Dienstag, den 7. Juni 2005.

7.28 Uhr:
[Skrjabin, Dritte Sinfonie.]

So müde morgens und wie ein Stück Blei so schwer. Draußen Dauerregen als ein Reflex meiner Arbeitsstimmung. Nachts prasselte das Wasser gegen die Fenster. Ich werde heller, wacher, bekomme Energie, sowie ich den Schreibisch verlasse: in Gegenwart von Frauen, sowieso, und in Gegenwart meines Sohnes; sowie bei Freunden, auf Diskussionsveranstaltungen, Lesungen usw. Kehre ich aber an den Schreibtisch zurück, gießt sich mir sofort wieder dieses Blei durch die Knochen. Der Einstieg in den Arbeitsrausch ist wie zugeschweißt, ich kann die Schweißnähte s p ü r e n. Und orientiere mich anderweitig, flüchte in die Erotik-Chats, spiele Backgammon im Netz usw. “Du mußt dich wirklich nicht beklagen”, so Eisenhauer gestern, “du schreibst sonst in einer Woche, wozu wir Monate brauchen. Und hast halt mal einen Durchhänger. Mach doch einfach mal Pause.” “Und wovon lebe ich dann?” Wobei mich allein diese Frage schon wieder mit dem Blei behängt, da es meiner Ökonomie zur Zeit ja ziemlich wurscht ist, ob ich schreibe oder nicht.
Dazu wieder Dummheiten wegen des verbotenen Buches. Die Freunde scheinen es kräftig herumzureichen: “Hier scheiden sich die naiven Leser von den anderen. Wer immer etwas von Literatur versteht, sagt: Was ein großes Buch!”Dagegen spricht das JOURNAL FRANKFURT in einer für meine Lesung am 9. Juni sonst sehr werbenden Ankündigung von der durchaus strittigen Qualität des in Prozeß stehenden Romans.Ohne das “durchaus” wäre die Bemerkung faktisch unanfechtbar, m i t dem “duchaus” ist sie eine Abwertung, die jedes Argument schuldig bleibt. Und als wir – später in der Pause des BrötzmannKonzertes – über DIE LIEBE IN DEN ZEITEN DES INTERNETS sprechen: “Das m u ß t du weiterschreiben, das ist der Roman der Gegenwart.” “Sicher”, antworte ich, “aber es will mir doch keiner dieses Buch verlegen. Es ist den Leuten doch zuviel Pornographie.” Eisenhauers literarische Zuversicht ist mir zur Zeit völlig fremd. Vor dreißig Jahren wäre ich seiner Meinung gewesen – nicht, weil ich damals jünger war, sondern weil der Literatur eine gesellschaftliche Bedeutung zukam, die Verbote und Tabuisierungen letztlich immer geschleift hat. Wird etwas aber bedeutungslos, dann bleiben die Mauern stehen wie bei Ruinen und bekommen sogar Denkmalschutz.

Annika und die Hasenkrügler kommen zur Lesung. Schön.



Tagesplanung.

8 Uhr:

Korrekturen fürs Lena-Ponce-Lektorat.
ARGO lesen.
DIE DSCHUNGEL.

10 Uhr:

Analyse.

11 Uhr:

Lena-Ponce-Lektorat bei Schwarzkopf Buchwerke.

13 Uhr:

Mittagsschlaf.

14.15 Uhr:

ARGO ff.
DIE DSCHUNGEL.
Was so anliegt.

20 Uhr:

Lesung im Literaturhaus Fasanenstraße, Berlin.
(DIE NIEDERTRACHT DER MUSIK. Sowie NULLGRUND aus ARGO).


12.19 Uhr:

Lektorat erledigt, ging fix. Über Ebay ergatterte Perle von der Fischerinsel abgeholt. Sie ist nicht ganz so schön wie die mir auf der Leipziger Buchmesse geklaute, aber es ist wieder eine Pe r l e fürs Revers, und ich konnte sie bezahlen. Immerhin was.
Jetzt die restlichen Krabben essen, ehe sie schlecht werden, vorher noch den neuen Eintrag über den Sanften notieren und einstellen, dann rasieren, duschen, schlafen. Und an ARGO gehen. Momentan wieder das Gefühl, genau zu wissen, was ich schreiben muß…. aber wenn ich dann davor sitze… oh je.

