Dienstag, den 9. August 2005.

10.10 Uhr. ICE 1519 Hamburg-Berlin.

Ich habe immer t o l l e Frauen, beeindruckende Frauen, mögen die Unkenrufe der Freunde und Bekannten sie auch noch so sehr verkleinern wollen (“Die ist ja noch ein Kind!” “Sie ist dir nicht gewachsen.” “So eine junge Frau kannst du doch nicht für voll nehmen.”). Nein, ob jung, ob älter: Immer haben sie neben der körperlichen eine große seelische Schönheit. Dafür hab ich denn auch die Konsequenzen zu tragen.

Also, ich fuhr A.’s Wagen, den sie nach unserer Italienreise für Katanga wegen des Krankenhausaufenthaltes seines Jungen in Berlin gelassen hatte, nach Hamburg zurück, zwei Mitfahrer dabei; bei Einfahrt schmetterte “Otello in Barcelona”, eine ziemlich eigenwillige spanische (katalonische) Aufnahme dieses späten Verdi-Stücks. – Woran es liegt, weiß ich nicht, aber kaum fährt man in Schleswig Holstein ein, beginnt es zu regnen; man erkennt die Landesgrenze stets an einer dunklen Mauerfront. Dann, wie ein letzter durch Hoffnung warnender Graben, lichtet sich das Gewölk, läßt – quasi als Erinnerung an das, was man vor zwei Stunden verließ – einen Strahlenschleier Sonne hinurch, der aber recht eigentlich ebenfalls wie Regen nicht fällt, nein, aber sprüht… und erreicht man Hamburg, regnet es wieder. Das ist ein geographisches Naturgesetz, es kann in Berlin so hellwarm sein, wie es will. Verstehen werd ich diesen Sachverhalt wohl letzten Endes nie.

War viel zu leicht gekleidet für Hamburg, mithin; schulterfreies T-Shirt, aber immerhin, aus Instinkt, einen dicken Pullover und die kräftige Lederjacke mitgenommen. Und die Röhrenjeans aus Palermo trug ich, über deren Schlag sich Freund G. immer so lustig macht, die mir aber überaus angenehm ist, weil sie sich wadenaufwärts wie eine zweite Haut anschmiegt und mir permanent das Gefühl meiner eigenen Haut vermittelt. Wie etwas, das Wärme zurückstrahlt, strahlt diese Hose Körper zurück. Egal. Die Musik ließ mich laut mitsingen, auch wenn ich mich nicht auf der Suche nach St. Pauli, wohl aber nach der richtigen Straße verfranste. Wer die Ausdehnung einer Stadt wie Berlin gewöhnt ist, ist immer fast schockiert darüber, wie schnell man in Hamburg von einem Stadtteil in den nächsten gerät und wie eng selbst Haupt- und Ausfallstraßen sind. Jedenfalls fand ich, nach einzwei mobilen Telefonaten mit A. die Ww*straße dann. Ich stürmte gutgelaunt die schmalen, ausgesprochen steilen zwei Treppen hinan, die mich immer an Aufstiege in Schiffen erinnert haben. Wußte aber ja genau, was anstand, hatte vorher alle Zeit nachgesonnen, wegen ***, wegen EvL – und hatte auch in der Analyse formuliert, daß ich überzeugt sei, eine Entscheidung – oder Entscheidungen insgesamt – treffen zu müssen. Wobei es mir durchaus mehr liegt, so etwas, anstelle es hart und mit einem Schnitt zu tun, ausschleichen und verklingen zu lassen: ein stetig leiser werdendes morendo.

Neulich hatte Freund Eisenhauer gesagt: “Du tust ihr nicht gut.”
Jetzt sagte A., wir waren aus ihrer WG in eine Kneipe gewechselt: “Du tust mir nicht gut.”
Sie spricht von ***. Ich spreche von ***. A. geht auf die Toilette. Ich sage: “Jetzt sprechen wir schon wieder von m e i n e r Scheiße.” “Das ging mir”, sagt sie, “eben auch durch den Kopf.”

