Mittwoch, der 19. April 2006. Bamberg, erster Tag.

6.08 Uhr:
[Rossini, Bianca e Falliero.]
Um zwanzig vor sechs wachgeworden; der Junge schläft fest. In paar Sachen geschlüpft, vor die Fenstertür getreten, Blick auf die barocke Zeile auf der anderen Regnitzseite. Die aus der Villa Massimo in Rom immer noch vertrauten Schritte auf Kies, nun aber zu einer steinernen Balustrade die sich längs der Glasfront der Künstlerstudios links bis zum Schloß zieht und rechts bis zu einer Mauer, die in einen Wald am Hang führt; zudem ist die gekieste Terrasse nicht breiter als vierfünf Meter und fällt hinter der Brüstung zum Barockgarten ab, hinter dessen Mauer gleich der Fluß strömt. Ich merk schon, ich werde es mir eigen machen,hier morgens zuallererst ein paar Schritte hinauszutun, schon weil ich so früh ganz offenbar allein bin und Stille und Vogellärmen genieße.


Richtig arbeiten werde ich auch heute wohl noch nicht, schon weil der Junge da ist, aber es sind ohnedies Behördenwege zu erledigen – und dann: ich vergaß, Kaffee oder wenigstens Tee zu kaufen und süffle deshalb gerade an einer Caprisonne meines Sohnes herum. Rauchen – was ich ja eigentlich nicht mehr wollte, aber nicht ganz durchgehalten habe – tu ich nun draußen, während die Sonne aufgeht und zu spüren ist, wie sich in die Nachtkühle das noch sehr leise Rufen der Tageswärme mischt. Jedenfalls ist dies ein ausnehmend schöner Arbeitsplatz, der sich von Sicht und Konzentration durchaus mit Rom vergleichen kann, auch wenn auf vieles zu verzichten ist, das große Städte auszeichnet (etwa die Oper).
Auch Die Dschungel werd ich momentan nur unregelmäßig führen können, da der DSL-Zugang noch nicht steht und ich für den Netzzugang in die Bibliothek wechseln muß. Für diese erste Woche ist das aber tragbar.

Das Studio ist deutlich auf eine einzige Person ausgelegt; es gibt nur dieses eine Zimmer, auch keine getrennte Küche, sondern einen zweiflammigen Elektrokocher, in eine zum Arbeitsraum offene Kochnische aus kleiner Spüle Kühl- und Geschirrschrank integriert. Das Bett steht, über eine metallene Wendeltreppe zugänglich, im oberen Teil des Studios, in das ein zweiter Boden eingelassen ist, der etwa die halbe Grundfläche des Raumes hat; dort oben dann auch der Kleiderschrank. Einen weiteren Tisch gibt es dort direkt vor dem offenen Gelände; das wäre ebenfalls ein wunderbarer Arbeitsplatz, aber er ist mir zu nah am Ruhebereich. Ich werd jetzt gleich mal Kaffee und Brötchen besorgen. Irgend ein Bäcker wird ja geöffnet haben.

7.03 Uhr:
[Britten, Erste Suite für Cello solo.]
Nun war ich Brötchen Kaffee Milch holen. Der Junge schläft noch immer. Halbrechts vor mir steht, mittlerweile schon weiß, die Sonne über den durch die noch unbelaubten Wipfel hindurchschimmernden Dächer. Das ganze Städtchen schläft noch halb, der Bäcker öffnet „so was um zwanzig nach sechs“; es herrscht ein gemäßigteres Temperament als in Berlin, als wollte mir der mentale Unterschied von Provinz und Großstadt illustriert werden, von dem Erich Käster in Erich und die Detektive erzählt, das ich dem Jungen zu seiner hellen Begeisterung seit gestern vorlese; auf der Fahrt haben wir fast schon das halbe Buch durch. Ich merke aber auch selbst, jetzt schon, an mir, wie eine ruhige Hinsicht eintritt: Auf dem Katzenkopfpflaster der engen Judengasse, die langgezogen zum Haupteingang des Wasserschlößchens Villa Concordia hinführt (eigentlich ist es, da nicht von Wasser u m g e b e n, sondern bloß daran grenzend, ein Schlößchen am Wasser) kam mir der Gedanke, wie schwierig es werde, die hochtechnologische ANDERSWELT ausgerechnet hier weiterzuschreiben; andererseits: w e n n mir das hier gelingt, dann stimmt die Imagination r u n d u m, dann hat sie wirklich Kraft. Und es wird mir klar, welch ein Stadtbuch ANDERSWELT tatsächlich ist und wie illusionistisch fiktionär Stadt-als-solche. Momentan sinniere ich also unversehends über das Projekt-selbst, suche nach der rechten Perspektive, einer anderen Perspektive vielleicht. Doch wie ich Ihnen eben schon schrieb, wird sich all das wohl erst ab der nächsten Woche realisieren, wenn der Junge wieder fort ist und ich auf mich alleingestellt sein werde, auf mich und meinen Text. Und auf die – B i l d e r. Ja, ich will Bilder herstellen, Materialbilder, nach wie vor. Hier in dem kleinen, so sehr sauberen Studio wird das jedoch entgegen meinen Vorstellungen nicht umsetzbar sein; doch soll es, erzählte gestern abend Zschorsch, und ich habe danach gleich die Co-Direktorin drauf angesprochen, in der zwei Minuten entfernten Depandence Ebersbacher Hof (oder so ähnlich) große leere Räume geben, die Schmutz und Arbeitsspäne vertragen, wo man hinterher den Boden auch mit einem scharfen Wasserstrahl abspritzen kann. Vielleicht bekomme ich dort noch ein Atelier. Dann sähe mein Tag bald s o aus: Morgens von halb fünf bis zum Mittag ARGO; danach eine Stunde im Wald joggen; und d anach hinüber ins Studio und bis zum Abend kunstbildnerisch tätig sein, w ü t e n. Ich hab ein irres Bedürfnis nach Arbeit mit Materie, nach Steinen Lehm Lacken. Mit etwas Nachdruck wird es mir möglich sein, das nun endlich in Angriff zu nehmen, es sozusagen aufzunehmen und Wirklichkeit werden zu lassen, was ich in meinem verbotenen Buch über den Maler Fichte erzählt habe.

