Sonnabend, den 17. September 2005.

4.53 Uhr:
[Schulhoff, Flammen.]
Hab mich gestern nacht offenbar ziemlich zugeschüttet; das merk ich aber erst jetzt an meinen verklebten Augen, die nicht so richtig durch sich hindurchschauen lassen. Deshalb wohl auch der Streit dann. Aber egal, ARGO. Und in Sachen Nikotin bin ich ja hartgeblieben.
(Wie lange ich hier noch schreiben werde können, ist ungewiß; ich denke mal, so in einem Monat wird mir die Telekom den Netzzugang sperren. Schweige ich also, dann wissen Sie, weshalb. In übrigen lebt dieses Tagebuch von seiner Spontaneität und meinem Willen, es nicht zu zensieren, also ganz bewußt nicht auszusuchen, was ich Sie lesen lasse. Meine Art, mit Unvorhergesehenem, Schönem, Traurigem umzugehen, ist, es zu formulieren. Allerdings muß ich in diesem Ansatz Rücksichten auf andere nehmen, die ich dann entweder umerfinde oder eben d o c h verschweige. ‚An sich’ geht das gegen das Konzept des Dschungel-Tagebuchs. Gegen das Konzept geht aber auch – damit wir, die lieben Leser und ich, uns recht verstehen -, wenn alles, was ich Ihnen erzähle, stimmen sollte. Vielmehr wird hier Geschehenes und Erfundenes als völlig Gleichwertes gemischt. Insofern muß ich noch einmal auf Michaela zurückkommen, nicht >>>> Michaela Gabriela Anna Ungefugger, nein, die ist zu jung, sondern jene Andere aus dem anderen Buenos Aires. Und längst ist nicht mehr heraus, ob ‘anderes’ nicht ein ‘reales’ meint. Genau in diesem Wasser gilt es, schwimmen zu lernen: für mich und für Sie. Genau das nämlich wird unsere AlltagsRealität zunehmend bestimmen. Für diesen Umstand versucht meine Poetologie eine Erzählform zu finden.

21.44 Uhr:
[Händel, Rinaldo.]
Offenbar hab ich derzeit mal wieder die Tendenz, Frauen um so heftiger zu vergrätzen, je mehr mir an ihnen gelegen ist. Immerhin gab es heute ein gutes NetzGespräch mit Lilith Wien, die mir erfolgreich meinen Brief an *** ausredete und mich sogar so milde stimmte, daß ich den Kleinen morgen wieder selbst hinbringen werde – sogar früher, damit sie, was sie sich gewünscht hatte, den ganzen Nachmittag mit dem Jungen verbringen kann. „…du wirkst auf die meisten wie ein roher klotz. eingepanzert. um dich schlagend, sobald du dich attackiert fühlst… und das tust du gerne und oft“, schreibt Lilith. Na ja, klar, denn wieso soll ich nicht um mich schlagen, wenn ich mich attackiert fühle? Soll ich die andere Wange auch noch hinhalten wie dieser…na ja, egal.
Wie auch immer, sehe jetzt von einer rigiden Entscheidung ab, auch wenn mich das möglicherweise meine letzten anderthalb Lexotanil kosten wird, die ich aus der unmittelbaren Trennungszeit noch für Notzeiten aufbewahrt habe. Jedenfalls fange ich nicht mehr zu rauchen an, da ich es auch in den letzten beiden Tagen – mit mehr Grund als nun – nicht tat.

Mit dem Jungen beim Trödler einen Hamsterkäfig für die Rattenkinder besorgt, die am nächsten Samstag zu uns kommen werden: Felix und Jonathan – so hat Adrian bereits am vergangenen Wochenende die knapp kleinfingergroßen Tierchen benamst.

Zwei roh-TS-Seiten ARGO, das ist s o schlecht für einen Samstag mit Kind n i c h t, also etwa vier oder fünf Buchseiten. Allerdings keine g r o ß e n Stellen, sondern mehr handlungsvorantreibende Routine. Dafür fiel mir eine weitere Wendung als Schnittstelle ein; etwas, das als Einfall etwas schockierend-Notwendiges hat. Und gern hätte ich heute noch über sakrale Anteile guter Pornofilme geschrieben, da mich doch >>>> ferromonte darum bat. Ich hab es einfach zeitlich nicht hinbekommen. Der Stoff wäre sowieso besser geeignet, einen längeren Aufsatz auszukleiden. So einen wirft man nicht einfach in den Blog.

Also, zwei der mir wichtigen Freundinnen schweigen. Für die bin ich nun das rohe, unsensible Arschloch. Bei dem es Wunder nimmt, woher es derart formulieren kann. Ich sage nur: Schein, alles Schein. Ich täusche vor, verstelle mich. Die Formulierungen und die Bücher sind, um es einmal s o zu sagen, nicht von mir. Wahrscheinlich hab ich sie bei Leuten, die sich nicht wehren können, geklaut.
(Einen “Vergewaltiger” hat mich ja indirekt auch schon Christoph Hein, der bücklichte Staatsdichter, im SPIEGEL-Gespräch mit Volker Hage genannt.)

Nachtrag:
Ganz vergessen; zu Unrecht vergessen: Annika war für einen kurzen Freundschaftsbesuch hier und aß mit dem Jungen und mir zu Abend. „Du glaubst nicht“, sagte sie, als sie kurz vor 20 Uhr wieder ging, „wie ich den Kleinen vermisse.“

3 thoughts on “Sonnabend, den 17. September 2005.

  1. seit wann haben Sie eigentlich diese professionelle ja geradezu rigide Tagesstruktur? Ich meine waren Sie nicht Dichter, der sich in wenigen Stunden der Muße der Muse widmet? (Leider läßt sich der Blog nicht bis 1972 zurückverfolgen, wo sie m.W. z.B. in Klagenfurt waren)

    1. Wie, lieber Herr Daniel, stellen Sie sich vor, daß man Romane schreibt? Mit dem linken kleinen Zeh, derweil der Fuß pedikürt wird? Die Muße der Muse ist ein Geschlechterkampf, der aufs kleistsche Blut geht (“Küsse, Bisse, das reimt sich”), und von wenigen Stunden ist nun ganz sicher nie die Rede gewesen – auch schon nicht 1972, als ich siebzehn und ein Klagenfurt mir noch nicht einmal Begriff war. Mein erstes Klagenfurt fand elf Jahre nachher statt, mein zweites weitere dreizehn Jahre später, da war denn der Wolpertinger längst geschrieben (jeden Morgen von 6 bis 12 Uhr, danach Sport, dann brokerage business von 14 bis 22 Uhr undsoweiter) und ich saß am ersten Anderswelt-Band. Künstler sind Freiberufler und unterliegen denselben Arbeitsgesetzen. Für sie wäre die Vorstellung einer 40-Stunden-Woche von äußerst bizarrer Kommodität. Künstler zu sein, bedeutet, in einen Hochleistungsberuf eingebunden zu sein: dem eines Strahlenpiloten gleich. Nur daß man nicht mit 35 pensioniert wird. Es wird einem ja keine Rente gezahlt, die eine Schwäche der Nerven erlaubte.

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