Mittwoch, den 10. August 2005.

9.30 Uhr:

Seit einer Stunde auf. Ich erwache normal wie normale Menschen, habe gelernt, mich treiben zu lassen, aber es kommt poetisch so wenig dabei heraus. Disziplinierung wäre so nötig wie das Rauchen aufzugeben. (Indem ich das schreibe, entzünde ich die nächste Small Corona.) Die ersten Sätze heute morgen galten EvL, die jetzt schläft in Ihrem gehaßten Buenos Aires und sich von mir zurückziehen möchte. Oder schon zurückgezogen hat. Oder beginnt, es zu tun. “Sie brennen. Ich nicht.” Das fand ich heute früh in der Post. FLORET ET ARDET. So steht es bei D’Annunzio.

Tatsächlich war ich gestern noch völlig aufgetrieben von sexuellem Begehren und wußte überhaupt nicht, wohin damit. Hilflosigkeit dreht sich in mir in einen ausgesprochen scharfen dominanten Antrieb herum und wird auf diese Weise Energie; aber sie ist ungelenkt und schlägt sich nicht in Texten nieder. Sondern braucht Körper. Ich hatte das überhaupt nicht im Griff, auch wenn ich das zugleich zu beobachten und auch zu notieren weiß. Dennoch, es hindert mich an der Arbeit. Auf Trennung reagiere ich fast immer mit einem losrasenden Trieb. Mir fällt dazu ein alter Jurist ein, der seiner Frau, die nie gerne mit Männern schlief, einmal sagte: “Wenn das über mich kommt, dann geh ich in ein Bordell und bin es ziemlich schnell los. Das ist teuer, ja, aber billiger, als wäre ich für den Rest des Tages arbeitsunfähig.” Und er rechnete ihr tatsächlich die Ausgaben für die Prostituierte gegen die Höhe der andernfalls entgangenen Honorare auf. Das begriff diese Frau ohne weiteres. Zu mir sagte sie: “Das ist doch vernünftig. S o damit umzugehen. Wenn Männer nun mal so sind.” Diese Form des Pragmatismus fehlt mir nicht nur völlig, sondern ich habe einen sozusagen phylogenetischen Abscheu davor. Bin aber, das ist offenbar der Preis, meinen Affekten ausgeliefert. “Du hast nie einen Mechanismus des Selbstschutzes entwickelt”, sagte mir G. gestern nacht im Atamé, “deshalb merkst du auch nicht, wenn andere ihn brauchen. Du fühlst die Notwendigkeit gar nicht. Deren Notwendigkeit.” Er bezog das direkt auf dieses Tagebuch. Tatsächlich w i l l ich gar keinen Selbstschutz, will nicht verbergen, sondern finden. Einer dieser Mechanismen ist, fällt mir jetzt ein, das sogenannte Private. Doch ich schreibe über Menschen, mehr: über das, was uns antreibt und in uns wirkt. Mich interessieren, wenn es das geben sollte, letzte Antriebe; es kommt wahrscheinlich nicht von ungefähr, daß dieses “letzte” ganz zugleich die “ersten” meint. Wäre ich anders und h ä t t e den Selbstschutz entwickelt, ich hätte vieles von dem niemals gestalten können, was heut in meinen Romanen steht. Ich hätte gar nicht erst darangerührt; es wäre mir verschlossen geblieben.

Ich verbrachte einen Großteil der Nacht im erotischen Netz; hoffnungslos, logisch. Ich konnte ja nicht einmal zielen. Jetzt bin ich auf und denke, formulierend, nach. Etwa darüber, daß sich V*** aus Augsburg wieder gemeldet hat, im Yahoo-Messenger. Sie ist frisch verheiratet, wirklich glücklich, sagt sie. Aber da ist dieser Trieb. “Noch hab ich das unter Kontrolle.” Doch er drängt. Drängt in eine Spielart erotischen Verlangens, für die ihr Mann kein Verständnis hat, ja die ihm mehr als nur unangenehm ist. Erzählt sie. “Es könnte alles zerstören.” Wir sprechen, ich erzähle von dieser Raserei in mir. “Ich”, sagt sie, “wäre jetzt richtig für dich.” Aber da ist, sowieso, die Entfernung nach Bayern. Das geht jetzt einfach nicht so einfach von nun nach da. Außerdem gibt es bei ihr wie bei mir einen kleinen Jungen. “Wir sollten uns irgendwo anders treffen.” “Das sollten wir. Ja.” Wir sprechen über Abgründe des Begehrens. Und über den Respekt, der allein schon nötig ist, wenn man nur hineinblickt. Da schreibt sie: “Tu mit meinem Körper, was immer du willst. Übertrete dazu jede Grenze. Aber schreib kein Wort darüber in deinem Weblog.” (Daran werde ich mich, sollte es dazu kommen, halten. Und habe darum auch hier, um diese Geschichte zu erzählen, die eigentlichen Zusammenhänge geändert.) Was mich poetisch daran interessiert – übrigens eine Rechtfertigung für dieses Tagebuch insgesamt -, ist der Umstand, daß wir offenbar völlig uneinheitlich s i n d, auseinanderfallend in Tausende einander rigros widersprechende Begehrlichkeiten und Sehnsüchte und daß diese dennoch r e c h t haben, jede und jedes für sich. Wir suchen fast automatisch nach Möglichkeiten, sie zu vereinen, müssen aber daran scheitern. Das ist alles nicht schlimm. Problematisch wird es nur dann, wenn wir zugleich, “nach außen”, ein autonomes und geschlossenes Ich behaupten und sogar lehren, unsere Kinder lehren und die gesamte Kultur damit füllen: mit einem Konstrukt, das letztlich auf Verdrängung beruht. Und eben wiederkehrt, w i d e r k e h r t. Wider uns selbst e r s t und danach wider unsere Kinder. Und wider a n d e r e Kulturen, denen wir diese Ich-Konstruktion ökonomisch aufzwingen durch die Form, die sie im identifizierenden Handel, also auf dem Weltmarkt, angenommen hat. Und daß wir alles, auch Gewalt, daran setzen, die eigentliche Wirklichkeit wie ein Geheimnis zu verschließen.

