Die Nacht vom 9. auf den 10. September.

Ich bin mit einer Freundin oder Geliebten, jedenfalls Frau, irgendwo eingeladen. Wir sind nicht intim, aber intensiv miteinander. Zugleich sind wir distanziert. Ich weiß jetzt, während ich schreibe, nicht mehr, wer es ist; ich hatte es bereits vergessen, als ich aufwachte. Der Erzählung halber will ich sie Lan nennen. Ihr Gesicht ist völlig unsichtbar nun: als ich träumte, war es das nicht, sondern wir sahen uns oft, sehr oft, an. Nach der Gesellschaft, einer Art festlichen Abendgesellschaft, von der ich a u c h geträumt habe, aber an die ich mich nicht mehr konkret erinnen kann, will Lan mich nach Hause fahren und erzählt von ihrem neuen Auto, einer Art Oldtimer in High-Tech-Version. „Ein australisches Auto“, sagt sie, ich erinner mich genau. „Oh“, rufe ich aus, „sowas würde ich gerne mal selber fahren.“ „Das kriegen wir hin“, sagt Lan. Die Straße schillert in der Nacht wie von Nässe, es ist aber trocken; das Dunkel ist gleichsam farbig, derart leuchtet es. Manchmal gibt es diese irre Realität von Farben in Spielfilmen, etwa in >>>> Lynchs „Blue Velvet“: völlig, fast überwältigend, da.
Als wir die Fahrertür öffnen (das Gefährt ist trotz seines LimousinenCharacters zweitürig; sehr hochgebaut im übrigen, fast wie ein englisches Taxi; die Sitze haben hohe lederne Sessellehnen), sitzt drinnen ein blasser, hochgewachsener Mann in einem Anzug vom demselben tiefblauen Schwarz, mit dem das ganze Auto lackiert ist. Das schmale Gesicht trägt auf Wangen, Kinn und Hals den Schatten eines rasierten dunklen Bartwuchses.
Noch etwas ist ungewöhnlich: der Mann sitzt nämlich vorne rechts, und links neben ihm gibt es gar keinen Sitz, sondern für die Passagiere hat der Wagen nur noch die sehr breite, von einem poliert schimmernden schwarzen Nappa bezogene Rückbank. Mindestens fünf Leute fänden darauf Platz. Lan stellt mich dem Mann, er heiße John, vor und bittet ihn, doch zur Seite zu rücken, i c h wolle den Wagen steuern. Keine Ahnung, wohin er rücken soll. „He never did it before“, erklärt ihm Lan; alle Dialoge zwischen ihr und ihm und fortan uns werden auf Englisch geführt, John kann gar kein Deutsch. Er rückt auch wirklich zur Seite, ohne daß sich das räumlich erklären ließe. Lan steigt nach hinten ein, ich setze mich links vorne auf den nicht vorhandenen Sitz. John erklärt mir zweidrei Funktionen, ich lasse den Wagen an, wir fahren in die ziemlich leere glitzernde Nacht.
Doch keine zweidrei Kilometer weiter geraten wir in einen Stau. Einer von uns kommt auf den Gedanken, links hinauf auf einen fly over auszuweichen, was ich auch tue. Kaum sind wir auf der Straßenrampe, kommt uns ein Lastwagen entgegen, obwohl dieser fly over ein Autobahnzubringer und also Einbahnstraße ist. Ich kann gerade noch ausweichen, es wird dröhnend gehupt, hinter uns biegen weitere Wagen herauf, aber weitere Fahrzeuge kommen uns auch entgegen der Fahrtrichtung entgegen. Man hat den Eindruck von Leuten, die in ihren Gefährten flüchten. Oben auf dem Highway beruhigt sich die Lage allerdings. Jetzt bin es aber nicht mehr ich, der fährt, sondern John; ich selbst sitze jetzt auf der Rückbank neben Lan. Es gibt auch vorne wieder den Fahrersitz, denn nun wird der Wagen links gesteuert. Er ist insgesamt sehr zusammengeschrumpft; in der Passagierkabine ist es auf Berührung eng. Ich muß meine Knie auseinanderspreizen, wenn ich zwischen der Rücklehne des Fahrersitzes vor mir und der Lederbank, auf der ich sitze, irgendwie Platz für meine Beine finden will. Einmal halten wir, vielleicht um uns zu orientieren, und John dreht sich herum, sein rechter Arm, während er mit Lan spricht, ist, lässig eingewinkelt, oben auf die Rücklehne seines Sitzes gelegt. Einmal rutscht der Arm herunter, da hängt er, ebenso lässig, zwischen meinen Beinen. Mir ist das unangenehm, ich will dem Mann nicht so nah sein. „Something wrong?“ fragt er. „All’s okay“, antworte ich, „but you hand is lying on my cock.“ Anstatt sie zurückzuziehen, fangen Lan und er zu lachen an, und er läßt seine Hand einfach liegen.
Wir fahren weiter. Mit einem Mal wird der Verkehr wieder dicht, wir geraten in eine Straßensperre der Polizei. Ein Beamter in grüner Uniform, den weißen Helm auf dem Kopf, dessen Visier herabgelassen ist, röhrt mit Motorrad die angehaltenen Autos entlang und ruft was. Als er uns passiert, harrscht er durchs von John heruntergelassene Autofenster: „Get out! Immediately! All!“
