. Es ist dies insgesamt ein sehr inniges Bild, das überhaupt nichts Lächerliches hat.

Und dann komm ich ins Hotel und finde an der Rezeption eine Nachricht für mich hinterlegt:


Lieber Herr Herbst,
dieses Fax ist gleichzeitig ein
Gutschein
für ein Essen für zwei Personen
oder
zwei Essen für eine Person
IM
Sardegna – Ristorante Pizzeria

Es folgen eine Wegbeschreibung, eine Beschreibung des Lokales, die Öffnungszeiten. Und das Fax wird abgeschlossen mit
Im Sardegna ist alles geregelt. Sie müssen nur Ihren Namen nenne.

Keine Unterschrift und ein zweites Mal kein Absender.
Ist man erst einmal über den Zustand der Beschämung hinaus, bekommen solche Nachrichten etwas märchenhaft Irreales… als wachte irgendwo eine Fee. Dabei hungere ich ja nicht einmal, sowieso ist der Appetit bei einer solchen Dauer-Erkältung wie der meinen eher limitiert. Un man kann ganz gut von Obst leben. Aber nun muß ich L, wenn sie nachher zu den Proben kommt und wir wahrscheinlich abends essen gehen, nicht darum bitten, die Rechnung zu übernehmen. Das ist schon mal was. Zugleich ist die Erfahrung, wie man sich bei Gesellschaftsspielen disqualifiziert, wenn einem das Geld ausgeht, von großem Erkenntniswert. Nicht daß ich das nicht theoretisch immer schon gewußt hätte, aber es zu fühlen, hat einen völlig anderen Charakter. Die Erfahrung bekommt nun sinnlichen Wert und erschließt Zusammenhänge nahezu unmittelbar. Vor allem hat sie genau das, was ich auch anderswo immer suche: Intensität. So unangenehm das auch immer sein mag, einen Grund zur Klage ist es allein aus poetologischen Gründen nicht.

Abends noch eine email von Höllerer/Literaturhaus Stuttgart: Er und Johannes Auer hätten sich jetzt Die Dschungel angesehen und wollten nun unbedingt, daß ich im Spätherbst an dem Cyber-Symposion teilnehme. Das sind so Nachrichten, die einen plötzlich kurz aufatmen lassen, auch wenn mich Hartz IV nächste Woche vielleicht zum Schneeschippen verdonnern wird. Was mir im Moment, da ich den Gedanken ausspiele, ein Lächeln aufs Gesicht legt: Ich muß ja sowieso dringend wieder Sport machen. Frische Luft jedenfalls kann mir kaum schaden. Mein Körper ist in keinem guten Zustand, und wenn einer so gerne lebt wie ich, hat er die V e r p f l i c h t u n g, ihn zu pflegen. Dann hörte ich auch endlich mit dieser Raucherei auf. Das Problem ist insofern ein rein zeitliches: Wie krieg ich das mit der Arbeit an ARGO zusammen? Wie mit dem Marianne-Fritz-Feature? Wie mit dem Hörstück über S. Michele? Sowieso leidet zur Zeit meine Selbstdisziplin: Das Notizbuch ist voller Entwürfe, die auszuführen ich unentwegt vor mir herschiebe.