Arbeitsjournal. Dienstag, der 25. Juli 2006.

6 Uhr:
[Berlin, Kinderwohnung.]
Vor dem Aufbruch nach Bamberg eben >>>> eine neue Kommentatorin gelesen, deren einer Beitrag sofort Anlaß einer poetologischen Überlegung wurde. Das geht alles rasend simultan in mir ab: einen Gedichtentwurf nachlesen, ihn abschmecken, an die kräfig-sinnlchen Lippen einer Neapolitanern denken, die man gestern nacht kennenlernte, ihre Art, mit den Händen zu sprechen und auf höchst kommunikative Weise depressiv zu wirken, aber kämpferisch dabei, an die Liebe denken, die man wollte und ungebrochen weiterwill und für die man sich entschieden hat, Verantwortung zu übernehmen, ins Arbeitsjournal von gestern einen Eindruck nachtragen, sowie diese poetologische Überlegung skizzieren und – sie schon formuliert haben. Zugleich der Blick auf die Uhr, damit man nicht zu spät aufbricht, zu spät alles zusammenpackt und dann die S-Bahn und damit den ICE nach Bamberg verpaßt. Wolln wir nicht, drum wird jetzt der Laptop heruntergefahren.

6.54 Uhr:
[ICE Berlin-Bamberg.]
Daß man vom Sand der Strandbar Mitte noch immer schmutzige Füße hat (schließlich kam man erst um 2.30 Uhr nachts heim und hatte also gerade 3 Stunden Zeit, um zu schlafen). Worüber die Gespräche gingen gestern, erst mit K., dann mit dem Profi: Der Krieg in Nahost, der nicht erklärt, aber geführt werden wird und bereits geführt w i r d; die Kinder im Libanon, die bereits in Massengräber gekippt worden sind: nicht, daß Kinder als Kriegsopfer schlimmer wären als die gemetzelten Erwachsenen, es ist nur indirekt eine Frage des Alters, sondern ein Kind kann nicht entscheiden ‚ich gehe jetzt weg, ich fliehe’, ein Kind kann auch nicht selbst zur Waffe greifen, um sich zu wehren, es ist hilflos und angewiesen auf das Verständnis und das Bewußtsein der Alten: d a s macht die Kinderopfer so furchtbar. Und wie offenbar keine Seite Frieden w i l l: Welch ein Friedensangebot es gewesen wäre an die arabische Welt, hätte Irael Arafat bei der Al-Aqsha-Moschee begraben lassen, in anerkannter heiliger Erde („Laßt uns verzeihen wechselseitig vergessen und heilen: setzen wir ein Miteinander!“), oder sagte heute einer: Israel zieht sich in die Grenzen von 48 zurück, und wir alle zusammen, die Staatengemeinschaft, zahlen an Palästina Reparationen für enteignetes Land, wir, die Staatengemeinschaft, tragen das alle zusammen; dafür anerkennt die arabische Welt den mosaischen Staat – unter Ausnahme Jerusalems, das a l l e n monotheistischen Brüderreligionen gehört. Doch wie utopisch das klingt, doch nur das führte weiter (und wäre als Lösung immer noch genug ungewiß); das hegemoniale Interesse des Westens an einem militärischen Brückenkopf gegen das wirtschaftlich erwachende Asien steht völlig dagegen, möge es die Massen Tote auch kosten, ’s sind ja nicht unsre (und sind es d o c h!). Die weggerissenen Extremitäten, die Bäuche Zehnjähriger, aus denen die Därme quellen (NULLGRUND: „ach wie stinkt es heraus!“), die zerfetzten Brüste von Müttern, das ist den Wirtschaftsmächten und den religiösen Ideologien vollkommen wurscht. Wir, hier in Europa, tragen daran Teil: Es genügte doch, dem US-Militär die Überflugrechte zu verweigern, und zwar in geschlossener Front von Spanien bis an Rußland heran; es genügte, das Kapital aus den US-Bonds herauszuziehen, was riskierten wir denn? hunderttausend Arbeitslose mehr, weil vorgeblich die Autoindustrie darbt? Und das wäre es nicht wert auch nur für hundert unbeschädigte Leben? – Zugleich schreiben wir Gedichte und haben ein Kind, haben drei Kinder, vier Kinder, fünf. Und sind um deren Existenz kaum mit Gründen besorgt. Ja, wir schreiben Gedichte Erzählungen machen weiter mit der Kunst, weil sie eine der wenigen Möglichkeiten ist, sich seiner Geschichte zu bemächtigen, indem wir ihr wenigstens Ausdruck verleihen und in dem Ausdruck Hoffnung weiterleben lassen oder überhaupt erst umreißen. Weil sich in der Kunst die Glauben und Mentalitäten fruchtbar vereinen, wir nehmen Gottes Klang vom Koran, Gottes mächtige Bilder aus der Thora, das Mitleid aus dem Neuen Testament, nehmen die mythische Kraft gleichermaßen aus Baghavadgita wie von Homer, die schäumende Lebenslust aus Neapel, den Barock von Südamerika und beseelen allesdas mit der Lebendigkeit ‚heidnischer’ Geister, an die wir glauben, w e i l es sie nicht gibt (wir glauben an Liebe); wir glauben an den K a m p f, nicht an den Krieg.