Verwirrt folgen wir. John, der auf mich vorher so schrecklich unheimlich gewirkt hatte, hat nun deutlich Angst. Lan hält alles für einen Witz. Sie lacht dauernd. Ich bin nur beklommen, fast fühllos. Wir werden von anderen Polizisten mit weiteren AutoInsassen zusammengetrieben und als Menge auf ein Feld gescheucht. Auf diesem Feld sind überall kleine, von hölzernen Zwischenwänden dreigeteilte Unterstände an in den Ackerboden gerammten Pfählen errichtet, dahinter gibt es eine Art Bierzelt: beflaggt leuchtend, voller Masken und anderem Kirmesschmuck. Man hört laute ausgelassene Musik: Tompeten, Tschinellen, Pauken. Wie Zirkusartisten verkleidete Leute rennen herum, enorm viel Polizei rennt herum: wir „Neuen“ werden gemustert und zu jeweils den Unterständen eingeteilt, wo wir warten müssen. Lan wird von John und mir getrennt, ich sehe sie nicht wieder. Eine Art Karnevalszug fährt vorüber: auf den Emporen der Wagen tanzen vor allem Frauen, die mit Federn geschmückt sind und Waffen halten: lange Messer und Degen. Dazwischen sieht man Leichenwagen mit toten, völlig blassen, aber zum ewigen Schlaf schön hergerichteten Personen. Man hat ihnen, das ist deutlich,das Blut ausgesaugt. Sie sehen alle aus und sind auch so drapiert wie >>>> Millais’ “Ophelia“. Der Karnevalszug fährt ins Jenseits. John und ich stehen eng beieinander, er zittert, einmal weint er sogar. Ich denke an Flucht, bin hochgradig aktiv, sichere die Gegend usw. An das Feld grenzt ein tiefschwarzer, ich möchte sagen: s c h w e r e r Wald. Da muß man doch irgendwie hinkommen! Wir können entfernt, ihm gegenüber, die Autobahn sehen, hören die Sirenen der Martinshörner, sehen das rotierende Blau der Polizeilichter, immer weitere angehaltene Wagen, weitere Menschen, die in Trauben hergetrieben werden. Ein Schlachtfest, denke ich, „F e s t“ im Wortsinn, una festa, une fête. Die Stimmung bei den Schlächtern ist großartig, die Opfer wimmern, regen sich kaum in ihren Unterständen. Alle sind wie ergeben in ihr Schicksal. Ein neuer Karnevalszug mit Leichen rollt johlend und tanzend und Flaschen schwenkend vorüber. Da verstehe ich, daß man den gefangenen Menschen mit ihrem Blut die Seele nimmt: Sie werden in ein Zwischenreich abtransportiert, nicht Himmel nicht Hölle, sondern ein ewiges, blindes Warte-Reich der Stummheit. Irgendwie muß ich hier weg. Aber es kommt ein Polizist in Uniform und verhört uns, danach lacht er uns aus. Völlig entehrt stehen wir da. Andere Polizisten kommen; ich glaube, wir werden geschlagen. Mich stimmt das aber nur n o c h aktiver, rasend denke ich. John weint wieder. Lan ist so sehr weg, daß man meinen könnte, es habe sie nie gegeben. Ich denke auch gar nicht mehr an sie. (Jetzt, da ich dies protokolliere, habe ich mit einem Mal den Eindruck: es war s i e, die uns den Umweg über den fly over empfahl, sie wußte Bescheid, sie gehörte ‚dazu’. Aber das ist eine rein assoziative Spekulation.)
Horden tanzender Frauen, von Polizisten irgendwie geleitet, kommen in feiernden Grüppchen aus dem riesigen, aber flachen Zirkuszelt heraus und verstreuen sich über das Feld. Sie tragen teilweise Masken, teilweise aber nichts anderes als diese farbigen Straußen- und Pfauenferden. Musiker sind bei ihnen und spielen auf. Bisweilen nähern sich die Grüppchen den bangenden Gefangenen in ihren Unterständen, bisweilen wird jemand erstochen, dann umringen ihn die Feiernden und tragen ihn zur Blutentnahme weg. „Niemals alles trinken!“ höre ich. „Mixt das mit Limonade. Das schmeckt sehr viel besser.“ Eine Frau schüttelt ihre Sprudelflasche wie einen bar shaker John hat sich derweil an sein Handy erinnert, in einen Schatten gebeugt seh ich ihn telefonieren: Er spricht flüsternd rasend, immer wieder wirft er den Kopf herum, um zu schauen, ob’s jemand merkt. Ich weiß, daß er der nächste ist, den man töten wird. Er hat überhaupt keine Chance. Und ich ducke mich und schleiche in Richtung auf eine Schattenspur, die zu dem Wald führt. Sichere mich, schleiche weiter. Dann laß ich mich ganz auf den Boden herunter, wie ein Tier, das, den Bauch eng am Boden, davonhuschen will. Ich komme heil in den Schatten hinein und robbe über den Ackerboden, verharre, seh mich immer wieder um, niemand scheint meine Flucht zu bemerken. Ich robbe, wie ein Späher im Feld weiter. Der trompetendurchstoßene Lärm hinter mir – die Zirkusmusik, das Gegröle, das Feiern, die Schreie der Sterbenden, die Jubelrufe der Frauen, die Martinshörner von der Autobahn, die harrschen Befehle der Polizisten – wird immer leiser. Noch leiser. Fast bin ich schon an den Wald heran – da erwache ich.

