Donnerstag, den 15. September 2005.

4.35 Uhr:
[Vaughan Williams, The Pilgrim’s Progress.]
Nach einer ulkigen Musik ist mir heute morgen zur Arbeit; schon gestern spätnachmittags, weiß nicht warum, stellte ich die Doppel-LP-Cassette schräg vor das Rack der Anlage: Ralph Vaughan Williams, The Pilgrim’s Progreß. Man könnte es, wäre das dafür nicht letztlich zuviel Pathos, eine puritanisch-christliche Erbauungsmusik nennen; imgrunde ist es denn d o c h Erlösungs- also Entindividuierungsmusik. Allerdings in diesem ganz speziellen Pomp letztlich wohl nur Briten nachvollziehbar, d.h.: herzhebend. Etwa dort, wo mit einem Gedonner, der gleichermaßen pompös ist wie er brechtsche Distanz hat und als Theatergewitter sowohl erkennbar ist als auch erkennbar sein s o l l, der Teufel auftritt; man vergleiche das mal mit Boito oder gar Berlioz, um von Busoni gar nicht erst zu reden. Okay, der latte macchiato ist fertig. Übern Tag wechsel ich eh wieder auf Händel. Hab einen süßen Muskelkater, nebenbei noch nachgetragen. Ran an ARGO.

(Analyse fällt heute aus; so kann ich ohne Zeitdruck joggen. Es sind insgesamt eh nur noch elf Stunden offen, und die Frage stellt sich, wie es weitergehen soll. Ein Satz des Analytikers, der mich gestern ein wenig ärgerte: „Vielleicht ist es besser, wir rühren an den 5-Jahres-Block nicht weiter, wenn Sie das nun doch sogar schon die Körperbeherrschung verlieren, ihren Körper sich entgrenzen läßt.“ Das bezog sich auf einen Vorfall vorgestern nacht, den ich später einmal erzählen will, für den ich aber erst noch die Sprachform brauche; sonst verstehen Sie das Ausmaß nicht.)

5.36 Uhr:
ARGO, Notizen einbauen.

8.17 Uhr:
[Tippett, A Midsummer Marriage.]
Gefrühstückt. Bereits zwei weitere Seiten ARGO. Und konsequenterweise noch nicht zum Händel zurückgeschnalzt, sondern zu Tippetts’ Midsummer-Oper hinübergeglitten. Das mag zum einen an der musikalischen „Verfaßtheit“ selber liegen, zum anderen aber wohl auch daran, daß ich vorhin bei >>>> Else Buschheuer las, sie sei eine musikalische Heidin. Das gefällt mir nun ausnehmend, also diese Vielgötterei, auch musikalisch. Weniger verstehe ich freilich die „Bringschuld“, die sie da heute formuliert. Ich bin mit neuen MDTFEB also erstmal etwas vorsichtiger; ich meine, das soll ja L u s t bereiten und nicht verpflichten. Deshalb auch hierseits und außerhalb der Reihe – sowieso, weil ich ihr den Tip lange v o r der Rubrik gab – etwas zum abhängig werden: >>>> Abdullah Ibrahim, Good News from Africa; darin besonders das erste Stück.

13.31 Uhr:
[Händel, Alcina.]
Drei Seiten ARGO jetzt, dann die fünfeinhalb Kilometer gelaufen, etwas gegessen und ziemlich tief meine Stunde geschlafen. Während ich nun aufs Zischen der Pavoni für den Mittags-Espresso warte, erregt mir eine >>>> von einem männlichen (?), enzo benannten Alias öffentlich gemachte Traumdeutung ein ziemliches Unbehagen. Es scheint, als wollte jemand etwas aufrühren, das gerade zur Ruhe kam oder d a r a n ist, seine Ruhe – vielleicht auch sein Glück – wiederzufinden. [Ach welch schöne Tenor-Arie gerad!] Nun läßt enzos letzter Satz etwas Entscheiendes aus, und er (oder d o c h sie?) scheint sich darüber ganz absichtlich nicht im klaren zu sein: Wenn meine Ahnung stimmt, worauf sich diese spezielle Traumdeutung bezieht, dann vergißt sie, daß eine Ruhe durch Rückzug in den Wald gar nicht eintreten k a n n, da alle Beteiligten in einem K r i e g stehen: nämlich dem um ein verbotenes Buch. Und dieser Krieg wird währen. Jahre. Um Jahre. Eine solch öffentlich gemachte Traumdeutung funktioniert da nun ganz sicher nicht als glaubhaftes Waffenstillstandsangebot, wobei mir eben genau diese Wähnung Sorge bereitet, es stehe genau dies im K a l k ü l Herrn enzos – mithin einer Dritten Partei, die eigene Interessen verfolgt.