16.47 Uhr;
[Janácek, Katia Kabánova.]

Telefonat mit dem Literaturhaus. “Könnt ihr nicht aus den 350 Euro Honorar wenigstens 400 machen? 350 Euro haben die Kaufkraft von 350 Mark, und damit liegt das Honorar unter dem VS-Satz von 1981.” Wir einigen uns auch sofort darauf. Aber die Angelegenheit zeigt: Im großen und ganzen sind die Honorare mit der Währungsreform um die Hälfte gekürzt worden – sofern man gutwillig ist und die Inflationsrate nicht mitrechnet. Schon deshalb muß ich mich über meine Finanzmisere nun wirklich nicht wundern.

Dann der Beitrag von >>>> Anobella. Ärgerlich. Und die Stimmung erst recht verdunkelnd. Denn die Frau meint es ganz sicher gut. Aber denkt eben nicht, sondern fühlt nur. Daß Kafka “Das Urteil” in nur einer Nacht schrieb und daß dabei gute Dichtung herauskam, ist eher der Abteilung Wunder zuzurechnen, als daß sich darauf eine normative Produktionsaussage stützen ließe. Zumal dann nicht, wenn man sie daran knüpft, es sei (nur) etwas gut, das ‘in einem Zug’ gelesen werde. Denn zum einen sind “Der Prozeß” und “Das Schloß” – beides sogar noch bessere Texte als “Das Urteil” – durchaus nicht in nur einer Nacht geschrieben, ja sie sind sogar abgebrochen worden und Fragment geblieben, sondern überhaupt ist dieses in-einem-Zug schreiben für jeden ängeren Text völlig ausgeschlossen, für 1000seiter wie ARGO sowieso. Und auch hier hat Anobella nicht genau hingeschaut. Zwischen Oktober 2004 und Januar 2005 habe ich vielmehr von ARGO knapp 400 Buchseiten geschrieben und war davon – wie Kafka beim Urteil – wie berauscht. Es war die leidige einmonatige FinanzamtsScheiße, die mich da hinausriß – und es sind die für meinen Existenzerhalt nötigen Aufträge, die mich nicht mehr hineinkommen lassen. Dazu kommt das allgemeine Gefühl von Sinnlosigkeit angesichts eines regressiven, sexuell verklemmten und außerdem noch korrupten Literaturbetriebs, was mich mit einer solchen Düsternis erfüllt, in die eben nur Frauen Licht bringen können: also K ö r p e r. (Zum anderen, denn dieses “andere” soll nicht vergessen sein, werden wenige den Ulysses ‘am Stück’ gelesen haben, auch ‘Der Mann ohne Eigenschaften’ wohl kaum, “Berge, Meere und Giganten”, “Die Niederschrift des Gustav Anias Horn” und was sich an großartigen Mammuten sonst noch so in die Regale wuchtet.)

Und was Anobella nicht merkt: Der Satz “intellektuell überfrachtet” stammt von Goebbels. Es ist genau das, was ich mit gesellschaftlichem Regreß meine. Die Leute sind vom Pop sozialisiert worden (einer Veranstaltung der Werbeindustrie, deren Strategien sich fast direkt von Goebbels h e r l e i t e n lassen) und m e r k e n deshalb nicht nur die Differenzierung nicht mehr, sondern sie wollen sie auch nicht. Und ich wollte gerade noch was über “mythische Figuren, die mich mal als Kind interessiert haben” schreiben und über Kinder, die Homer lesen… aber das laß ich jetzt sein. Die Leute interessieren sich tatsächlich mehr für Blütenstaubzimmer; da geht jede Polemik ins Leere.

Keine gute Stimmung für den Nachmittag vor einer Lesung jedenfalls. Aber die Musik (Janácek) ist schön.

5 thoughts on “Dienstag, den 7. Juni 2005.

  1. wie blei so schwer das problem der schreibblockade, die jetzt glaube ich seit der hoffmann & campe-absage besteht, IST argo. das verbotene buch ist ein großes buch, da stimme ich Ihnen zu, das kleinzureden wäre ein quatsch. ich habe seit jahren in deutschland nichts besseres gelesen. es hat einen sog, eine story, lebendige figuren und eine leidenschaft. ich brauchte noch nicht mal anderthalb tage dafür.
    aber argo ist leblos, intellektuell überfrachtet, zugekleistert mit mythischen figuren, die mich mal als kind interessiert haben. ich klicke nach zwei zeilen raus und zwar nicht, weil ich ein schlechter mensch bin. es ist zu v i e l, Sie wollen zu viel, ohne dass das jetzt etwas an tiefe außer Ihrer selbst hergäbe. schmeißen Sie das doch mal p r o b e w e i s e raus (aus dem masterplan) und knüpfen Sie wieder an meere an. DAS sollten Sie sich nicht nehmen lassen.
    so wie ich dieses buch in einem zug gelesen habe, denke ich, dass Sie das in einem zug geschrieben haben.
    und so wie kafka nach der nacht mit dem „urteil“ wusste, dass nur SO geschrieben werden kann, werden Sie das auch wissen. was will Ihnen dieses halbherzige an den schreibtisch-geschleppe sagen?
    hier im weblog war im übrigen die für mich schönste stelle – die ich jedoch auf anhieb nicht mehr finden kann (es kann auch in einem kommentar gewesen sein, desideria war im spiel), wo Sie auf der autobahn nach hamburg unterwegs waren und in drei varianten gegen die leitplanke knallten, zurückfuhren und weiterfuhren. das war gut. mitreißend. lebendig. fabelhaft.

