Dienstag, der 31. Januar 2006.

7.45 Uhr:
Als ich nachts heimkam, fand ich wegen meines sagen wir mal >>>> ‚Gegen-Plädoyers’ bezüglich Sozialer Inkompetenz (13.01 Uhr) die Email einer nun wieder ganz anderen Freundin, die mir vorwirft, man ersehe daraus, daß ich immer recht behalten m ü s s e und keinerlei Kitik vertrüge. Als ich darauf reagiere, nennt sie mich einen beleidigenden und hochhfahrenden Depp. Daß ich hochfahre, ist wahr.
Mir geht auch das jetzt wieder nach, es beschäftigt mich; aber ich sprang ihr nicht auf die Schippe. Ich schreibe das hier auch nur, weil ich meine Verwunderung darüber festhalten will, wie signifikant oft ich in Den Dschungeln persönlich angegriffen werde, und wenn ich dagegen argumentiere, wird nicht etwa wiederum argumentiert, nein, geschimpft. Ich meinerseits käme gar nicht auf die Idee, jemanden, die oder den ich flüchtig kenne, zu beschimpfen, schon gar nicht, wenn es um das Verhältnis zweier ganz anderer geht, bei dem ich allenfalls ein Beobachter bin. Sondern da versuche ich, genau hinzusehen und zu verstehen. Etwas anderes ist das bei starker emotionaler Betroffenheit, da tendiere auch ich dazu, cholerisch zu werden. Aber hier? Und auch bei meinen Freunden: ich spreche dann vorsichtig, ja tastend mit ihnen, wenn da etwas ist, von dem ich glaube, da läuft etwas schief. Denn wir alle haben Gründe, psychisch zwingende Gründe, und wir alle kennen sie oft nicht. Oder ich ziehe mich zurück. Aber ich sag nicht, sie seien Deppen, Idioten, eingebildete Arschlöcher usw.
Aber daß ich hochfahre, ist wahr. Allerdings in neuer deutscher ‚Recht’schreibung.

Es war ein guter Nachmittag gestern bei dem Geburtstag meines Jungen, drüben bei seiner Mama, nur wir drei; ein Fest wird es erst am Samstag geben. Stundenlang mit Legos gespielt, Jenga gespielt, dann Pizza essen gegangen. Und zum Abschied sagt ****** einen Satz, der auf ganz stille Weise so ungeheuerlich wunderbar ist, daß ich, als die beiden hinauf sind und ich mein Fahrrad hole, noch einzwei Minuten vor der Haustür stehenbleibe und in den Winter schaue. Nein, liebe Leser, ich sage Ihnen diesen Satz hier nicht. Es wäre eine Entweihung.
Es war 21 Uhr, ich telefonierte – alles immer noch draußen – mit Ursula und dem Profi, dann rief ich Carlsen an, mit dem ich mittags telefoniert hatte. „Wir sind in der Kulturfabrik.“ „Spielt ihr Billard?“ „Wir spielen Billard.“ „Dann komm ich eben noch vorbei.“
Also hin. Aber ich war ziemlich unkonzentriert, und Carlsen und die beiden anderen Freunde, Jonas und Ferdinand, haben schon soviel gespielt, daß sie auch nicht recht mögen. Wir ziehen in eine Kneipe. Die Gespräche gehen um >>>> ebay und um die Liebe. Carlsen, in seiner ziemlich unnachahmlichen, rücksichtslosen, dabei ganz offenen Art fragt Jonas auf den Kopf hin: „Liebst du deine Frau?“ Er lacht nur. „Ja, sicher“, sagt er. „Aber“, erwidert Carlsen, „ihr macht doch Kompromisse!“ Und bohrt. Ich kenne Jonas nur sehr flüchtig, die Sache ist ein wenig unangenehm. Auch Ferdinand‚kommt dran’. Ich diesmal nicht, ich bin schon durch, und meine Liebe zu ****** ist Carlsen fast etwas Heiliges, wobei er auch da nicht mit großer Kritik gespart hat: „Hast du sie je gesehen, je sie gesehen?“ Und dann wurde das große Gespräch um den Mißbrauch geführt, neulich, nicht jetzt. Jetzt erhält er eine SMS von T., einer Geliebten, mit der er Schluß gemacht hat, schon mehrmals, aus verschiedenen Gründen. An der er aber sehr hängt. Er wird ganz unruhig. „Geh n i c h t“, sagt Ferdinand, dem er vorwarf, mit einer Frau zusammenzuziehen,obwohl er eine ganz andere Leidenschaft habe, eine, die alt sei, über ein Jahrzehnt, die sich aber nicht erfüllen ließ, erfüllen läßt. Auch hier: „L i e b s t du W.?“ „Ich liebe sie, ja, aber ich glaube, daß sich Liebe nur in Kompromissen leben läßt.“ „Das ist keine Liebe.“ Undsoweiter. Und wieder rutscht er hin und her, und wieder sagt Ferdinand: „Geh nicht.“ Da dreh ich mich Carlsen zu und sage: „Liebst du T.?“ Er weicht aus: „Wo ist meine Mütze? Wo ist meine Jacke?“ „Liebst du“, frage ich erneut, „T.?“ „Themenwechsel“, sagt er. Ich: „Ich spiegele nur. Beantworte dir meine Frage. Ich selbst will sie gar nicht wissen. Uns drei hier geht es auch gar nichts an.“ Wieder: „Themenwechsel.“ Ich lache. Er nimmt seine Sachen, sehr plötzlich, und geht. Das hat etwas Wortloses, Getriebenes, nein: Gezogenes.
Wir drei andern sitzen noch lange und sprechen. Wie wir zuvor schon sprachen: Über Liebe und Begehren und wie sie einem schwindet im Alltag. Daß es klug ist, getrennte Schlafzimmer, möglichst getrennte Wohnungen zu haben, damit einem das eben n i c h t geschieht. Und sprechen über Carlsen. So wird es spät. Und Ferdinand fragt mich zum Abschied, als wir heimgehen, ich hatte mein Rad in der Kulturfabrik gelassen: “Ich muß mal mit dir über etwas sprechen. Immer, wenn ich dich sehe… weißt du, ich lese dich jeden Tag, ich weiß fast immer, was du tust, was in dir umgeht. Und jedesmal, komme ich heim, habe ich den Einruck, mit einer Romanfigur gesprochen zu haben. Wie fühlt man sich dabei?” Wir verabreden uns locker. Dann sagt er noch: “Diese Kommentare bei dir, ich lese sie nicht gerne. Auch nicht deine Antworten. Lösch die doch einfach! Aber du… du nimmst sie ernst, egal, welches Niveau sie haben.” “Ja”, antworte ich, “ich nehme sie ernst. Weißt du, den Ernst ist dieser Betrieb nicht gewöhnt. Den Ernst sind auch viele Leser nicht gewöhnt. Diesen Ernst w i l l ich.” Und ich spüre, daß es auch hier irgendwie um Heiligkeit geht, um etwas, das zu achten ist; selbstverständlich geht es da wieder um Kunst, nicht um, sagen wir, Soziales. Sondern darum, das zu achten, was man tut. Seinem Beruf Ehrfurcht zu erweisen.