Wir sprachen sehr lange, ich trank sehr viel, sie trank am Ende einen Tee.
“Ich werde noch nach Hasenkrug fahren”, sagte sie, da war es ein Uhr nachts. Sie wolle zu ihrer Familie, habe das Bedürfnis, d a h e i m zu sein. Das ist sie d o r t, bei den Freunden, nicht hier in Hamburg und auch nicht bei den wirklichen Eltern. Aber es sind sechzig Kilometer Fahrt. “Das ist verrückt”, sage ich. “Das ist nicht vernünftig”, sage ich. “Ich hätte dich nachts lieber bei mir”, sage ich. Und sie: “Ich dich bei mir auch.” Sie bringt mich in ihre WG, beginnt zu packen, umarmt mich zweidrei Mal. Ich berühre sie dort, wo ich weiß, sie reagiert darauf. Sie seufzt auf, aber sagt: “Bitte unterminiere mich nicht.”
So laß ich sie denn gehen. Stehe noch in der Wohnungstür, es ist bald hab drei, sie schleppt ihre Tasche und die Gitarre dieses enge Treppenhaus hinunter; ich sehe das leicht violette Rot ihres feinen Haars um den nächsten Absatz leuchten, A. dreht sich nicht mehr herum. Ich schließe die Tür. Stehe im Wohnungsflur, die Tür des Zimmers von A.’s Mitbewohner steht offen, weil sich A.’s eine Katze angewöhnt hat, bei ihm im Bett zu schlafen und er das nicht mehr missen möchte. Ich gehe in die Küche, schalte den Computer an, will über den hier sonst immer offenen Hotspot ins Netz, vielleicht mit EvL reden, ganz sicher mit EvL reden, bei ihr in B. A. ist’s ja erst abend, und sie wird arbeiten. Aber ich komme nicht rein. Ich überlege, ob ich besser ein Hotel suchen solle, es hat etwas leicht Erbärmliches, in dieser von nun an wieder fremden Wohnung zurückgeblieben zu sein. Ich möchte morgens auch nicht dem so freundlichen Mitbewohner begegnen, möchte nichts Ausweichendes darüber sagen müssen, daß ich da bin, aber Annika weg ist. Aber ich habe kein Geld für ein Hotel. Und draußen regnet es und regnet. Weshalb ich auch nicht – wie einmal vor Jahren in Heidelberg nach einem Streit mit dem Gastgeber einer Lesung, bei dem ich dann auch übernachten sollte – zwischen den Pennern am Bahnhof schlafen. Also trink ich noch von dem Calvados und versuche weiterhin, irgendwie ins Netz zu kommen. Aber der Hotspot nimmt meine ID nicht an, dabei zeigt der Wlan-Indikator, daß da ein freier Hotspot immer noch ist. Gegen halb vier geb ich das auf, klettere in A’s Hochbett, schlaf ein und wache morgens kurz nach acht auf, da ist die Wohnung schon leer und der Mitbewohner längst zur Arbeit gegangen.

Ich schau mich um. Was mir immer im Gedächtnis bleiben wird, ist die kleine Waschmaschine, ein Gerät, das von oben gefüllt wird. Die Klappe steht offen. Und in der Trommel liegt A.’s blauer, flauschiger Kapuzen-Pullover, den ich an ihr so geliebt habe, weil er genau die Farbe ihrer Augen hat, ja mehr noch: Pullover und Augen ließen sich gegenseitig immer erst richtig erstrahlen. Nun liegt dieses Kleidungsstück in der Wachmaschine.
“Du tust mir nicht gut.”
Ich kann gar nicht sagen, welch eine Hochachtung ich habe.