Und wie das Kopfinnre rauscht! Wie die Gedanken rasen, unablässig, kein Schritt ist möglich kein Blick, ohne daß sich Möglichkeiten von Geschichten Gerüchen entfalten – welch ein Reichtum, bei allem Grauen, dieses Leben bereithält… (und Küsse und die Lust, zu zeugen: zu bezeugen:: daß man d a ist in Geist und Sekret und das Dasein weitergeben will::: durch Kunst, durch den zuckenden Unterleib, gleichviel, am besten durch beides – jedenfalls fruchtbar).

11.32 Uhr:
[Villa Concordia Bamberg.]
Weiter an den Gedichten gearbeitet, am gestern nacht entworfenen Strandbar-Mitte-Gedicht und an dem der Ersten Elegie. Nebenbei Rilkes Maeterlinck-Übersetzungen gelesen sowie seine Nachdichtung eines sehr sehr schönen Textes von Maurice de Guérin: „Der Kentauer“. Darin findet sich die traumhafte Zeile…oder es kam eine Nymphe vorbei, trunken vor Nacht.Für das Strandbar-Mitte-Gedicht der Versuch, die Folge Pentameter-Hexameter-Hexameter-Pentameter zugleich mit dem Reim zu binden und das Ganze in die Sonett-Form zu bekommen. Dabei ist mir völlig bewußt, daß trotz meiner streng formalen Unternehmungen die Gedichte einstweilen so gut wie alle Versuche sind; es ist ja ein für mich nahezu neues poetisches Feld, wohinein ich mich erstmals mit den Prosa-Rhythmisierungen in THETIS begeben habe. Daß ich jetzt auf Gedichte-direkt aus bin, hat gewiß etwas mit dem Lebensumbruch zu tun, den ich insgesamt fühle. Mit ARGO ist etwas abgeschlossen (wenn der Roman denn dann fertig vorliegen wird in schätzungsweise zwei Jahren; es ist aber nur noch formale Arbeit und keine der Invention daran mehr zu tun), nun beginnt etwas Neues, sowohl poetisch als auch lebensgeschichtlich.
Meine Konzentration auf die Form-des-Gedichts will mich auf das Niveau meiner Romanpoetik bringen, im Vergleich dazu bin ich lyrisch noch sehr primitiv. Und eben der Überzeugung, daß man Form derart internalisiert haben muß, daß es im Gedicht nicht mehr um sie zu gehen braucht; sondern die Konzentration dann wird eine rein auf den Inhalt sein; alles andere steht im Handgelenk zur Verfügung. So jedenfalls meine Hoffnung.
(Parallel lief und läuft noch immer das Virensuchprogramm; sechs Biester hat es bereits aufgestöbert und gelöscht.)

16.55 Uhr:
Eben selbst gemerkt, daß ich nicht aufgepaßt habe: /?p=10913” target=”_blank””>>>>> das Gedicht spielt rhythmisch n u r mit Pentameter-Formen, n i c h t mit dem Hexameter. Aber das mag ich jetzt nicht mehr ändern, zu sehr gegossen ist es bereits (bedarf aber hier und da einer Feilung; so ändere ich vor mich hin und gehe parallel wieder an die Erste Elegie).

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