Arbeitsjournal. Sonnabend, der 14. Oktober 2006.

8.29 Uhr:
[Villa Concordia Bamberg.]
Mir fällt gerade auf, daß das, was >>>> Gerald Zschorsch an den >>>> Bamberer Elegien für problematisch hält und weswegen er von ihnen sagt, sie funktionierten nicht, genau dasjenige ist, was sie characterisiert. E r meint, sie müßten ihre Themen ordnen, man verstricke sich als Leser sonst, verirre sich, finde sich nicht mehr zurecht und verliere deshalb den Anschluß (was gleichbedeutend mit mangelndem ästhetischen Gewinn, bzw. fehlender ästhetischer Lust ist). I c h aber merke, daß ich auch hier etwas forme, was bereits in vielen meiner Romane so angelegt ist: ein Erzählen in Spiralen, die immer wieder ein Thema berühren, schildern, es wieder verlassen, zum nächsten Thema übergehen, auch das wieder verlassen, zu einem abermals neuen Thema gelangen usw., um wieder beim ersten Thema anzukommen und ihm nunmehr von neuer, höhergedrehter Perspektive zu folgen, auch sie wieder zu verlassen, das zweite Thema in ebenfalls höhergedrehter Perspektive zu erreichen, momentlang dort zu verweilen, beim dritten Thema n o c h höhergedreht anzukommen usw. Dabei f l i e ß t das Ding immer weiter, man muß gar nicht von ‚höher’ sprechen, man kann das auch als eine Ebene betrachten, über die ein lyrischer Zeitstrahl gelegt ist. Anders also, als Zschorsch würde, der deutlich Ordnung favorisiert, sollte ich genau diese Bewegung in den Elegien poetisch kultivieren; eine andere Ordnung ist’s, eine prozessuale, die den Assoziationen Raum läßt. Dafür, daß das nicht beliebig wird, dient der Hexameter.
LH wiederum riet mir auf der Buchmesse mit Hinweis auf Pound, in den Elegien für die je angesprochenen Personen je eigene, identifizierbare Versmuster zu entwickeln, „du könnntest das über bestimmte Vokale herstellen, die bestimmten Themen oder den je Angesprochenen zugeordnet werden“; >>>> Sibylle Lewitscharoff und >>>> Thomas Glavinic argumentierten bei >>>> Sprachsalz in Hall/Tirol in eine ganz ähnliche Richtung. Ich weiß aber nicht, ob ich selbst d a s will, denn es unterliefe den chorischen Character der Elegien. Dennoch, gefragt wird stets nach Wegweisern, nach Geländern, nach, sagen wir, Straßennamen, also distinkter Bezeichnung. Ich hingegen möchte sie vermeiden, bin mir aber bewußt, daß ich dann etwas finden muß, eine ganz spezielle Form sprachlicher und bildnerischer Schönheit, die den Leser im Gedicht hält, was es ihn aushalten läßt, daß ihm die Übersicht (also die Autonomie!) entzogen wird. In den Romanen sind es die Geschichten, ist es der Aufbau von spannenden Systemen, was so etwas bewirkt. Für die Elegien hab ich dafür vielleicht noch kein Äquivalent. Man könnte, f a l l s es sich herstellt, es eine Verführung nennen, der ungemeinen Lockung vergleichbar, die von Vulkanen ausgeht, die uns doch verderben könnten; dennoch wollen wir hinauf und am Krater stehen, wollen hineinsehen, wollen die Glut sehen und sehen, wie sich Lava wälzt. E i n i g e wollen das, durchaus nicht alle, die wenigsten vielleicht, aber auf diese wenigsten kommt es mir an: auf jene, die die Leidenschaft teilen, mit wirkenden Kräften konfrontiert zu sein; die etwas semele’sches haben: Jupiter ins Gesicht sehen wollen, auch wenn der Mensch das nicht aushält. Immerhin wird er Weinstock dann.
Dieses „sehen Wollen“ betrifft auch Verdrängtes, persönlich, also individuell in einem Wirkendes, ja, einen Bewirkendes, alles das, was mich mit zunehmendem Alter merken läßt, wie wenig wir tatsächlich uns selbst bestimmen, wie so sehr vieles von früher her kommt und sich nur getarnt hat, und wir tun alles mit, diese Tarnung aufrechtzuhalten, ja werfen noch Decken darüber, damit wir bloß n i c h t sehen müssen. Kultur ist Camouflage; ich verwende bewußt den militärischen Begriff. D a ß sie es ist, spricht aber nur dann gegen sie, wenn wir uns des Sachverhaltes nicht bewußt sind; denn dann wirkt sie als ein Verdrängtes, das sich einerseits chronifiziert und deshalb blindläuft und andererseits zugleich als das Verdrängte an ungeahnter Stelle wi(e)derkehrt.

[Poetologie.]



Guten Morgen, Leser, ich hab heute ausgeschlafen und bin aufgestanden, indem ich nicht dem Wecker (der Arbeitsdisziplin), sondern der inneren Uhr folgte, die eine körperliche ist. Weiße Sonne steht tiefschräg und mit weitem Wolkenhof diesigrechts über der Kiesterrasse. Dies ist der 9001. Beitrag in Der Dschungel. (Übrigens mußte ich gestern abend aus irgend einem Grund an >>>> Nachtblende denken, ein Film, der seit über fünfundzanzig Jahren immer mal wieder in mir aufsteigt.)

11 Uhr:
Vielleicht eine der letzten Frühstücke, die in diesem Jahr draußen eingenommen werden können.Und was gibt es Wundervolleres als einen Jungen, der unablässig frische Himbeeren in sich hineinstopft? Überhaupt will mir, Vater zu sein, zunehmend als die erdnahste Bedingung dafür erscheinen, daß einer dichtet. Denn alles ist dadurch auf Zukunft gestellt; es ist nicht so leicht, sich depressiv zurückzuziehen, ja, das geht g a r nicht mehr, und jede Klage gegenüber der Welt muß zugleich, wenn einer so liebt, Aussicht auf Weiterleben bedeuten und dieses Weiterleben w o l l e n. Es ist einfach kein Raum mehr dafür, diese Welt abzulehnen oder gar sich ihr zu entziehen. Genau das geht in jede Zeile ein, die man schreibt. Literatur ist auf keinen Fall mehr Flucht. Es wäre denn ein Verrat an dem Kind.

2 thoughts on “Arbeitsjournal. Sonnabend, der 14. Oktober 2006.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .