Arbeitsjournal. Donnerstag, der 28. September 2006.

4.51 Uhr:
[Berlin Kinderwohnung.]
Es hat durchaus etwas von Rückkehr, wenn ich nachher in die Arbeitswohnung radeln und den dort zugeklebten Fiktionäres-Briefkasten wieder öffnen muß, weil es aus formalen – man muß sagen: paragrafenkackrigen – Gründen einem deutschen Großunternehmen nicht möglich ist (sei), Unterlagen, die v o r dem 8. 10. bei mir sein müssen, an eine c/o-Adresse zu schicken. Die Abwälzung des Kundenservices auf quer durch Deutschland verstreute Call-Centers (allein schon dieser Begriff!) bringt es mit sich, daß absolut nach Norm vorgegangen werden muß, ständig, und daß keiner mehr da ist, eine Entscheidung zu fällen oder auch nur fällen zu können, die auf Nachdenken beruht. Auch hier greift Harraways These, daß wir alle längst Cyborgs seien, weil wir wesentliche Funktionen unseres Ichs auf Automaten ausgelagert hätten, die nun mit Maschinen kooperieren und Maschinen‚entscheidungen’ als eigene blind übernehmen. Eigentlich, fällt mir gerade ein, läßt sich das auch als Militarisierung von Gesellschaft beschreiben, insofern als die Einzelnen einspruchslose Befehlsempfänger innerhalb einer allerdings mehrwertig-hierarchischen Kette werden; ‚mehrwertig’, weil in den jeweiligen Funktionsebenen je unübersichtliche viele Subjekte stecken und diese Kette keine Pyramide ist, also nicht spitz zuläuft, sondern eher ein Kegel, dessen Ebenen wechselseitig agieren. Deshalb gibt es letztlich – dies nun anders als beim Militär – auch keine Verantwortlichkeiten: dadurch, daß die Befehlskette weitteilig automatisiert ist, kann man auf keinen mehr mit dem Finger zeigen; auch die ‚Generale’ sind Befehlsempfänger. Es handelt sich, wenn überhaupt, um ‚kybernetische’ Generale. Da muß man von den Pipijungs- und mädchen, die in den call senters hinter (eigentlich: i n) ihren headsets hocken, gar nicht erst mehr sprechen.
Moin, Leser. Bin prima pünktlich auf, um halb fünf fiepte das Funkweckerchen, um Viertel vor fünf deckte ich meinen erkältungshalber dick verpackten Jungen, der sich tiefschlafend vom Bettzeug freigestrampelt hatte, zärtlich wieder zu und stieg dann nackisch, wie die Hessen sagen, die Hochbettleiter hinab. Nun ist der Kaffee schon gekocht, und ich hab L u s t auf den PETTERSSON. Nachdem ich gestern sowas wie das Libera me tatsächlich fertigbrachte, auch wenn ich mir über Qualität oder Unfug des Textes noch recht uneins bin. Wobei hinzugedacht werden muß, unbedingt, daß er in einer Collage aus Musik und O-Tönen laut werden soll und also anderen Gesetzen unterliegt als denen, die nun gelten, da er gleichsam noch >>>>> nackt dasteht. Andererseits hab ich s c h o n den Ehrgeiz, daß jedes Partikelchen auch für sich selbst sprechen, d. h. ‚funktionieren’ können soll. Jedenfalls fehlt mir für den PETTERSSON-Rohling jetzt nur noch das Offertorium. Steht d a s, dann werd ich gleich an die Überarbeitung gehen. Außerdem will ich heute in der Arbeitswohnung ein paar Musiken und aus meinem O-Ton-Archiv einige Stücke auf den Laptop einspielen und für schnelleren Zugriff auf mp3’s umformatieren, bzw. zu mp4’s, weil da der Frequenzgang nicht so arg zusammengepreßt ist. Bei der Produktion selbst, ab dem 16. 10., nutze ich dann in Frankfurt die Dateien als wave’s. Da vieles außerhalb des hr-Studios entstehen soll, könnte ich imgrunde auch schon manche Collage direkt am Laptop vorformen, etwa wie sich aus einem Motiv bei Mahler X. die entsprechende Pettersson-Stelle herausschält. Usw. Auch der Klang des indischen Meeres bei Palolem und wie von fernher Pettersson herüberweht, läßt sich imgrunde schon vorkomponieren.
Ansonsten werd ich im Laufe des Tages noch mal auf >>>> Menninghaus eingehen, weil es da interessante Überlegungen zur weiblichen Polyandrie gibt, die sich mit meinen eigenen Erfahrungen decken und also mit vielem, was hier in Der Dschungel bereits dazu ausgeführt wurde.Sollte die Kette dieser Beobachtungen, Annahmen und Spekulationen zutreffen, dann ergibt sich für den weiblichen Schönheitseffekt eine weitere täuschungstheoretische Formulierung: er überblendet und vertauscht die darwinschen Funktionen von Wählen und Gewähltwerden. Er begünstigt Praktiken des Wählens bei Anschein des Gewähltwerdens, und er läßt auf der männlichen Seite nonverbales Gewähltwerden als eigenen Wahlakt erscheinen. Damit entspricht die ästhetisch-sexuelle Selektion dem klassischen Illusions-Modell der theoretischen Ästhetik: der systematischen Vertuschung des Unterschieds von „Wirklichkeit“ und „Vorstellung“, der Täuschung als eines trügerischen Tauschverkehrs von „Natur“ und „Kunst“. (S. 185)In diesem Schluß liegt Explosives, etwa, wenn man sich vor Augen hält, daß in den Profilen sämtlicher Frauen aus Kontaktforen als allererst Gefordertes nahezu immer „Treue“ steht. Wohlgemerkt, ich glaube, sie glauben das selbst; hierunter wirkt ein unbewußter Instinkt. Die „Wahrheit“ ist aber eben eine andere. Wahrscheinlich. Wie schön deshalb, daß Menninghaus, wenn er die Interpretation von Forschungsergebnissen meint, durchweg von „Erzählung“ spricht. Und wenn es stimmt, daß Menschen ihre Handlungen nicht gerne auf ihnen selbst unbewußte Wirkmechanismen zurückführen lassen, zumal wenn die Rückführung stimmt, weil das ja die jedem Glauben an Autonomie notwendige Verdrängung einreißt, dann wird mir s c h o n klar, wieso derart viele meiner poetischen Arbeiten auf solche Abwehr stießen und stoßen. Das gilt ganz besonders für mein verbotenes Buch, weil es nicht-kybernetisch, sondern weitteilig-direkt auf die sexuellen Mechanismen fokussiert ist, denen man unterliegt. Und zwar eben w e i l das aus dem Persönlichen hinweg- und ins allgemein-Menschliche hineinerzählt. Und Verfallenheiten a l s Verfallenheiten schildert. Aber das ist ein anderes Thema. Seien Sie dessen gewiß, daß Die Dschungel darauf zurückkommen werden.

