DTs. (28. Januar 2005).

8.10 Uhr:
[Faure, Requiem.]

Völlig verquollen aufgewacht, mit dicken roten Augen; ich bekomm die Erkältung g a r nicht mehr weg offenbar. Die Nase läuft und läuft, solche Niesanfälle jagen mich durchs Foyer, daß die Leute anfangen zu lachen. Ist ja auch komisch. Es scheint auch gar nicht ansteckend, sondern rein auf mich begrenzt zu sein. Schade um den guten Wein, zu dem mich gestern Abend RHPP eingeladen hat.
Ich hatte nach der guten ersten Hauptprobe sofort eine Idee, eine alte, einen Traum, nun aber schon den Dirigenten und den Sänger zusammen; ich schrieb es, glaub ich, schon: “Penthesilea” von Othmar Schoeck. Bekämen wir neben Isherwood (Achill) auch noch Gun-Brit Barkmin als Penthesilea, wäre das ein absoluter Traum. Ich muß irgendwie mit den Leuten von der Komischen Oper sprechen, vielleicht auch mit der Deutschen; vielleicht macht mir Busche dort einen Kontakt zur Intendanz. Isherwood, der sofort Lust auf das Projekt hatte, will es seinerseits versuchen. So dreht sich, indirekt, alles denn d o c h um ARGO.

Außerdem lockeres Gespräch über das nächste zu schreibende Opern-Segment. Ich hätte gerne eine Kinderoper, also ein Stück für Knabensopran und großes Ensemble, RHPP möchte lieber den Beziehungskonflikt zwischen Frau und Mann gestalten. Da hat Isherwood eine Idee, die sofort, rein stimmlich, schlagend ist: “Schreibt doch was für Vater und Sohn, Knabensopran und Baß-Bariton”, wobei er, weil er das gerne sänge, grinst. “Das hätt ich mich nicht getraut”, sag ich. “Das wäre auch mir zu autobiografisch gewesen”, sagt RHPP, der persönlich in einer ganz ähnlichen Situation lebt wie ich. Nun kam die Idee aber von einem Dritten und ist dadurch gewissermaßen auch künstlerisch legitimiert. Nun werden wir das tun.

Heute nur zwei Hauptproben, jeweils Durchlauf; das wird Isherwoods Stimme schonen. Das Problem bleibt nach wie vor der Schlagzeuger. Er hat tiefe, wahrscheinlich irrationale Vorbehalte gegen das Stück und vor allem auch mich. Das wurde gestern bei einer der Proben deutlich. Ich will ihm zeigen, wie er seine Dialogsätze sprechen, wie die Stimme aus dem Bauch hinauf in den Brustkorb holen soll und fasse dazu seinen Bauch und Rücken an. Bei Sprech- und Gesangstraining ist das durchaus üblich. Brüsk reißt er meine Hand weg. Ich versuche es ein zweites Mal, und wieder reißt er die Hand weg. Offenbar bin ich ihm geradezu körperlich unangenehm. Deshalb hält er sich insgesamt bei dem Stück zurück, ja ist gar nicht präsent, auch nicht musikalisch. Er will sozusagen aus dem Stück verschwinden.
Lange reden RHPP, Isherwood und ich darüber. “Was hab ich ihm denn getan? Ich war doch bis auf heute früh völlig ruhig und zurückgenommen.” Isherwood: “Du hast zu viel Testesteron, er erlebt das als Bedrohung.” Und dann fällt ihm eine Person ein, die mir körperlich ähnlich gewesen sein muß und die den Schlagzeuger lange Zeit über gequält hat. “Ah! Jetzt weiß ich, was es ist!” ruft Isherwood aus. “Er identifiziert dich unbewußt mit dem…und das war wirklich ein Schwein.” Nun will er vorsichtig auf Laszlo einzuwirken und ihm die Dynamik noch klarzumachen versuchen; ich selber soll n i c h t mit ihm reden, “das wäre kontraproduktiv”.
Bekämen wir jedenfalls d a s noch hin, würde das Stück n o c h eine Schicht dichter und intensiver werden. Dann hätten wir es wirklich geschafft.