    1. Zur Strafandrohung. (Für Anobella zur Seite gesprochen). Ach, und tun Sie mir bitte den Gefallen und löschen – oder machen ihn unkenntlich – den Titel des verbotenen Buches? Ich stehe unter Strafandrohung von 250.000 Euro, falls ich mein Buch bewerbe, und eine Titelnennung, die ich hier ja verhindern könnte, ließe sich als Werbung auslegen. Bleibt der Titel stehen, so müßte ich Ihren Kommentar löschen, was ich schon deshalb nicht möchte, weil es ein völliges Mißverständnis meiner Absichten mit sich bringen könnte. Ich halte Ihre Meinung für das Ergebnis einer literarisch-gesellschaftlichen Regression, würde aber immer dafür einstehen, daß sie geäußert werden kann. Auch und gerade in Den Dschungeln.

    2. die frau, die es sicherlich gut gemeint hat, hat den beitrag oben editiert.
      was meine kritik zu argo angeht: meinetwegen ist sie n u r gefühlt (das aus Ihrem munde!), aber mit solchen lesern muss man als autor natürlich rechnen.
      ich kann argo nicht lesen, weil mir der text zu viel mäandert und zu viele figuren hat undundund. und vielleicht hat “intellektuell überladen” goebbels nicht gesagt – das ist aber nun wirklich mehr Ihr ding als meins, alles sehr schnell auf den nationalsozialismus zu beziehen! – dann nehme ich eben das. an dem zu “intellektuellen” eines textes muss man ja in irgendeiner form etwas kritisieren können.
      ich würde auch nicht davon ausgehen, bei Ihnen diesen einwand geltend machen zu können (davon ging ich ohnehin w e n i g aus) (werde mich auch höflich wieder zurückziehen), wenn Sie das (gefühlte) verbotene buch nicht geschrieben hätten. 😉
      ich will Ihnen argo überhaupt nicht nehmen; für mich ist es zu sehr “special interest” (Sie werden sicherlich eine geeignete replik auf diesen begriff finden), aber das gilt für andere natürlich nicht. Ihr verbotenes buch ist zeitlos, das liest man in seiner klarheit und intensität auch in 100 jahren noch, egal wie die dinge zur zeit stehen.
      meine idee war lediglich, dass es unter umständen an ARGO selbst liegen könnte, dass Sie nicht weiterkommen.
      nicht an Ihnen oder Ihrer schreibblockade. werke führen ja oft ein eigenleben.
      anobella
      *zieht sich wieder zurück

    3. ARGO wird man in 100 Jahren. Überhaupt erst verstehen. Wahrscheinlich. Die beiden Lesungen von NULLGRUND, die ich jetzt hinter mir habe, haben aber ganz deutlich gezeigt, wie sehr einiges bereits heutzutage wirkt und trifft. Was das Mäandern und die vielen Personen an belangt: Ja, genau darauf kommt es an:: Der bequemen Konzentration auf leicht überschaubare Handlungsstränge und vor allem auf eineindeutige P e r s o n e n etwas entgegenzusetzen, das der Realität entspricht. Es geht gerade in ANDERSWELT darum, einen angemessenen Realismus zu entwickeln, der zugleich sinnlich ist. Körper u n d Geist eben – und nicht der schon metaphorisch-falsche “Bauch”. An dessen Stelle ist in ANDERSWELT die Leidenschaft gesetzt. Intensität ist hier wahrlich nicht weniger wirksam als in dem verbotenen Buch. Daß sich das in den bruchstückhaften Auszügen, die Sie in Den Dschungeln finden, möglicherweise nicht überträgt, ist allerdings etwas, das ich sofort zugestehen will; dazu sind die Erzählbögen zu weit ausgespannt.

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