22.15 Uhr:
Dies war nun k e i n Arbeitstag, sondern Privates zu erledigen, vor allem wegen des (leicht) erkrankten Jungen, der nicht zu Schule konnte; Krankenkassenzeug war zu richten, da der Bub seine chipcard verloren hat und die Kinderärztin vor dem Quartalsende ja an ihr Geld kommen soll, wenn sie das Kind schon ohne diesen Ausweis behandelt. Außerdem mußte Wäsche gewaschen werden (Waschsalon, klar), die teils bereits seit meinem Bamberger Stipendienantritt in Taschen gestopft haarte; es gab einfach für niemanden mehr Slips und Socken hier. Und und und. Danach kochte ich verschiedene Gemüse mit Galgant, Zitronengras und Ingwer in Kokosmilch, wie sich das gehört: jedes Gemüse zuvor für sich gegart, damit es bißfest bleibt und der Eigengeschmack nicht in einer allgemeinen Melange verlorengeht. Sowas braucht Zeit. Und dann nahm am Abend zum ersten Mal überhaupt die gesamte Familie der in der Väter-WG dieser sog. Kinderwohnung Lebenden gemeinsam eine Mahlzeit. Sagen Sie nicht, daß das nichts sei, auch wenn der Druck wegen PETTERSSON dadurch nicht eben geringer wurde. Doch bin ich erstaunlich ruhig für meine sonstige Nervosität in Sachen zu erbringender Leistung. Heut war ich ‚Hausmann’. Und war’s gerne. Jetzt tu ich aber auch nichts mehr, als vielleicht noch etwas zu lesen, vielleicht ein wenig im Netz zu flanieren und dann sehr bald aufs Hochbett zu klettern. Ah ja, ein bißchen Korrespondenz war noch zu erledigen, leidige, unleidige. Das bekam ich noch hin. Schlafen Sie wohl.

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