11.14 Uhr: Weiter im ICE.

Selbstverständlich sprachen wir auch über dieses Tagebuch, seine Problematik, seine Absichten. “Ich wollte es nicht lesen. Du glaubst gar nicht, wie o f t ich es nicht lesen wollte. Und dann doch m u ß t e.” Es ist die meistgelesene Rubrik Der Dschungel, mit Abstand. Dabei muß man sie suchen, sie erscheint ja nicht sofort und ist – anders als die anderen Rubriken – nicht auf der Hauptseite einsehbar. Man muß sich bücken, um das Schlüsselloch zu finden. Aber a l l e bücken sich und ignorieren die übrige Einrichtung dieses Weblogs.
“Der Stärkung des Privat- und Intimrechts entspricht auf der anderen Seite der genau dadurch ganz besonders gereizte Voyeurismus”, sagt A. Und ich: “Ein wenig erinnert mich das an die rigide Drogenpolitik, die w e g e n ihrer Rigidität die Preise am Weltmarkt hochhält. Und aus Gründen der Ökonomie ganz bewußt sämtliche Folgeschäden im Wortsinn in Kauf nimmt, unter denen die Kriminaldelikte noch zu den geringsten gehören.”
“Du mußt dich doch nicht wundern”, wendet G. immer wieder ein, “daß Frauen, die an dir interessiert sind, die dich gar lieben, sich abwenden von dir. Wenn sie all das lesen, was du da schreibst.”
“Was soll *** denn denken” fragt EvL, “wenn sie das von ihren Händen bei Ihnen liest? Oder die Frau mit dem Badeanzug: Was soll sie dann tun? Sich umbringen?”
“Wer mit dir zusammen ist, mit dir umgeht, m u ß damit rechnen”, sagt A., “daß er hier vorkommt – in der einen oder anderen Form; verschlüsselt, wenn es gutgeht. Aber ich verstehe das. Denn was sollte einer, der schreibt, schreiben: wenn nicht von dem, was er kennt?”
Dennoch ergeben sich Konsequenzen daraus, schon I. hatte letztlich das Tagebuch nicht ertragen. Ich frage mich, was anders wäre, führte ich es n i c h t. Meine Blicke wären doch dieselben, meine Gefühle und Unschlüssigkeiten die gleichen; ich behielte das alles ‘nur’ für mich. Und die andere, die Geliebte, ahnte. Das, meine ich, nagte genau so. Und es wäre immer ein Vorbehalt im Spiel, wenn sich die Hoffnung vielleicht auch erhielte.

Mir ist ein bißchen schlecht: von Akohol und Rauchen und Abschied. “Sommerliebe” denke ich gerade. Wittenberg. Noch klart der Himmel nicht auf.

11.32 Uhr:

Etwas Fieses tat ich noch. Ich stand auf St. Pauli, war auf dem Weg zur S-Bahn. Es regnete. Gleich rechts von mir ging die Herbertstraße ab. Ich stellte mich in den Eingang einer Peep-Show-Bar und SMSte Karen, von der ich weiß, sie liebte mich gern wieder – körperlich, s e h r devot; aber sie kann das wie alle anderen letztlich nicht vom Herzen trennen. “BIN IN HH. HAST DU NACHM./ABENDS ZEIT UND LUST?” “KANN JETZT NICHT”, kam zurück, “UND ABENDS HABE ICH EINE VERABRDUNG. SCHADE..” – Ich weiß nicht, ob das so schade ist. Es wäre eine b ö s e Session geworden. Dem Akt hätte letztlich der menschliche Respekt gefehlt. Denn ich hätte mit dieser anderen einen ins kalt-Sexuelle verschobenen (pervertierten) Abschied von A. genommen und nicht etwa mit Karen ein erotisches Wiedersehen gefeiert. Man könnte so etwas eine seelische Vergewaltigung nennen, von der bloß die andre nichts weiß. “Ich möchte kein Platzhalter sein”, sagte A. Wenige Monate zuvor sagte schon I.: “Ich bin austauschbar für dich.” Hamburg, ü b e r h a u p t: Es ist kein Zufall, daß ich, bevor ich den Zug bestieg und nachdem ich EvL eine kurze Nachricht hatte zukommen lassen, noch einmal in die Lange Reihe hineinschritt, in deren einer Seitenstraße meine schöne afghanische Geliebte gewohnt hat, der ich nun indirekt die von mir so genannte “persische Fassung” des verbotenen Buches verdanke. Ich habe die Tendenz, Abschiede miteinander zu verknüpfen. Als stünden sie für etwas, das sich vor mir verbirgt und das ich dann ganz instinktiv zu suchen beginne.

Auch das war mein Impuls heute nacht: “Laß uns noch ein letztes Mal miteinander schlafen. Wie eine Formklammer, die sich schließt.” Doch A. hat recht, wenn sie Abschiede g e ö f f n e t läßt: Da ist keine Wand, die einen hält. Und man soll nicht so tun, als wäre das anders.

3 thoughts on “Dienstag, den 9. August 2005.

    1. Das kommt sehr auf die Situation an. Man tut sich (und anderen) nicht immer gut.Aber bisweilen. Ich finde, das rechtfertigt es. Wären wir Weise, wir täten n i e m a n d e m gut. Und wären getrennt von unseren Lüsten und Sehnsüchten, also von dem, was wir s i nd und was wir tragen.

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