Sonnabend, der 18. Februar 2006.

5.27 Uhr:
Verschlafen, dicke Augen. Dabei war ich um zwölf im Bett. Aber ebenso sehr geträumt, so sehr geträumt. Mehrmals aus diesen Träumen erwacht, um eins, um kurz vor vier. Herumgedreht und weitergeträumt. Diesmal kann die Massivität dieser Träume, ihre, wie mir scheint, unablässige Folge, kaum mit dem Spielfilm vom Abend zu tun haben (Sellers als Clouseaud), eher mit der kleinen Diskussion danach über die Mohammed-Karikaturen und den einerseits westlichen, andererseits iranischen, jetzt auch pakistanischen Hintergrund dazu. Wahrscheinlich es es aber Verbeen, der die Träume ausgelöst hat, deren Erzählerisches jetzt am Laptop nur noch ein Gefühl geblieben ist. Zunehmend bekomme ich den Eindruck, hinter diesem ganzen „Irren“, aber auch dem Poetischen, womit Verbeen sich umgab, steckt etwas, das glüht. Etwas, von dem sich nicht sagen läßt, es sei gut, es sei böse oder es sei ‚einfach nur’ exzentrisch. Allmählich vermag die die Komik nicht mehr, die das alles hat, mir dies verdecken. „Sag einmal“, hat Katanga gestern abend gesagt, „hat der Mann nicht ständig eine Depression gehabt?“ Daran, spürte ich, ist etwas, und meine Frage sollte nun vielleicht lauten: Was steckt d a hinter?

Nichts bleibt ohne Wirkung. Wochenends höre ich meine klassische oder Neue Morgenmusik nicht mit Kopfhörern, sondern über die Lautsprecher, denn ich möchte, daß mein Junge, wenn er erwacht, sozusagen i n ihr erwacht. Das ist eine ganz bewußte Prägung, die ich damit vollziehe. Er wird es immer mit seinem Vater verbinden, es wird eines Tages auch in ihm durchkommen, vielleicht früher, vielleicht später, und zwar auch dann, wenn er sich in einer nötigen Phase der Abwendung dagegenwenden wird: das unbewußte Gefühl eines aufgehobenen Zuhause-Seins wird damit ebenso verbunden bleiben, wie mein Gefühl der selbsthergestellten Heimat damit verbunden war: bei mir also als Schutzraum durch Flucht, bei ihm als Schutzraum durch Aufgehoben-Sein. Was immer ihn als jungen Mann dann auch umtreiben sollte.
Mehrfach schon habe ich bisweilen heftige Diskussionen um diesen Willen zu prägen geführt: Ich überforderte das Kind usw. Dagegen halte ich: Die Prägungen, die durch die von Adorno so genannte Kulturindustrie vorgenommen werden und auf das leicht Rezipierbare abgestellt sind, in jedem Kaufhaus, an Bahnhöfen, im Kindergarten aber ebenfalls, so auch in der Schule – fast jedes Kinderlied wird unterdessen mit Pop-‚Ästhetik’ unterlegt und den Kindern so präsentiert -, der allgemeine Zugriff durch Fernsehen und Radio ist derart universal und eben seinerseits prägend – und zwar absichtsvoll: von außen und von puren Marktinteresse getragen -, daß es nichts schaden kann, sich dessen gewärtig zu sein und ein wenig etwas dagegenzusetzen: weich, selbstverständlich, liebevoll, aber ernst. Da diese Prägung aus tiefer eigener Überzeugung und tiefem eigenen Genuß herausströmt, ist nichts Falsches an ihr, kein äußerlich Repräsentierendes, sondern ein selbst-Gelebtes, selbst-Erlebtes, das ihr Strahlkraft und die Wahrheit verleiht.
Sollte mein Junge diesen Tagebucheintrag irgendwann einmal lesen,und das wird er tun (ich läse so etwas auch, hätte es mir mein Vater hinterlassen), dann wird er verstehen. Und vielleicht fühlen, daß er in eine Generationreihe gehört und eine gewordene Identität hat, die in der Vergangenheit von Vorfahren wurzelt. Und wird das wie eine Erbschaft fortsetzen. Ich nehme mit diesem Gedanken etwas auf, das meine Familie in meiner Groß- und auch wohl bereits in der Urgroßvatergeneration durch ihre schlimme Dienstbarkeit für Hitler zerschnitten hat; sehr neuerdings denke ich (früher habe ich so etwas rigide abgelehnt; es mag also mit meinem Alter zu tun haben): Ich schneide die NS-Ribbentrops, die zugleich in der Erinnerung behalten werden, aus der Traditionslinie heraus und knüpfe das alte Band meines Familienstranges, zu dem die nicht-aristokratischen Joachims usw. ja eben nicht gehören, wieder zusammen. Damit es nämlich, wie es immer noch den politischen Anschein und lange Jahre mein persönliches Grunderleben bestimmt hat, nicht so aussieht, als hätte die Familie mit diesen NS-Ribbentrops begonnen, s i e waren vielmehr die Perversionen dieser Familie, nicht alle anderen vor und nach ihnen; sondern sie waren die bösen Ausnahmen.
Den weiteren, hiernach und hieraus folgenden Gedankengang habe ich >>>> dort eingestellt. Er kam mir vor ARGO dazwischen und ist, denke ich, wichtig und allgemein genug, um ihn auf die Hauptseite Der Dschungel zu stellen.
Danach dann ARGO.

… aber vielleicht ist dieser mein neuer Konservatismus, fällt mir gerade (9.02 Uhr) ein, eine rein erfundene Traditionslinie, vielleicht setze ich sie soeben, setzte sie in G a n g, und sie ist nichts anderes als der Ausdruck einer Fiktion, die das Bedürfnis hat, mich zu erden.