Tagesplanung.

11 bis 13 Uhr:

LEERE MITTE: LILITH.
Zweite Hauptprobe.

Mittags:

LEERE MITTE: LILITH.
Besprechungsprobe.

17 bis 19 Uhr:

LEERE MITTE: LILITH.
Dritte Hauptprobe.

Abends:

Offen.
Essen mit L., die zu den Proben herkommen möchte.








Tageszusammenfassung:

In den grippedicken Kopf hinein Liebeskonfusionen: I. aus Hannover schreibt mir eine fast-Abschiedsmail; sie fühle, keinen Platz in meinem Leben zu haben usw. Ich reagiere für mich erstaunlich nüchtern, weil ich momentan für so eine Auseinandersetzung wirklich keinen inneren Raum habe; abends telefonieren wir lange. Entfernungen zwischen Städten sind für Liebschaften und Lieben ein heftiges Hindernis, zumal dann, wenn einen Kinder binden: jede kleine zusätzliche Behinderung wie Krankheit, unvorhergesehene Termine usw. belasten dann enorm, einfach weil man sich nicht sehen kann. Da wird die räumliche fast unmittelbar zur seelischen Entfernung. Und, selbstverständlich, daß *** immer noch so in mir ist; das spürt ja jede neue Frau. I. formuliert das nachts dann auch am Telefon, als ich sie endlich erreiche und mit ihr über ihre Mail spreche.
Abends versetzt mich dann noch L., typischerweise ohne abzusagen und ohne überhaupt erreichbar zu sein oder auf die fragende SMS zu reagieren. Auch das nehme ich sehr nüchtern; es ist ja nicht das erste Mal. Wobei es mir nicht einmal unlieb ist, wie ich RHPP, der fragt, dann sage; die Erkältung ist noch viel zu heftig, als daß ich erotisch so getrieben sein könnte, wie ich das sonst von mir kenne. Krankheit bedeutet immer eine Distanz zum eigenen Körper und also Distanz zur inneren Chemie. Läßt sich diese Aussage umkehren? Spannende Idee. Durchdenken und, zugespitzt als Paralipomenon, formulieren.

Zwischen beiden Hauptproben mit hängender Nase und brummendem Schädel und leichtem Fieber ins Hotelbett. Eigentlich will ich schlafen, lasse aber den Fernseher laufen und zappe mich von einer US-amerikanischen Serie (“emergency room”) zur nächsten. Die Stories krieg ich wie durch einen Schleier mit, nicke immer wieder ein, wache wieder auf, hab ganze Strecken verpaßt, ergänze sie im Kopf; zweidreimal bin ich derart gerührt, daß mir die Tränen kommen.
Ulrich Faureschickt eine SMS’t wegen Hoffmann & Campe, wo er für meine Arbeit, vor allem ARGO, eine Lanze nach der anderen bricht. Jetzt will man sich auch dortseits bei mir melden und die ARGO-Entwürfe sehen. Aber auch hier: W e n n wir uns auf diesen Autor einlassen, dann wollen wir das Gesamtwerk. Das wird alles noch ungemein kompliziert werden. “Und bitte schreib denen eine Zusammenfassung von THETIS und B.A., damit sie in ARGO überhaupt hineinfinden können.” Was sehr problematisch ist, da ich die ANDERSWELT-Bücher ja eben so angelegt habe, daß sie sich gegen funktionale abtracts sperren; es g i b t zwar plots, aber sie entwickeln sich derart auseinander, daß sie letztlich nicht referierbar sind. Das war ja das Ziel der ganzen Arbeit: nicht verfilmbar, das heißt, nicht auf eine Handlung projizierbar zu sein. Genau das ist die Stärke und zugleich die Achillesferse meiner Arbeit; hier, nirgendwo sonst, stemmt sie sich gegen den mainstream. Ich erinnere mich an die Aussage eines Zuschauers von 1982, als ich in Frankfurtmain mein RÜHM-Stück auf die Bühne gebracht hatte: “Das ist gaaaanz toll, aber wie soll ich das weiterempfehlen? Ich kann beim besten Willen nicht sagen, was ich da gesehen habe!”

