Freitag, der 21. Apri 2006.

5.42 Uhr:
[Frank Gerhardt, Klarinettentrio.]
Um halb fünf auf, kurzer Gang hinaus; die Sonne geht schon auf, steht aber noch hinterm Horizont, so daß der bedeckte Himmel nur dunkelblau ist. Es herrscht ein Lärmen draußen, das tagsüber nur als Stille wahrgenommen wird: jetzt aber ertost ein Vogelkonzert aus dem Wäldchen rechts am Bergchen herunter und von gegenüber der Regnitz, vor allem von dort, wo die niedrige barocke Hauszeile in einen Park übergeht, durch den wiederum Hausdächer schimmern: ich w e i ß das jetzt, im Morgendämmern, mehr, als daß ich es wirklich sähe. Zehn goldgelb leuchtende Laternen säumen in einem gleichen Abstand von schätzungsweise je dreißig Metern den schmalen Lungofiume, der dort das Regnitzufer entlangläuft, vom Wehr heran, das in das schmetternde Gevögel (denn darum geht es dem Frühling ja wohl) noch hineindonnert.
Ich schreite über den Kies, die Steintreppe rechts zur ersten Gartenempore hinab, den Kumb Kaffees in der Hand, die Morgenzigarette rauchend, die ganze Villa schläft noch; auch die Häuschen drüben haben bislang kein Licht, von der Spiegelung jener Laterne einmal abgesehen, die sich, meinem Studio genau gegenüber, in einem Fenster fast verdoppelt, so wenig fällt die Lichtstärke der Reflexion gegen ihren Ursprung ab. Allmählich steigt die Himmelshelligkeit herauf, und die Wolkendecke beginnt, sich zu verschlieren und sehr blasse Töne aus Rosa hindurchzulassen. Das macht die langsame Drehung des Erdballes spürbar, man kann sie geradezu beobachten.
An den Arbeitsplatz; ich habe mir drei CDs ehemaliger Stipendiaten der Villa Concordia ausgeliehen, um, was mir nicht gefällt, zurückzugeben; was mir gefällt, darf ich behalten. Und schon die erste Musik nimmt sehr ein: >>>> Frank Gerhardts Klarinettentrio. >>>> Guntram Vesper, den ich seit Jahren… nun ja, ‚kenne’ wäre zuviel gesagt, aber er ist mir seit 1976 bekannt; ich habe ihn auch poetologisch immer geachtet… – also Vesper, der ebenfalls hier Stipendiat war, hat ein kleines, sehr persönliches, aber leider auch nicht viel sagendes Vorwort fürs Booklet geschrieben, sozusagen ein ‚in Freundschaft gewogenes’ Notat, das auf http://E.Th.A.Hoffmann Bezug nimmt, kaum indes auf die Musik, von der er vielleicht auch gar nichts versteht. Es sind tastende Klänge, eher Erforschungen, Aushorchungen von Klang, als daß tatsächlich musiziert würde – Varianten um einen zentralen Akkord herum, ausgesprochen meditativ und ein wenig in sich versunken.
Jedenfalls arbeite ich schon wieder und wieder in der Frühe; vielleicht bekomm ich ja heute eine erste Bamberger ARGO-Seite zuwege. Denn der Kleine, der auf dem offenen halben Stockwerk über mir noch tief schläft, wird um neun abgeholt zum Spielen für den Vormittag; ich notierte Ihnen das gestern bereits. (Mit wem unterhalte ich mich eigentlich, wenn ich dieses Tagebuch Sie ansprechen lasse? wer alles s i n d Sie? Ein paar von Ihnen kenne ich freilich aus Emails, ein paar auch persönlich, ein paar wenige auch aus Dschungel-Kommentaren – immerhin ist es mehr Leserkontakt insgesamt, als ich je vermittels meiner Bücher hatte – ‚naturgemäß’, möcht man fast sagen, ‚netzgemäß’ ist ein eher treffendes Wort).
Auf der vom Schlößchen bis zur das Gelände begrenzenden Mauer langenden steinernen Brüstung, auf deren gleichsam Rippen, aus steinernen Amphorengebilden bestehend, deren Durchlässe die Amphorenform sozusagen negativ wiederholen und auf denen ein schwerer Steinsims durchgehend aufliegt, stehen sieben menschhohe Statuen und schauen über den Fluß. Sie schließen die lange, doch nur ungefähr vier Meter breite Kiesterrasse, die zwischen Brüstung und den Studios verläuft, gegen den fünfsechs Meter tiefer gelegenen kleinen Barockgarten ab. Ich weiß nicht, wen die Figuren vorstellen, ich werde nachher fragen. Leider kann man nicht sagen, daß sie den Studios zugeordnet seien, da diese doch sechs an der Zahl, jene aber sieben sind. Dennoch sind sie wie Wächter, man weiß nicht, ob zur Bewachung, ob zum Schutz. Und während ich dies tippe und versuche, in Worte zu fassen, was ich Ihnen zuvor – rein bequemlichkeitshalber, dachte ich bei meinem kurzen Gang hinaus, und schon deshalb nicht ganz statthaft – durch Fotografien dokumentierte, ist es ganz hell geworden und das Rosa nun wirklich ein Rosa. Fröstelig ist es draußen noch, es liegt wie flüssiges Eis ein Taufilm über den Dingen.
Ich trinke Kaffee aus gefriergetrocknetem Granulat, nicht, weil mir das Geld fehlte, sondern weil es hier keine Kaffeekanne, keinen Kaffeefilter gibt, eine PAVONI, klar, schon gar nicht. Und weil mir das außerdem momentan schmeckt.



Was heute zu tun ist? Neben ARGO, woran ich gleich will, wenn ich diesen Beitrag vermittels der Bibliothekscomputer eingestellt haben werde, will ich das ‚Oberfranken-liest’-Ding entwerfen: ein 48seitiges Auswahlbändchen für Schullesungen, das von der Villa Concordia herausgegeben und von einer Schule mitgestaltet wird. Anders als, wie ich beim Durchschauen der bisherigen Ausgaben sah, die vorigen Schriftsteller hätte ich darin gerne nicht nur Textauszüge, sondern auch Bibliografie und eine ‚Ordnung’ nach Arbeitsgebieten: Prosa, Hörstücke, Internet, Poetologie; es böte sich an, eine CD hinzuzutun, auf der einzwei Hörstücke als mp3’s befindlich. Über all das will ich heute ein Exposé entwerfen; nächsten Dienstag werde ich hier den Direktor des Coburger Gymasiums treffen, das Interesse angemeldet hat. Es ist kaum zu fassen: dann werde ich bereits wieder in Berlin gewesen sein, Lakshmi gesehen haben, die ich jetzt jeden Abend spreche, und Katanga, U. und den Profi.



Und ich staunte gestern wieder einmal über die warme und volle Sprachmacht Jean Pauls. Sein Wunsiedel ist gar nicht so weit von hier, auch nicht sein Hof; habe den Entschluß gefaßt, mit meiner Bahncard 100 in den nächsten zweidrei Wochen einmal wieder dort hinzufahren. Und etwas anderes dachte ich bei meinem kurzen morgendlichen Gartengang: Ist die ganz offensichtliche konservative Verschiebung meiner Ansichten, wie sie sich etwa >>>> hier bekundet, ein Ergebnis von Reifung oder bloß von Alterung Erstarrung?