(Witzige Art übrigens, Tagebuch zu schreiben: Ich springe heute morgen zwischen d i e s e m Eintrag und >>>> dem Nachtrag für gestern immer hin und her, schreibe dort einen Satz, formuliere hier einen Satz, formuliere wieder dort einen Satz. Um das richtige Gefühl dafür zu bekommen, müßten eigentlich auch Sie, lesend, immer hin- und herspringen.)

So, ich formatiere mal die bisherigen Fotografien und ordne sie für nachher den jeweiligen Stellen zu. Ich stelle auch sozusagen „Einrichtungsfotos“ ins DschungelTagebuch, da ich’s fein finde, wenn Sie auch eine Vorstellung davon bekommen, unter welchen privlegierten Umständen ich nunmehr über die Woche arbeiten werde.14.25 Uhr:
[Rossini, Semiramide. (Zedda).]
Keine Ahnung, was im Moment los ist: nicht nur ein Arbeitsstipendium, nicht nur die Villa Concordia Bamberg, nicht nur ein Arbeitsseminar zum Literarischen Weblog, jetzt auch noch eine Einladung zum diesjährigen Frankfurtmainer Literaturfest, und da ausgerechnet ein Öffentliches Gespräch über Gegenwartsliteratur und Schönheit. Fast zwei Jahre lang Stagnation – von den aber auch schon nur noch wenigen Hörstücken abgesehen -, und nun hagelt es geradezu Engagements. Ich kann Ihnen sagen!: man braucht schon Nerven so als Künstler.

15.32 Uhr:
A u c h etwas Neues Schönes: Wann immer mich (momentan nur übers Mobilchen) ein Anruf erreicht, steh ich auf und geh hinaus, wandle telefonierend über den Kies und die rechte schmale Steintreppe hinab zur ersten Gartenempore, von dort (je nach Länge des Gesprächs) weiter hinab in den Barockgarten – und wieder zurück. Dann klapp ich das Gerät zu und setze mich wieder an den Schreibtisch.

NACHTRAG.
[Jarrett, Solo Tribute, Tokyo 2002.]
Robert Hunger-Bühler, der bei VERBEEN dabeiwar, ruft an; die CD ist bei ihm angekommen, er hört sie gerade, er kennt ja das Ganze nicht, sondern nur seinen eigenen Part. Und ist verblüfft. Wir werden uns in München treffen, wo er – neben seinem Engagement in Zürich – in zwei oder drei Stücken an den Kammerspielen spielt. Ich soll bescheidgeben, wann ich komme; er hinterlege Freikarten dann. Der Profi ruft an. Und mehrmals Söllner aus Frankfurt. Und Lakshmi. Von ihr nachts dann noch eine ich möchte es stille SMS nennen: „Die Tulpen sind sehr schön.“ (Ich hatte ihr zu Ostern einen ganzen Arm voll mitgebracht).
Der Junge und ich ziehen die paar Schitte zu Alexandra hinüber, um die Labradorwelpen anzuschauen. Adrian ist völlig verzückt, ist auch völlig aus dem Häuschen; die kleinen Hunde und die ziemlich große Hündin machen ihm ganz ebenso Angst, wie sie ihn locken: wieder erlebe ich, was intensives Leben bedeutet:: niemals Eindeutigkeit, sondern Ambivalenz::: ‚der beißt mich!’ zugleich und Zurückschrecken und doch immer wieder die Hand hinstrecken wollen.

Wir werden beide, man kann es nicht anders nennen: umsalbt. Alexandra hat ein ziemlich großes Teleskop aus ihrer Kindheit vom Dachboden heruntergeholt und schenkt es dem Jungen, und ein Mikroskop-Set schenkt sie ihm dann auch noch. Er badet in Zuwendung. Ich meinerseits plaudre über Kontaktlinsen, und Alexandra, unversehends, ruft einen Freund an, der so gegen 23 Uhr dann bei ihr auftaucht (beide müssen nachts noch arbeiten) und mehrere Sätze Kontaktlinsen für mich mitbringt; jetzt bin ich für weit über ein Jahr damit versorgt. Auch das mit der Bettwäsche klappt: Alexandra unterhält zwei Ferienwohnungen und ist deshalb an einen Wäscheservice angeschlossen: „Das fällt gar nicht auf, wenn ich dir die Bettwäsche gebe; die tauschst du jede Woche bei mir aus, die gebrauchte geht mit der für die Ferienwohnungen in die Großwäscherei, ich hab da sowieso einen Pauschalvertrag.“ Das war hier in der Villa noch ein kleines Problem: die Stipendiaten müssen ihre Bettwäsche selbst mitbringen, was mir von Berlin aus viel zu viel Schlepperei ist. Nun hat sich auch das geklärt. Es ist fast halb zwölf, als Adrian und ich in die Villa zurückkehren; sein Teleskop will er selber schleppen.Eine halbe Stunde lang les ich dem Jungen dann noch aus Kästners JungenDetektivBuch vor.