Retour aux pays du natal! ARGO.

P.S. (14.30 Uhr): Es könnte freilich auch einfach nur Dummheit dahinterstecken. Die nicht begreift, was sie hier möglicherweise zerschlägt.

19.20 Uhr :

1
Dieser Enzo war da. Ja, ich kenne ihn, wenn auch unter anderem Namen. Er wollte mir partout seine Interpretation des Traumes aufdrängen, sagte aber zugleich, er begreife viele der Sätze nicht, die in diesem Weblog stehen; er versuche es zwar, aber manche Sätze lese er dreifach usw. Ich fragte nach, er wußte nicht, was eine Tauschgesellschaft ist. Da gab ich’s auf. Als er mir noch sagte, ich hätte ihm alle Jahre verschwiegen (verschwiegen!), daß ich „in Wahrheit“ Alexander heiße, feuerte ich den Kerl hochkant aus meiner Arbeitswohnung.

2
Dann das Treffen mit ***. Nichts mehr, aber auch gar nichts mehr von der Wärme des Montags, sondern wie seit Dienstag abermals eine spürbar ausgestellte Abwehr, Ablehnung, Kühle. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was den Stimmungsumbruch von Montag auf Dienstag ausgelöst hat; aber er ist d a. Und ich kann mit so etwas nicht umgehen. Es lähmt mich, nimmt mir die Kraft; ich habe jetzt wieder Nikotindruck, der bereits ganz weg war. Es wird also ein harter, durchkämpfter Abend werden. Und ich muß zusehen, daß mir die Arbeitststruktur für ARGO nicht wieder um die Ohren fliegt.
Jedenfalls ist das so kein Zustand. Ich bekomme zu *** ein nüchternes, pragmatisches Verhältnis nicht hin: Es wäre permanent gelogen. Die Konsequenz lautet von daher: Keinen weiteren Kontakt mehr. Auch da mich einfach wieder auf Entzug setzen – und nicht ‚nur hie und da mal ziehen’.

3
Müde.

21.47 Uhr:
Ich arbeite und betrinke mich dabei. Den Nikotindruck hab ich im Griff. Solange ich an ARGO sitze, komme ich klar. Auch d a s ist neu: Abends arbeiten zu können. Aber es ist selbstverständlich eine Flucht. Meinen ganzen Körper durchpocht das, durchpulst und durchschlägt das: Halte Dich von dieser Frau fern! Halte Dich von dieser Frau fern! Sieh sie nie wieder an, nie wieder an – oder nur im Spiegelbild Deines Schildes, und die Rechte dabei fest um den Schwertgriff. Denn Du darfst nicht fehlen, wenn Du schlägst. – Imgrunde, meines Sohnes wegen, müßte ich Berlin verlassen. Müßte weggehen. Weit weit weg. Das aber tat mein Vater s e i n e n Kindern an; darum ist mir dieser Weg versperrt. Ich habe sowohl ihn wiedergutzumachen, als auch konsequent meinen literarischen Weg weiterzugehen. Das ist nicht leicht zusammenzukriegen. Ich brauchte ein F e u e r so sehr! „Fremde Feuer“ – welch wundervoller Titel für einen Gedichtband. Wenn man denn Lyriker wär.

Aber immerhin, tolle zwei Sätze:




Er liebte u m f a s s e n d. Liebte so sehr, daß ihn die Bürger Die Ratte nannten.

ARGO, TS roh 284

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