Paul Reichenbachs Samstag, der 7.Oktober 2006. Futur II im Müllsack.

3 Tage Buchmesse in Frankfurt. Zwei davon waren ausgefüllt mit Besuchen bei den Paragraphenreitern. Öde, wie jedes Jahr. Um mich dafür zu entschädigen huschte ich ab und zu in die Halle 4.1 , wo die wirklichen Bücher anzufassen und zu sehen waren. ANH, der völlig beschäftigt schien und wie gehetzt mit Lederjacke und Rucksack im Arm, sein blanker Schädel leuchtete immer mal wieder aus der Ferne, durch die Hallen streifte, nahm mich gar nicht wahr. Für dieses Jahr hatte ich mir vorgenommen mich mit neuer Lyrik zu beschäftigen. Gedichte sind nicht das Bier, das ich, wenn ich mich schon mal an Worten besaufen will, unbedingt brauche. Eine kühle historische Analyse oder eine peppige Zeitkritik sind mir gemäßer. In der Lyrik kreisen für meinen Geschmack die Worte zu gefühlig. Und doch blieb ich, bei aller gebotenen Skepsis, an zwei Verlagen hängen. Immer wieder zog es mich zu ihnen hin. Der eine hieß >>>kookbooks und ein Buch fiel mir dort besonders auf: Ah, das Love-Ding! · Ein Essay von einer Monika Rinck. Ein mäandernder Fluss von Worten in dem Boote treiben, gefüllt, gefühlt mit Assoziationen, die mich an meinen Lieblingsautor, der mir oft in den Schlaf hilft, Montaigne, erinnerten. Rinck’s Texte kommen allerdings ohne Montaignes ermüdende, antike Zitatenlust aus. Das Love Ding macht munter. Ich werde es mir kaufen. Um die Ecke, nicht weit von kookbooks, stellte ein kleiner Verlag, er trägt den angenehmen Namen >>>Gutleut, seine Produktion aus. Und hier waren es zwei, eine Frau und ein Mann, deren lyrische Raffinesse mich enthusiasmierte. Ich habe ja von Lyrik nicht wirklich Ahnung, aber die beiden machten mich unruhig. Ja, hab ich vor mich hingemurmelt, als die Verse eines >>>Sascha Anderson mich mitten ins eigene Hirn trafen. Der Dichter, kein Russe oder Schwede wie der Name vermuten lassen könnte, hatte mich mit seinen Zeilen
„WAS HABE ICH NICHT ALLES GERAUCHT,
UM DIE ZEIT…
totzuschlagen, die längst zugeknotet war wie der Müllsack
für den Müllcontainer…,“

volle Breitseite erwischt.
Apropos Müll, da fällt mir ein, dass sie mir auftrug, den Müllsack auf die ,Strasse zu stellen. So ist das Leben, da beschäftige ich mich mit Gedichten, will grade abheben und schon holt einen der Alltag, das Gepress wieder ein. Alle schönen Gedanken sind plötzlich weggeflogen. Über die Dichterin >>> Orsolya Kalász wäre unbedingt noch zu schreiben. Aber ich lass es jetzt und trag meinen Müll auf die Strasse. Bin ich doch sprachlos und auch ein wenig neidisch angesichts solcher Zeilen:

FUTUR II

auf den gelenkigen Rücken
junger Hunde
jagen
vor unseren Augen
jene Momente
des Glücks
über die Parkwiese
die wir einst gehabt haben werden.

Futur II, das fehlt mir. C’est la vie.

4 thoughts on “Paul Reichenbachs Samstag, der 7.Oktober 2006. Futur II im Müllsack.

  1. Lieber Paul Reichenbach, ich habe Sie gesehen, als ich mit ANH durch die Hallen schlenderte. Sie hätten ihn/uns doch ansprechen können. Stattdessen huschten Sie, als ich mit ihrem Web-Hausherrn beim Kaffee saß, an uns vorbei. Ich hatte den Eindruck sie wollten nicht angesprochen werden. Es wäre schön gewesen, wenn wir zu dritt bei Andersons Verlagsvorstellung gewesen wären. Sie hätten dort übrigens ihren neuentdeckten lyrischen Schwarm – Orsolya Kalász – lesen hören können, der am Abend im Gutleutviertel nochmal las. Faszinierend. Auch Anderson hätten sie dort erlebt. Der ganze Abend, an dem auch Steffen Popp u.a. ihre Arbeiten vorstellten, hinterließ einen nachhaltigen Eindruck bei mir. Sie haben gefehlt, weil Sie es nicht übers Herz brachten den ersten Schritt zu tun. Ihr Beitrag hat so einen schmollenden Grundton, der eher auf ihr untergründiges Ich verweist. Wären Sie auf ANH zugetreten, er hätte Sie freundlich begrüßt und sich sicher auch Zeit für Sie genommen.

  2. “die wir einst gehabt haben werden”. Auf die wir auch dann nicht verzichten dürfen. Solange wir organisch gsund sind. Erst danach besteht Grund, in den Verzicht zu stimmen, was ein anderes Wort ist für Sublimation. Vorher müssen wir – auf diese oder auf jene Weise – kämpfen. Und dürfen nicht verzichten. Nicht v o r der Zeit. Und d i e Zeit lautet: Tod.

    1. Sublimation australisch. I
      Der entlaufene Dingo
      streift irr vor Hunger hausverloren durch mannshohe Gräser.

      Das vergessene Floß
      längst zerschollen an den Klippen der Erinnerungen.

      Ward Wellenspiel mit leerem Ring; die Zeit schlägt alles tot.

      II
      Der entlaufene Dingo
      streift irr vor Hunger hausverloren durch mannshohe Gräser.

      Das vergessene Floß
      längst zerschollen an den Klippen der Erinnerungen.

      Ein Wellenspiel mit leerem Ring, zum Tod verschäumt, scheint Zeit.

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