18.54 Uhr:

Beim Analytiker.
“Ich möchte nicht der Vater eines Kindes sein, das entweder geplant oder passiert ist. Beides will ich einem Kind gegenüber nicht verantworten: denn das eine funktionalisiert es, und das andere macht es zu einem Geschöpf, das sein Leben einer Fahrlässigkeit verdankt. Es soll vielmehr gewollt sein u n d gezeugt in einem Moment, in dem keine Form irgend einer Rücksichtnahme auf etwas anderes noch von Bedeutung ist. Auch nicht die auf persönliche, finanzielle oder soziale Sicherheit.”

19.59 Uhr:

LE CICALE wär übrigens a u c h ein guter Romantitel. Oder der Name einer Erzählung. Anhebende Dunkelheit, zerbrechende Blumendüfte wie bei Dirnfellner, und etwas durchzieht den Garten. Etwas Lebendiges, das dennoch… Vielleicht schreib ich die kleine Novelle eben mal zwischendurch.

22.30 Uhr:

Nicht zu fassen. Soeben bekomme ich von opodo, einem Flugvermittlungsunternehmen die folgende Email:

Sehr geehrter Opodo-Kunde,
vielen Dank für Ihre Buchung bei Opodo.
Wir schicken Ihnen Ihre Reisedokumente umgehend mit der Deutschen Post zu.
Sollten Sie Ihre Tickets nicht innerhalb der nächsten drei Werktage
erhalten, setzen Sie sich bitte mit unserem Kundenservice in Verbindung.
Bitte begleichen Sie umgehend die offene Rechnung: 759.99 Euro (im Anhang beigelegt)
Bitte überprüfen Sie Ihre Tickets umgehend nach Erhalt. Sollten Sie
Unstimmigkeiten feststellen oder weitere Fragen haben, rufen Sie uns an oder
schreiben uns eine E-Mail. Wir sind von Montag bis Freitag von 8 bis 23 Uhr
und am Wochenende von 8 bis 18 Uhr für Sie da.

Tatsache ist, daß ich nach Flügen nach Buenos Aires geschaut, aber nicht gebucht habe. Mir schwant ein neues Chaos.

Reicht es denn nicht, daß ich derzeit kaum was auf die Reihe bekomme?

Immerhin, es ist die Bestätigung für das Aufenthaltsstipendium in der >>>> Villa Concordia eingetrudelt. Ab April 2006 werde ich also für ein Jahr in Bamberg sein. Und zwischen dort und hier des Kleinen wegen zweimal wöchentlich hin- und herfahren. Teuer, aber es bleiben immer noch 600 Euro monatlich mehr, als ich j e t z t habe.

22.49 Uhr:

Und dann noch eine im Betrag riesige Rechnung der Telekom, die im Betreff den Monat August nennt, im Text aber den Monat Mai. Und die firewall springt an: Trojaner. Ich guck die Rechnungsdatei an: Es ist eine Rechnung.pdf.exe – na klasse. Mein Erschrecken ließ sie ohne nachzusehen runterladen, die firewall hat’s blockiert. Jetzt gleich mal die Virensuchmaschine starten.

6 thoughts on “Mittwoch, den 10. August 2005.

