Freitag, der 2. September 2005.

8.25 Uhr:
[Nono, Come una ola di fuerza y luz.]

Jetzt doch wieder ein zumal schöner Brief von EvL: Sie verreist tatsächlich. Erst nach Montevideo (durch mich ist das darin versteckte Sprach- und Sinnspiel wie eine Glückswelle gefahren: „Ich möchte den Berg sehen“) für einzwei Tage, da sie Abstand brauche, nicht nur von unserer Korrespondenz, sondern insgesamt. Danach aber fliege sie nach New Orleans, jede medizinische Hilfe sei da gebraucht. Man habe ihr streng abgeraten, aber sie könne nicht anders, es ziehe sie dahin.
Ich bin nun ein wenig sprachlos. Nicht weil sich jetzt herausstellt, daß sie offenbar Ärztin oder etwas ähnliches ist. Über ihren Beruf hat sie bislang, denke ich nach, sehr geschwiegen. Ich hatte etwas Universitäres vermutet, das sie offenbar mit einem überraschenden Karrieresprung verwirrte.Und nun ist alles ganz anders. Ihre Entscheidung habe auch mit mir zu tun: Sie habe die Entstehung meines San-Michele-Hörstücks in Den Dschungeln mitverfolgt und sich die spanische Ausgabe des Buches von San Michele besorgt. Munthes, eines Moderarztes, sofortiger Entschluß, sowohl bei Ausbruch der Choleraepidemie in Neapel als auch nach dem Erdbebebn in Messina, direkt vor Ort zu reisen, als die meisten Ärzte um ihres eigenen Lebens willen diese Städte und ihre geschundenen Bewohner verließen, habe sie so tief beeindruckt, daß sie, die über die in New Orleans und den Notlagern so gebrauchten Fähigkeiten verfüge, nicht länger zurückstehen könne. Die zwei Tage Montevideo indessen müßten sein. Und dann machte mich etwas weiteres sprachlos: Sie legte eine Fotografie bei, vielleicht von sich selbst, vielleicht von jemandem anderen; das weiß man im Netz ja nie so genau. Es ist ein Rückenbild, das frappierend einer Fotografie ähnelt, die >>>> Su Schleyer gestaltet hat und nach welcher ich meine Lena-Ponce-Geschichte schrieb, die ja ausgerechnet in Buenos Aires spielt. Das Frappierende daran ist nicht der Umstand an sich, sondern daß das Buch noch gar nicht ausgeliefert ist, sondern das erst in wenigen Tagen sein wird. Oder irre ich mich, und die Buchhandlungen haben es bereits? Aber wie dann in Buenos Aires? Oder ist sie damals auf Sus Ausstellung in Buenos Aires gewesen und hat dort das Bild gesehen, über das ich in Der Dschungel ja bereits einmal erzählte? Ist sie gar mit Su selbst bekanntgeworden und weiß d a r ü b e r >>>> von dem jetzt endlich vorliegenden Buch? Ich möchte nicht indiskret sein und Su Schleyer nicht nach den wirklichen oder vermeintlichen Umständen fragen, solange EvL mir nicht selbst davon erzählt. Aber ich bin jetzt so sehr von den Socken, daß ich in ARGO kaum hineinfinde.
(Das mir von EvL hergeschickte Bild kann ich selbstverständlich hier nicht einstellen, denn es könnte ja sie selbst zeigen, wohl aber kann ich das mit dem anderen, dem öffentlichen, Su Schleyers tun; allerdings muß ich abwarten, ob sie mir dazu die Genehmigung erteilt. Ich habe ihr eben gemailt.)

[Was, fällt mir ein, wenn EvL nicht, wie sie angibt, ‚Evelina’, sondern in Wirklichkeit ‚Michaela’ heißt? Dann hätte sich ein weiteres Mal eine literarische Idee realisiert, aber von einem Ort aus und in einer Situation, von der ich das weder erwartete noch erwarten konnte. Eine Anderswelt, sozusagen, die sich mit der Realwelt a l s Realwelt verknüpft.]

12.21 Uhr:
[Busoni, Doktor Faustus.]
Erstaunlich, wie ARGO läuft, wie sich die verschiedensten Szenen anfassen und ins Typoskript tippen lassen. Zwei Seiten Rohling geschafft, jetzt werde ich schlafen. Aber danach, weil es mir so von der Hand geht, einfach daran weiterschreiben.
Im Telefonat mit dem Deutschlandfunk stellt sich heraus, daß die SAN-MICHELE-Sendung nun erst im ersten Quartal 2006 ausgestrahlt werden kann, weil ich wohl wieder einmal allzu sehr auf den letzten Drücker abgegeben habe. Schade. Aber meine eigene Schuld. Dafür hat sich einer von Ihnen, den Dschungelesern, gemeldet und nach dem Typoskript u.a. für eine allerdings ausgesprochen ungewisse Produktion im italienischen Rundfunk angefragt.

19.49 Uhr:
Gerade den Jungen zu seiner kleinen Freundin Linda gebracht, wo er übernachten möchte. Mit allen zusammen Abendbrot gegessen, dann heim und mit seine Mama telefoniert: Es deutet sich neuer Schulärger an. Am Dienstag wird der erste Elternabend sein. Ich habe die Möglichkeit eines Schulwechsels angedeutet, jetzt werden wir sehen.
Der Freitagabend ohne den Jungen ist seltsam leer. Also hab ich mir zwei Kinokarten bestellt, bin zu unruhig zum Arbeiten, für ARGO ist sowieso das Pensum erreicht. So wird das jetzt eine lange Nacht: Sin City erst, danach Das Imperium der Wölfe. Gegen zwei Uhr nachts wird ich dann daheim sein. Also wird es morgen früh mit fünf Uhr aufstehen sicher wieder nichts. Aber ich bin in der Arbeit so drin, daß es darauf kaum ankommt.

Ob EvL in Montevideo schon i s t? Wie lange fährt man? Fliegt man? Sie hat nichts erzählt, und im Postfach liegt keine Nachricht. Vielleicht später, nachts, wenn ich zurückkomm.

2 thoughts on “Freitag, der 2. September 2005.

  1. Egal, ob EvL nun Evelina oder Michaela heisst: Die Realwelt ist in der von Ihnen beschriebenen Episode Literatur, herrliche Literatur geworden. Die Komplexität und Schönheit, mit der sich EvL nun einschiebt in Die Dschungel, entspricht doch ganz der Idee Ihres Projektes. In EvL scheinen Die Dschungel ihre fleischgewordene Schöpfung gefunden zu haben. Oder umgekehrt: Die Dschungel waren nie anderes, als der Spiegel, der verzweifelt nach demjenigen/derjenigen suchte, an dem/der seine ganze Spiegelkraft offenbar würde.
    (Doch “Spiegel” ist inadäquat, da ein Spiegel nur wiedergibt ohne schöpferisches Zutun. Schöner ist der Gedanke, dass hier einer schöpft und das Geschaffene ihm entgegentritt und sagt: “Mich gibt es tatsächlich.” Und es schöpft sich weiter. Und die Dschungel schöpfen weiter. Und sie schöpfen gegenseitig aus dem anderen. Vielleicht schöpfen sie sich irgendwann auseinander, aber die Magie der oben von Ihnen beschriebenen Episode bleibt.)

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