Gut, und abends versetzt mich dann L.- ohne Absage und ohne auch erreichbar zu sein oder auf eine vorsichtig anfragende SMS zu reagieren. Sehr typisch für sie. Ich nehme es gelassen und die wundersame Essens-Einladung, die mich gestern per FAX erreichte, nunmehr mit RHPP wahr. Der Wirt des sardischen Restaurants: “Wollen Sie w i s s e n, wer es ist, der Sie einlud?” “Nein”, erwidere ich, “er hat die Einladung nicht unterzeichnet, also möchte er für mich anonym bleiben. Es wäre indiskret, unterliefe ich das.” Aber ich schreib einen Zettel des Dankes, und der Wirt, sofort, faxt ihn durch. Ihm scheint dieser Gönner ausgesprochen bekannt zu sein, so daß ich s c h o n meine Ideen habe, mit RHPP ein bißchen herumspekuliere, aber letztlich diesen kulinarischen Sais-Schleier nicht lüften will. Wer Geheimnisse nicht achten kann, profaniert sich den Lebensgeschmack. Und Profanierung ist immer eine Entweihung.

Beide, RHPP und ich, sind wir jetzt glücklich mit unserem kleinen Musiktheaterstück. Andere sind es übrigens nicht so sehr. Michael Beil sagt, durchaus im Ton eines Vorwurfs: “Ihr macht ja fast O p e r.” “Was heißt denn hier fast?” fragte RHPP beim Essen. Denn genau das hatten wir ja vor: eine O p e r zu schreiben. Ich mehr noch als er. Es ist eine Frage des Pathos, der Leidenschaft, der Intensität. Die meisten anderen Stücke des Großstadtprojekts sind oberflächenorientiert, erscheinungsorientiert; wir fallen tatsächlich aus den im übrigen meist ziemlich dilettantischen Konzeptionen heraus; Beils Stück nach Céline (mit einem ziemlich guten Hans Zischler) ist übrigens eines der besten, bildlich eine Art Magritte-Tableau, die Musik eine Collage, die Grundhaltung ist Repetition. Perfekt gemacht, aber mir bleibt da ein Unbehagen, das aufgrund des ironischen Zugriffs zustandekommt. Je älter ich werde, desto stärker empfinde ich Kunstprodukte, die aufgrund solch ironischer Grundhaltungen entstehen, als uneigentlich. Das sag ich morgens auch zu einem Neue-Musik-Redakteur des SWR, mit dem RHPP und ich beim Frühstücken zusammensitzen: “Können Sie nicht-pathetisch lieben?” Wo alles nicht mehr fühlen will, will ich es dreifach. Dem Pop ist das keine Frage, der Unterhaltungsliteratur auch nicht; hier haben die Trivialkünste ihre Kraft, und davon muß vieles in die Ernste Kunst zurückgeholt werden. Dringend. Sonst bleiben nur blasse, zwar ausgefeilte, aber letztlich völlig uninteressante Beliebigkeiten. Man muß bei Kunst schwitzen. Und heulen. Und jauchzen. U n d denken. Sonst bleibt nichts als Ausschuß.

Ansonsten ist im Großstadt-Projekt noch Julian Kleins “Windows”-Performance überaus erwähnenswert; ein sinnlich gemachtes hochtheoretisches Identitäts-Spiel, das mit Gleichzeitigkeiten arbeitet und zugleich einen ziemlich kruden Realismus reflektiert, über den vermittels der Netz-Einspielung eines Cam-Fensters die Kriegshandlungen im Irak projiziert sind. Das ist ausgesprochen beeindruckend, sowohl szenisch als auch im Gedanken. Hier gehen Ironie und Emphase tatsächlich ineinander, und für die mies-lächelnde Denunziation, die jeder Ironiker (unbewußt) betreibt, bleibt kein Platz. Sondern das Phänomen ist ins Auge genommen.