4 thoughts on “Die Nacht vom 9. auf den 10. September.

  1. Traumdeutung Lieber ANH
    Natürlich bist Du von Deiner Freundin/Geliebten distanziert im Traum. Geografisch um ein paar tausend km. Immerhin heisst der Kerl, der den falschen Platz auf dem Wagen einnimmt, der Platz auf den eigentlich Du gehörst, John. Klar, lässt sie euch beide im Stich, macht sich über Euch lustig, stellt sich auf einen (Party-)Wagen (mit einem DJ?) Es fliesst Blut. Kampf und Durcheinander. Die Staatsgewalt ist auch im Spiel.
    Es freut mich zu lesen, dass Du nun nahe daran bist im schützenden Walde Ruhe zu finden. Das ist die wirklich gute Nachricht Deiner Seele an Dich/uns.
    LG
    enzo

    1. @enzo: Hm. Damit kann ich nun wirklich nicht viel anfangen, zumal derart anonym. Wer ist: “uns”? Und das mit dem “klar=John” ist mir auch nicht sehr deutlich. Vielleicht erklären Sie sich ein wenig. Oder versuchen, ebenfalls in symbolischer Sprache zu sprechen, wie es dieser Traum tat – und nicht in der andeutungsvoll-denunziatorischen Ihrer Anonymität.

      Nein, ein DJ war nicht im Spiel. Sondern die im Traum tanzenden Frauen waren rein unbemannt, also eher Amazonen: und zwar solche, wie sie die Anderswelt-Bücher seit Thetis und imgrunde schon den Wolpertinger durchziehen. Es ist also ein altes Motiv. In jedem Fall ist Ihre Lesart zu eng.

      (Was mich darüber hinaus immer sehr irritiert: Wie schnell im Netz die Leute meinen, Grund dafür zu haben, Fremde zu duzen.)

    2. Schade Herr ANH!

      Erstaunlich, dass ich Ihren Traum um so viel besser verstehe als SIE! Da ich IHRER Geschichte teilweise beiwohnte (es tut mir leid, natürlich kann ich mich nicht so gestelzt ausdrücken wie ein HOCHLITERAT). Ich habe SIE im Übrigen noch nie gesiezt und hätten SIE in den letzten Jahren hin und wieder mal meine Kontaktaufnahmen über eine email hinaus erwidert, erinnerten SIE sich sicherlich an meinen Rufnamen unter dem mich meine Freunde kennen, enzo.

      Ich gehe nun jedenfalls mal die Schönhauser Richtung Bornholmer, werde an der Gleim die Augen nach Ihnen offenhalten und bei Nichtantreffen evtl. an Ihrer Wohnungstür klingeln.

      Bin gespannt auf IHRE Reaktion des Erkennens oder Nichterkennens werther ANH.

      Glauben Sie mir, ss ist nicht alles so negativ gemeint wie von Ihnen kommentiert.

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