Sie sehen, auch heute ist meine innere Arbeitsstruktur noch, um es linde zu sagen, gepixelt. Der Ehrfurcht fehlt einmal wieder die Form. Ich komme einfach noch nicht in der Frühe hoch. Zu viel ist um mich herum los: ebay, Anrufe dazu, erste Interviewwünsche, Dschungelattacken undsoweiter. Dazu ärgerte ich mich über einen Artikel im Standard; darauf gehe ich nachher, ‚draußen’, noch ein. Auch das Tagebuch führe ich erst einmal nur unter der TAGEBUCH-Rubrik weiter, da ich das Augenmerk neuer Leser, die möglicherweise von ebay herkommen, nicht durch die private Sektion verwirren will, sondern ihr Hauptaugenmerk auf das richten möchte, worauf es Der Dschungel ankommt: auf die ästhetischen Fragen und ihre Narration. Erfahrungsgemäß wird das Tagebuch ohnedies schnell gefunden.

Ich bekomme übrigens auch andere Emails:

Soziale Kompetenz wird möglicherweise denen zugeschrieben, die ihren Ärger herunterschlucken, und nicht laut sagen, was sie denken. Denen werde ich mich wahrscheinlich noch eher zurechnen müssen, obwohl ich mich auch darin übe, es auszuhalten, wenn andere mich nicht verstehen oder mich nicht leiden können. Das ist bisweilen eine ganz erfrischende Erfahrung. Aber: Sich andere anders wünschen als sie sind, – komisch. Wenn mir nicht gefällt, was ich lese, klappe ich das Buch zu. Ich finde Die Dschungel auch nicht immer “schön”. Merkwürdiges Kriterium, diese Art von Schönheit, die gefordert wird.
12.49 Uhr:
[Verdi, Falstaff. Nach dem mich oft eine lächelnde Sucht zieht.]
Beim Aufräumen kam mir plötzlich der Gedanke: Oje, für 2008 möchtest du ARGO fertighaben, als Buch. 1998 erschien THETIS. Das wären dann also w i e d e r zehn Jahre Arbeitszeit, vielleicht sogar elf. Ganz wie beim WOLPERTINGER. Das Menschenleben wird, sieht man es unter diesem Aspekt, sehr kurz; rechnet man Kindheit und Alter hinweg, so passen, wenn es gut geht, vier solche Romane hinein, nicht mehr. Man stelle sie zwischen die anderen großen Bücher, trete zurück und lege den Kopf in den Nacken. Dann weiß man, wie klein man eigentlich ist…

… und gestern abend, beim Italiener, zeichnet der Junge ein Bild, auf das er „für Mama“ schreibt und „für Papa“. Dann sieht er uns einen Augenblick lang an, nimmt das Bild, reißt es in der Mitte entzwei und gibt jedem von uns eine Hälfte. Betroffen, stumm, eine Sekunde lang, liegt unser Blick ineinander.