  1. Ich ist ein Anderer Wenn ich das hier so lese, regt sich in mir leiser Widerspruch. Allerdings kann ich es nicht genau festmachen, denn im ersten Lesen moechte ich Ihnen beinahe zustimmen, in Ihren Betrachtungen zum “Ich” und zur “Wirklichkeit”. Aber etwas stoert mich daran. Nein, stoeren ist auch wieder zu viel gesagt, es macht mich stutzig. Als waere da ein Widerspruch in dem, was Sie sagen. Gleichzeitig merke ich, dass dieser Widerspruch ja auch daraus entsteht, dass in mir der Chor der Ichs zu debattieren anfaengt… 🙂

    Sehr schoen finde ich Ihren letzten Satz, … “die eigentliche Wirklichkeit wie ein Geheimnis zu verschliessen”. Hier allerdings spaltet sich das Ganze auch wieder. “Eigentliche Wirklichkeit”…, das waere? Die im Idealfall zusammengenommenen Wirklichkeiten des Ichs, der Anderen?
    Und ist nicht “Kunst” erst dann moeglich, wenn man einer bestimmten Richtung Ausdruck verleiht? Ich stolpere ueber Ihren Satz

    der Umstand, daß wir offenbar völlig uneinheitlich s i n d, auseinanderfallend in Tausende einander rigros widersprechende Begehrlichkeiten und Sehnsüchte und daß diese dennoch r e c h t haben, jede und jedes für sich.

    Dem stimme ich unwidersprochen zu. Dennoch: ist das nicht gleichzeitig auch so, als wollte man alle Farben des Spektrums miteinander mischen und erhielte nur Grau? Fangen wir nicht erst an zu leuchten, wenn wir uns fuer etwas entscheiden? Ist nicht dies der eigentliche Schmerz, naemlich der Verzicht (wenn man so will) auf die Gesamtheit?

    Ich frage mich das selbst. Nehme aber Ihre Ausfuehrungen gerne als Anstoss zum Weiterdenken.

    1. Ich halte von Gesamtheit nichts. Weil sie dem Vielen wieder ein Eines umschnüren will. Wodurch es erstickt. In anderen Arbeiten habe ich davon geschrieben, poetisch den Unterschied von Substanz und Akzidenz aufheben zu wollen, weil er wertet und Hierarchien bildet, die dann sehr gut je nach gesellschaftlichem, politischem etc. Kalkül zu lenken sind. Das gilt auch fürs Denken: In einem Denkprozeß konstituiert sich ein angenommenes, nämlich je gerade denkendes Ich, das alle Motive hierarchisch miteinander verknüpft; jedenfalls in der abendländischen Kultur. Es deduziert… schon dieser Begriff ist ziemlich verräterisch. Ich glaube aber umgekehrt nicht an die Möglichkeit einer “ganzheitlichen Schau”, und zwar dann nicht, wenn es ja auch auf Ergebnisse ankommt (mein Kind ist krank und soll geheilt werden; also m u ß ich wählen und d a r f gar nicht “ganzheitlich” schauen). Deshalb tendiere ich im Augenblick dazu, je in Bezug auf etwas zu denken, mir aber nicht nehmen zu lassen, ja es mir selbst abzuringen,es in Bezug auf etwas anderes – oder zu einem anderen Zeitpunkt w i e d e r auf dasselbe – genau anders zu denken. Was ich versuche, ist, dies in mir zu erhalten. Es denken dann Hunderte. Das einzige, was sich vielleicht erreichen läßt (aber ich hab keine Ahnung, wie das gehen soll), wäre so etwas wie “chorisches Denken”. Vielleicht rührt daher meine obsessive Verfallenheit für Musik.

      Und selbstverständlich entscheidet man sich in Kunst für eine Richtung (in einem bestimmten Buch, für ein bestimmtes Bild); sonst kommt bestenfalls so etwas wie die Aufzeichnungen Wölfflis dabei heraus. ABER: Kunst ist ja nicht ein bestimmtes Buch, sondern eines im Verhältnis zu anderen und zu den Lesern jeweils. Sie steht in einem wahrscheinlich wechselwirkenden unendlichen Prozeß – anders als etwa die Ware, die definiert sein muß, damit man sie an den Mann bringen kann. Hierher rührt wohl auch das Problem, das Kunst immer dann bekommt, wenn sie, im Kapitalismus notwendigerweise, Warencharakter annimmt.

  2. Nun, es ist ja auch ein jeder anders angelegt in seinen Faehigkeiten, mit dem inneren Reichtum umzugehen. Ich sehe allerdings die Faehigkeit, das in Worte, Bilder, Gegenstaendlichkeiten umzusetzen als grosse Chance, dieser sogenannten Wirklichkeit naeher zu kommen.
    Auch kein Puzzle, das in seiner “Gesamtheit” erst ein Bild ergibt, sondern eher vielleicht eine Vielzahl von Stimmen, die – je nach An- oder Abwensenheit, je nach Tagesform oder Anlass – verschieden zu klingen vermoegen.
    Ja, das “chorische Denken” fasst es schon ziemlich gut in Worte. Laesst eine Offenheit in alle Richtungen zu. Es ist wohl auch diese Offenheit, die dem kapitalistischen Denken voellig zuwiderlaeuft, das eine Definitivitaet vom Einzelnen verlangt, die Moeglichkeit der Etikettierung und natuerlich “Bewertung”, i.e. Kaeuflichkeit.
    Ein nahezu unaufloesbares Paradoxon fuer Kuenstler, die sich diesen Gegebenheiten zu entziehen versuchen.

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